Das Haus am Alsterufer (eBook)
576 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-13160-9 (ISBN)
Micaela Jary stammt aus Hamburg und wuchs im Tessin auf. Sie arbeitete lange als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Nach einem langjährigen Aufenthalt in Paris lebt sie heute mit Mann und Hund in Berlin und München. Zum Schreiben begibt sie sich aber auch in ein kleines Landhaus nahe Rostock.
Hamburg
1
Staunend blickte Klara Tießen zu dem von Weiden beschatteten Ufer. Die ausladenden Äste neigten sich tief über die von der Brise leicht gekräuselte Wasseroberfläche. Dahinter erstreckten sich sanft ansteigende smaragdgrüne Rasenflächen zu prachtvollen weißen Landhäusern, deren Fassaden im Sonnenlicht glänzten, als würden sie jeden Morgen frisch gewaschen. Es waren die nobelsten Villen, die Klara je gesehen hatte. Sie wusste zwar vom Hörensagen, was sie in Hamburg erwartete, doch auf die Magie der Alster war sie nicht vorbereitet gewesen, und niemand hatte ihr vom Zauber der idyllischen Gartenanlagen erzählt. Um diese herbstliche Jahreszeit leuchteten die Blätter der Eichenalleen, der Kastanienbäume und Linden in allen Gelb- und Rottönen, als wären sie mit Farbe übergossen worden. Ruhe und Harmonie hingen über der Landschaft, die weit entfernt schien von der Betriebsamkeit des berühmten Hafens. Auf einer Weide nahe der Mündung des Alsterlaufs in die Außenalster sah Klara sogar Kühe grasen. Doch die Automobile, die über die Holzbrücke daneben ratterten, veränderten das Bild. Es bestand kein Irrtum und noch weniger Grund zur Wehmut – sie war in der großen, reichen Stadt angekommen.
Klara stand an der Reling eines Alsterdampfers, eines der weißen Schraubendampfer, mit denen ein regelmäßiger Linienbetrieb über die Wasserwege zwischen Jungfernstieg und Eppendorfer Mühle unterhalten wurde. Im Baedeker’s hieß es, dass die Fahrt so praktisch sei wie die mit der Elektrischen, aber Klara fand es viel schöner, sich hier den Wind um die Nase wehen zu lassen, statt den kitzelnden Straßenstaub einzuatmen. Sie genoss den kühlen, schweren Duft des ausklingenden Sommers und hörte, wie die Schiffsglocke die baldige Ankunft an der Anlegestelle Alte Rabenstraße verkündete.
Sie war bereits an ihrem Ziel vorbeigefahren, um die gesamte Rundfahrt zu erleben, was zehn Pfennige extra kostete. Den Fährdamm Harvestehude hatte sie ein weiteres Mal hinter sich gelassen, so dass sie sich eigentlich schon auf der zweiten Tour befand. Am liebsten hätte sie diesen wundervollen See, der das Gesicht der Stadt in einer Weise zum Strahlen brachte wie die funkelnden Augen das Antlitz einer schönen Frau, ein drittes Mal umrundet. Das wäre jedoch Luxus gewesen – und ihr Erspartes wollte sie lieber für den Notfall beisammenhalten.
Gerade sechzehn Jahre alt, besaß Klara nur wenig außer dem Vertrauen in die Göttin Fortuna, die wohlmeinend die Geschicke ihrer Heimat Glückstadt lenkte. Sie hatte versprochen heimzukehren, falls ihr Anliegen erfolglos bliebe, und musste deshalb sparsam mit dem Reisegeld umgehen. Doch das Flair der großen Stadt hatte Klara bereits gefangen genommen. Längst war sie entschlossen, dass sie hier Fuß fassen würde. Nichts konnte sie mehr von ihrem Vorhaben abbringen, denn außer der Karriere als Schankmädchen in einem Hafenlokal und der entbehrungsreichen Ehe mit einem Seemann besaß sie als illegitimes Kind unbekannter Eltern in Glückstadt kaum eine Zukunft.
Dem Rat ihrer Ziehmutter folgend, hatte Klara ihr Zuhause verlassen, um nach Hamburg zu gehen und Arbeit bei einem Mann zu suchen, von dem sie nicht mehr wusste, als dass er wohlhabend und Reeder war. Ein Empfehlungsschreiben an Herrn Victor Dornhain befand sich sorgsam verwahrt in ihrem Beutel. Aber die Patin hatte sie vorsorglich darauf hingewiesen, dass der Mann möglicherweise kein wirklicher Herr war und sie deshalb wieder fortschicken könnte. Diesen Fall zog Klara vorerst jedoch nicht in Betracht – alles zu seiner Zeit, war ihre Devise.
An der Anlegestelle Rabenstraße ragte ein hölzerner Steg in den See, stabil genug für mehrere Gaslaternen. Um diese Nachmittagszeit jedoch war Schatten wichtiger als Licht: Die Damen hatten ihre Sonnenschirme aufgespannt oder schützten ihre Haut mittels riesengroßer Hüte, die Klara an Wagenräder erinnerten. Eine Gruppe Kinder wartete, begleitet von der Gouvernante, auf die Ankunft des Bootes, die Mädchen und Jungen trugen Matrosenanzüge und waren so sauber und adrett, wie Klara nie zuvor Kinder dieses Alters gesehen hatte. Auf den weiß lackierten Bänken am Rande des Kais saßen einige Herren ins Gespräch vertieft, in Geschäftsanzügen und mit runden Filzhüten auf dem Kopf; als die Schiffsglocke ertönte, erhoben sie sich, um in geordneter Reihe dem Verkehrsmittel entgegenzugehen.
»Na, mien Deern, willst du nicht noch an Bord bleiben?«, erkundigte sich der Bootsmann, als Klara schweren Herzens den Weg an Land antrat.
Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass die Bänder ihres Strohhutes durch die Luft flogen. »Ein andermal vielleicht, aber jetzt muss ich gehen.« Sie bemühte sich um ein gepflegtes Hochdeutsch und verfiel nicht in das Plattdeutsch des Schiffers, dessen sie durchaus mächtig war.
»Denn man too«, erwiderte er und half ihr beim Aussteigen. Er rief ihr noch ein »Tschüss« hinterher, doch Klara hörte kaum hin.
Aus der Nähe sahen die Häuser am Harvestehuder Weg noch imposanter aus als von Klaras Beobachtungsposten an der Reling des Alsterdampfers. Was hieß hier eigentlich Haus? Es waren Paläste, fand das junge Mädchen, Gebäude wie Schlösser. Nicht, dass Klara sonderlich viel Ahnung von Architektur besaß. Aber sie konnte durchaus das Ausgefallene vom Schlichten unterscheiden und Schönheit erkennen, auch wenn diese nur aus Mauern und Fensterglas bestand.
Auf der dem Ufer gegenüberliegenden Straßenseite reihten sich Bauwerke mit Zinnen und Türmen aneinander, Erker nahmen den Putzbauten die Strenge, Terrassen wurden von Säulen getragen, feinstes Stuckhandwerk verzierte Landhäuser und Villen. Die weiß gekalkten Gebäude standen zurückgesetzt von der ungepflasterten, staubigen Landstraße, die offensichtlich vor allem von Spaziergängern und für Ausritte genutzt wurde. Gepflegte Gärten reihten sich hinter der Eichenallee Hecke an Hecke, zur Außenalster hin setzten sich diese Privatparks fort. Veranden, Pavillons und Sitzplätze luden die Hausherren und deren Gäste zum Verweilen ein, und Klara dachte unwillkürlich an die Worte ihrer Ziehmutter, die sie auf die Hinwendung der Hamburger auf alles Englische aufmerksam gemacht hatte und darauf, dass zu einer bestimmten Nachmittagsstunde der Tee genommen wurde. Nicht getrunken, wie unter Klara und ihresgleichen. Die feinen Leute nahmen ihren Tee.
Das Haus Nummer zwölf war in einem ähnlichen Stil erbaut wie die Nachbarvillen. Der Unterschied bestand hauptsächlich darin, dass der üblicherweise im Erdgeschoss befindliche Erker das erste Stockwerk zierte und turmähnlich bis über den Dachstuhl ragte. Davor befand sich eine von Säulen getragene Terrasse. Eine Freitreppe führte vom Hochparterre in den Garten. Obwohl es in Glückstadt einige ansehnliche Adelshöfe gab, erschien Klara der Wohnsitz von Victor Dornhain weitaus prächtiger als diese. Das Gebäude erinnerte sie an die Schlösser in Preußen, die Klara bisher nur von Fotografien kannte.
Eine schmale Seitenstraße führte am Garten entlang zu dem benachbarten Stallgebäude und anderen, in zweiter Reihe liegenden Wohnhäusern. Es ging leicht bergan, und Klara fragte sich, ob sie deshalb nach Luft schnappte. Tatsächlich lag ihre Atemlosigkeit wohl eher an der Aufregung, die sie erfasste und verwirrte, aber gleichsam vorantrieb.
Ihre Schritte führten sie unter ein Mauerdach und vor die zweiflügelige Haustür an der Rückseite des Hauses. Klara stellte ihren Koffer neben sich ab, strich sich den dunklen Rock glatt und die rotgoldenen Locken hinter die Ohren. Ihre Finger fühlten sich feucht an, als sie den Sitz ihres Strohhutes prüfte …
In diesem Moment wurde geöffnet – und sie sah sich dem überraschten Gesichtsausdruck einer älteren Dame gegenüber.
Die Frau war hochgewachsen und von schlanker Statur. Ihre Haltung ähnelte der einer aufrechten Marmorskulptur. Ihr blasses Gesicht unter dem Hut war schmal und von Falten durchzogen, sie war jedoch unverkennbar in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, besetzt mit cremefarbener Spitze; die einzige Extravaganz ihrer Garderobe schienen die cremeweißen und blauen Federn auf ihrer Kopfbedeckung zu sein. Kaum jemals hatte Klara eine so schlicht gekleidete Frau gesehen, die eine derart natürliche Eleganz ausstrahlte – und ihr gehörigen Respekt einflößte.
Unwillkürlich wich Klara einen Schritt zurück.
»Wir kaufen nichts, und wir spenden auch nichts für Lungenkranke, bedürftige Kinder, Wandervögel und alle anderen«, erklärte die Dame mit einer tiefen, fast rauchigen Stimme.
»Oh, das ist ein Missverständnis«, beeilte sich Klara aufzuklären. Sie knickste höflich und fuhr, sich zur Ruhe mahnend, fort: »Ich komme nicht, um Geld zu sammeln. Ich will mich als Hausmädchen bei Herrn Dornhain vorstellen, wenn’s recht ist. Ich habe auch ein Empfehlungsschreiben.«
»Schickt dich Bruno Sievers?«
»Wer?« Da sie sich an das Verbot der Ziehmutter gehalten hatte, die um den Brief an Herrn Dornhain ein ziemliches Geheimnis machte, wusste sie nichts über einen Bruno Sievers.
»Den Gesindemakler kennst du anscheinend nicht«, resümierte die alte Dame. »Dann wüsste ich nicht, wieso du dich hier um eine Anstellung bewirbst. Geh von der Tür weg, Mädchen, hier bist du an der falschen Adresse.«
Entschlossen griff Klara in ihre Umhängetasche und zog den Brief an »Herrn Victor Dornhain« heraus. Dabei zerdrückte sie den sorgsam aufbewahrten Umschlag. Zerknittertes Papier machte gewiss keinen guten Eindruck, aber das...
Erscheint lt. Verlag | 21.7.2014 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1. Weltkrieg • Abenteuerroman • Downton Abbey • eBooks • Erster Weltkrieg • Familiensaga • Familiensaga, Hamburg, Downton Abbey, Reedersfamilie, Gesellschaftsroman, Frühes 20. Jahrhundert, 1. Weltkrieg, Familienskandal • Familienskandal • Frauenromane • frühes 20. Jahrhundert • Gesellschaftsroman • Hamburg • kleine geschenke für frauen • Liebesromane • Reedersfamilie • Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-13160-X / 364113160X |
ISBN-13 | 978-3-641-13160-9 / 9783641131609 |
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