Ich kehre zurück nach Afrika (eBook)
576 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-13734-2 (ISBN)
Stefanie Gercke wurde auf einer Insel des Bissagos-Archipels vor GuineaBissau/Westafrika als erste Weiße geboren und wanderte mit 20 Jahren nach Südafrika aus. Politische Gründe zwangen sie Ende der Siebzigerjahre zur Ausreise, erst unter der neuen Regierung Nelson Mandelas konnte sie zurückkehren. Sie liebte ihre regelmäßigen kleinen Fluchten in die südafrikanische Provinz Natal und lebte zuletzt mit ihrer großen Familie bei Hamburg. Stefanie Gercke starb am 17. Oktober 2021.
Erstes Kapitel
ES WAR 1959, wenige Tage nach dem Weihnachtsfest. — Über dem Limpopo-Fluß wachte Henrietta auf. Sie streckte sich, so gut es in dem engen Sitz möglich war, und das gestaute Blut stach in ihren Beinen. Ein höchst unangenehmes Gefühl. Sie fror unter ihrem dünnen Mantel. Die ausgetrocknete Luft, abgestanden, stickig und beißend von den vielen Zigaretten ihrer Mitreisenden, kratzte ihr im Hals. Sie hustete, und der Mann neben ihr bewegte sich im Schlaf. Sie streifte seine Hand, die ihm herübergerutscht war, von ihrem Knie. Er hatte ihr den Fensterplatz überlassen. Dafür war sie ihm dankbar, hatte aber seine hartnäckigen Versuche, sie in eine Unterhaltung zu verwickeln, und seinen Vorschlag, Adressen auszutauschen, im Ansatz abgewürgt. Für ihr neues Leben in Südafrika wollte sie frei sein wie ein Vogel und ohne eine Verbindung zur Vergangenheit. Leise schob sie das Rollo hoch und drückte ihr Gesicht gegen die kühle Scheibe. Sie flogen sehr tief, denn die Maschine war vollkommen überladen. Es war nicht einmal Platz für die Bordverpflegung, für jede Mahlzeit mußten sie landen. Draußen herrschte noch Dunkelheit. Nicht die bläulichschwarze der nördlichen Länder, sondern die samtene, glühende Dunkelheit der Tropen, fast greifbar weich.
Fast sechzig Stunden war sie jetzt unterwegs auf einer Reise, die in Hamburg ihren Anfang genommen hatte. Hamburg, Basel, Kairo, Khartoum, Entebbe, Nairobi, Salisbury, Bulawayo — Stationen einer Reise, deren Eindrücke mit der zunehmenden Erschöpfung auf dem langen Weg ineinanderflossen. Auf schneidende Kälte folgte brütende Wüstenhitze, auf tintige schwarze Nacht blendendes Sonnenlicht. Bilder und Sprachfetzen füllten ihren Kopf, fremdartige Gerüche stiegen ihr in die Nase. Die Ausdünstungen der vielen Menschen im Flugzeug, die zu lange zusammengepfercht auf zu engem Raum mit zu wenigen, völlig überlasteten und verdreckten Waschräumen zu kämpfen hatten, legten sich klebrig auf ihre Geschmacksnerven. All das und das ständige Dröhnen und Vibrieren der vier Propellermotoren betäubte sie und verdrängte alle anderen Gedanken und Gefühle.
Der Abschied von den Eltern am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages auf dem zugigen, knochenkalten Hamburger Hauptbahnhof war trostlos gewesen. Ihr Vater stand vor ihr, kerzengerade und bleich in dem trüben Schein der Bahnhofsleuchten. »Paß auf dich auf, benimm dich«, sagte er tonlos, »und grüß mir Afrika.«
Dietrich, blaß und schmal, fünf Jahre jünger als sie, boxte sie hart. »Na, Schwesterlein, laß dich man nicht von Löwen fressen!«
Ihre Mutter hatte rotgeränderte Augen und zerknüllte ein nasses Taschentuch. Sie reichte ihrer Tochter die Wange zum Kuß, brachte aber kein Wort heraus. Der Auslöser für diese Reise, David, schien vergessen. Nur dieser schmerzhafte Abschied blieb. Frierend verkroch Henrietta sich in ihrem dünnen Mantel.
Es folgte eine vierzehnstündige Zugfahrt durch das tiefverschneite, nachtdunkle Deutschland nach Basel. Für wenige, kostbare Stunden fiel sie in einen unruhigen Schlaf, häufig gestört durch das Trampeln zusteigender Passagiere im Gang. Morgens in Basel angekommen, trat sie hinaus auf den Centralbahnplatz und versank sofort bis zu den Knöcheln im Schnee. Das Wetter paßte zu ihrer Stimmung. Eine milchigweiße, verwaschene Sonne ertrank in schweren, grauen Wolken. Schneefall setzte ein. Ein eisiger Wind türmte den Schnee am Straßenrand auf und verwandelte die Straße zum Flughafen in einen spiegelglatten, weißen Kristalltunnel. Die Taxifahrt vom Bahnhof zum Flughafen befriedigte ihren Hunger nach Abenteuer vorerst vollauf.
Der Start der hoffnungslos überladenen DC 6 erfüllte sie mit den schlimmsten Befürchtungen. Mächtige Räummaschinen fraßen eine provisorische Startbahn durch die Schneemassen, die sie aus dicken Kanonenrohren auf die Seiten bliesen, wodurch sich bald ein Tunneleffekt ergab, der sie unangenehm an die Taxifahrt erinnerte. Schwerfällig erhob sich das Flugzeug in die Luft und tauchte mit brüllenden Motoren in die dicke Wolkendecke. Während ihrer düsteren Vision von einem heulenden Absturz und darauffolgender Flammenhölle brach die Maschine plötzlich durch die Wolken und schwebte über den blendend weißen Gipfeln der schneebedeckten Alpen in einen strahlenden, tiefblauen Himmel. Aufregung packte sie. Zum ersten Mal empfand sie keine Begrenzung, ahnte sie, was Freiheit hieß. Die Gefängnismauern öffneten sich, und sie wagte einen Schritt hinaus.
Nach Zwischenlandungen in Genf und Kairo, wo sie zu Abend aßen und von freundlichen braunen, in lange helle Gewänder gekleideten Männern zu einem Basar geführt wurden, wo Messingwaren, kleine Mumienpuppen und echte, wirklich ganz echte, altägyptische Statuen angeboten wurden, befanden sie sich gegen Mitternacht über der Nubischen Wüste. Hier stieg die am Tag von einer glühenden Sonne aufgeheizte Luft auf, prallte gegen die kalten Luftschichten der Nacht und verursachte extreme Turbulenzen. Das Flugzeug sackte weg wie ein Stein, arbeitete sich ächzend hoch und fiel dann wieder mehrere hundert Meter tief in ein Luftloch.
Die meisten Passagiere wurden aus einem unruhigen Dämmerschlaf gerissen, als sie in Khartum landeten. Die Luft, die durch die geöffneten Türen strömte, erschien ihr höllenheiß nach der Winterkälte in Basel und der Kühle in Kairo. Sie durften nicht aussteigen. Drei Stunden mußten sie so ausharren, bevor sie endlich nach Entebbe und Nairobi starteten, wo, wie auch während der vorigen Zwischenstops, weitere Passagiere auf sie warteten. Wem nicht von den schlingernden Bewegungen der tief fliegenden Maschine schlecht wurde, wurde bald von suggestiven Würgegeräuschen und dem nachfolgenden, stechenden Gestank überwältigt.
Sie nahm Hitze, Gestank und Hunger nicht wahr, und schlafen konnte sie erst recht nicht, denn unter ihr war Afrika. Unter dem tiefblauen Nachthimmel lag die dunkle, verzauberte Masse Land, der warme mütterliche Koloß Afrika, das Land, in dem sie immer in ihren Träumen gelebt hatte. Unmerklich lichtete sich das Nachtblau draußen, und kühles, türkisfarbenes Licht modellierte Hügel und Täler aus den tiefen Schatten. Kleine Seen leuchteten auf wie Diamanten. Ein Laut fing sich in ihrer Kehle. Ob es ein Lachen war oder ein Schluchzen, wußte sie selbst nicht. Sie befand sich in einem köstlichen Zustand der Schwerelosigkeit, zwischen gestern und morgen, losgelöst von ihrem Leben, ohne Gewicht, das sie am Boden hielt. Sie vergaß das dröhnenden Flugzeug, sie vergaß ihre Kindheit und ihre Eltern, sie vergaß sogar die vielen Menschen um sich herum. Sie war allein, sie flog ihrem neuen Leben in Afrika entgegen, und es war berauschend. Sie schwang sich jubilierend wie eine Lerche im Frühsommer auf ihren Gedanken hinaus in die unendliche Weite des Himmels. Zeit war keine Dimension, sie sah ihre Zukunft vor sich, eine lichtdurchflutete Landschaft, und der Horizont war so weit, daß sie ihn nicht erkennen konnte. »He, kommen Sie zurück, fliegen Sie nicht davon ...« Bayerische Klangfärbung.
Die Lerche hielt abrupt inne mit Jubilieren, legte die Flügel an und landete unsanft in der Wirklichkeit. Sie fuhr herum. Ihr Sitznachbar war aufgewacht und beugte sich lächelnd zu ihr herüber. Dichte, kurzgeschnittene, schwarze Haare, schläfrige Augen, tiefblau, ganz ungewöhnlich, ein kräftiges, längliches Gesicht mit einem Zwei-Tage-Bart. Ziemlich attraktiv, und er weiß das. Er hat diese gewisse Arroganz. Seinen Namen kannte sie nicht, wollte ihn auch gar nicht wissen. Jetzt war er nur ein Mensch, mit dem sie diesen Augenblick teilen konnte. Das Türkis löste sich auf. Eine feurige Linie zeichnete die Konturen der Landschaft nach, und dann schob sich die riesige, rotgoldene Sonnenscheibe über den Rand der Welt. Ihre dunkelblauen Augen glühten in dem übernächtigten, blassen Gesicht, ungebändigte, kurze blonde Locken hingen über ihre Brauen. »Haben Sie je etwas Schöneres gesehen?«
»O ja – Sie!« Er grinste sie an. Siegessicher. Arrogant.
Sie zuckte zusammen. Er hatte den Augenblick zerstört.
Er schien das zu spüren. »Entschuldigen Sie«, murmelte er verlegen.
Sie antwortete nicht, sondern drehte ihm den Rücken zu und schloß ihre heißen, trockenen Augen. Die folgenden vierundzwanzig Stunden mit den letzten Zwischenlandungen in Entebbe, wo sie am späten Vormittag in einem luftigen, weißen Gebäude frühstückten, dann in Nairobi, Salisbury und Bulawayo nahm sie nur noch durch den Schleier totaler Übermüdung wahr. Über dem Rand des südafrikanischen Hochplateaus geriet die Maschine in die dort herrschenden berüchtigten Luftlöcher und stürzte urplötzlich mehrere hundert Meter tief hinunter. Sie wurde rüde und gründlich wach gerüttelt. Dann endlich, nach mehr als zweieinhalb Tagen, landeten sie in Johannesburg.
Henriettas erster Schritt aus dem stickigen, nach dem infernalischen Insektenspray des südafrikanischen Gesundheitsinspektors stinkenden Halbdunkel der immer noch übervollen DC 6 hinaus auf die Gangway in den klaren, durchsichtigen Hochlandmorgen war wie der Schritt einer Gefangenen in die Freiheit. Die Passagiere, ein jämmerlicher Haufen übermüdeter, ungewaschener Menschen, wurden sofort in die große, weite Ankunftshalle gebracht. Nach mühseligem, endlosem Ausfüllen von Formularen in Englisch und Afrikaans waren die ersten Einwanderungsformalitäten erledigt. Zusammen mit einigen anderen Mitreisenden ging sie hinüber zur Maschine nach Durban. Ihr alter Sitznachbar befand sich auch dabei. Sie beantwortete seinen erfreuten Gruß mit einem knappen Nicken und ignorierte ihn danach.
Bald glitten unter ihnen die Höhenzüge des Witwatersrand vorbei. Karg und...
Erscheint lt. Verlag | 29.7.2014 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1950er • 50erJahre • Afrika • Apartheid • Drama • eBooks • Frauenromane • Liebesromane • Politik • Rassentrennung • Roman • Romane für Frauen • Südafrika |
ISBN-10 | 3-641-13734-9 / 3641137349 |
ISBN-13 | 978-3-641-13734-2 / 9783641137342 |
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