Scheunenfest (eBook)

Ein Alpen-Krimi

(Autor)

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2014 | 4. Auflage
352 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-96662-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Scheunenfest -  Nicola Förg
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n der Brandruine einer Scheune werden in Unterammergau die Leichen zweier junger Frauen entdeckt. Die Rumänin Ionella hatte das alte Ehepaar gepflegt, dem der Bauernhof gehört. Ihre Freundin, eine junge Norwegerin, war als Au-pair in Deutschland. Ein Unfall? Fest steht jedenfalls, dass sie schon tot waren, als der Stadel Feuer fing. Und die Brandstelle hält noch eine weitere Überraschung für Irmi und Kathi bereit: In der Scheune lagerte eine Phosphorbombe! Die könnte den Brand ausgelöst haben, aber nun will sie natürlich niemandem mehr gehören. Sind die beiden Frauen einer Verkettung unglücklicher Umstände zum Opfer gefallen? Die Schafe und Ziegen waren gerade an diesem Tag nicht im Stadel, obwohl es draußen gestürmt und geschneit hat - wollte jemand einen Doppelmord vertuschen, aber die Tiere verschonen?

Nicola Förg, Bestsellerautorin und Journalistin, hat mittlerweile dreiundzwanzig Kriminalromane verfasst, an zahlreichen Krimi-Anthologien mitgewirkt, einen Island- sowie einen Weihnachtsroman vorgelegt. »Hintertristerweiher«, ihr von der Presse vielfach gelobter Roman, ist 'eine feinsinnige Familiengeschichte, die über Generationen hinweg reicht und einen spannenden Bogen schlägt von den Wirren des Zweiten Weltkriegs bis zu den Wirrungen in der Jetztzeit.' (Münchner Merkur). Die gebürtige Oberallgäuerin, die in München Germanistik und Geografie studiert hat, lebt heute mit Familie sowie Ponys, Katzen und anderem Getier auf einem Hof in Prem am Lech - mit Tieren, Wald und Landwirtschaft kennt sie sich aus. Sie bekam für ihre Bücher mehrere Preise für ihr Engagement rund um Tier- und Umweltschutz.

1 Ein sauberes Dekolleté, aus dem die Brüste appetitlich hervorquollen. Bierkrüge, die zusammenkrachten. Als er mit dem Tandemradl an den Schleierfällen vorbeifuhr, riefen ein paar Kinder: »Du musst immer einen Helm anziehen, Helm anziehen, Helm anziehen ...« Die Frau mit dem Dekolleté lachte mit sehr roten Lippen. Ein alter Schulfreund, der zweite Mann auf dem Tandemrad, legte ihm die Hand auf die Schulter und grölte. Dann begann er zu wackeln und zu ruckeln. Sie würden umfallen, der Weg war doch so steinig ... Es war zwei Uhr achtundvierzig, als Herbert Springer aus dem Tiefschlaf fuhr. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er sich noch erinnern, was er geträumt hatte. Einen ziemlichen Schmarrn, denn den Schulfreund hatte er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, der war nach Kanada ausgewandert, und natürlich konnte man an den Schleierfällen nicht radeln, man konnte dort ja kaum gehen, wenn man schlecht zu Fuß war. Herbert sprang aus dem Bett. Der Traum war weggewischt, die Zeitspanne zwischen Schlaf und Wachen war so kurz gewesen wie ein Wimpernschlag. Hätte er die Augen noch geschlossen gehalten, hätte er den Traum vielleicht noch eine Weile festhalten können, aber in seinen Körper war schon so viel Adrenalin geströmt, dass sein Herz raste. Es war der nervige Piepser, der ihn geweckt hatte. Er las die Nachricht auf dem Display: eine Adresse, es waren Personen in Gefahr, die Einsatzart war ein B5. Als erster Kommandant wusste er, dass dies der feuerwehrinterne Code für einen Großbrand war. Zwei Sekunden später schallten die Sirenen durch das Dorf, und schon drei Minuten nach der Alarmierung saß Herbert im ersten Fahrzeug. Er konnte fast in einem Rutsch in Hose und Stiefel springen. Als er mit dem Jeep durchs Dorf raste, war es zwei Uhr zweiundfünfzig. Der LF 20, das erste Angriffsfahrzeug, so hieß das nun mal, war ihm auf den Fersen. Zum Glück wohnten viele seiner Leute unweit des Feuerwehrhauses. Ein schwarzer Himmel wölbte sich über die Schneeflächen, und das fahle Mondlicht verschwand immer wieder hinter faserigen Wolken. Das Kreischen der Sirenen schallte auch durch die Nachbardörfer, und man hätte schon einen sehr guten Schlaf haben müssen, um nicht vom Geräusch aufzuschrecken. Fenster klappten, Köpfe reckten sich hinaus. Gestalten in Morgenmänteln, Pantoffeln oder eilig übergestülpten Stiefeln hasteten durch die verschneiten Bauerngärten. Wo brennt es? Hoffentlich nicht bei uns! Viele sahen am nachtschwarzen Himmel den Feuerschein, der hinaufzüngelte wie ein Feuer speiender Drache. Es brannte beim Schmid, und das war gar nicht gut, schließlich lag der Hof mitten im Dorf. Die Tenne hatte bereits zur Hälfte Feuer gefangen, und zwar in der rechten Hälfte, die direkt ans Wohnhaus angrenzte. Immerhin gab es eine gute Brandschutzmauer dazwischen. Herbert wusste, dass dennoch immer alles passieren konnte, aber er hatte Routine und Nerven wie Drahtseile, zumindest solange das Adrenalin ihn begleitete, und das würde heute wohl noch eine Weile der Fall sein. Die Wehren aus Oberammergau und Altenau heulten nun auch heran, und für einen Sekundenbruchteil fragte sich Herbert, ob die Saulgruber mal wieder in die falsche Richtung gefahren waren. Dann lächelte er, heute war kein Nebel, da würden die Nachbarn es ja wohl schaffen. Rotes Kreuz und Polizei lichtorgelten ebenfalls heran. Herbert wies die Kollegen von den anderen Wehren ein. Eigentlich hätte der Kreisbrandinspektor aus Ogau - so lautete die saloppe Abkürzung für Oberammergau - übernehmen sollen, doch der war im Urlaub. Inzwischen hatte Herbert seinen Atemschutztrupp ins Wohnhaus geschickt, der Sicherungstrupp stand bereit, und auf die Tenne lief bereits voller Angriff. Bei einem Brand dieser Größe würde das Hydrantennetz in jedem Fall zusammenbrechen. Deshalb waren die anderen Wehren - Saulgrub und Ettal waren mittlerweile auch eingetroffen - damit beschäftigt, die Ansaugstellen an der Ammer zu besetzen. Als die Kollegen Burgi Schmid auf einer Trage durch den Bauerngarten bugsierten, war es drei Uhr zehn. Ihr Mann Xaver humpelte, auf zwei Feuerwehrler gestützt, hinterher und brüllte irgendwas Unverständliches. Der Notarzt hastete den beiden Alten entgegen. Zu allem Überfluss hatte sich ein Ettaler Feuerwehrmann, ein Zuagroaster mit großer Klappe und Sendungsbewusstsein, den Knöchel gebrochen, als er vom Einsatzfahrzeug gesprungen war - wie ein Keltenkrieger, der sich in die Schlacht stürzen will. Dadurch wurden unnötig Sanitäter abgezogen, die den übereifrigen Kollegen mit einem Krankenwagen abtransportieren mussten. Einige Kollegen aus Altenau hielten dicke Decken hoch, um damit die heranbrandende Flut von Dorfbewohnern abzuhalten. Der Atemschutztrupp hatte abgeklärt, dass nun niemand mehr im Wohnhaus war. Zwei benachbarte Bauern waren in den Stall des Schmid-Hofs gelaufen, der einen kleinen Teil der brennenden Tenne bildete, und hatten die Tiere herausgetrieben. Es waren zum Glück nicht mehr viele: sechs Kühe, ein Geißbock, sieben Schafe. Eine Frau, die über dem Nachthemd eine Daunenjacke trug und deren nackte Beine in den viel zu großen Latschen ihres Mannes steckten, versuchte die flatternden und gackernden Hühner zusammenzuhalten. Bei Katastrophen taten Menschen oft instinktiv das Richtige, das wusste Herbert. Irgendwo war ein Schrei zu hören: »Da kommt nix!« Wie so oft hatte jemand im Durcheinander die Schläuche an den falschen Verteiler angeschlossen, Schlauchordnung war eben nicht jedermanns Sache. Die Nachbarhäuser standen unter Wasserbeschuss, und Herbert befürchtete nun kein Übergreifen der Flammen mehr aufs Wohnhaus. Es war drei Uhr zwanzig, als plötzlich alle in eine Richtung starrten: Im linken Teil der Tenne brannte es auf einmal taghell. Das Licht schmerzte in den Augen wie bei einer Explosion. Herbert, der erste Kommandant, vermutete Metallbrand, womöglich auch Kunstdünger oder Ammoniak, irgendetwas in der Art, und das war schlecht, sehr schlecht sogar. Dennoch gelang es der Feuerwehr, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Herberts Adrenalinspiegel war weiterhin auf Spitzenniveau. Drei Stunden später hatten sie schließlich jeden Balken abgelöscht, und die Wärmebildkamera zeigte keine Brandnester mehr an. Zwei Journalisten vom Garmischer Tagblatt waren inzwischen aufgelaufen, hatten fotografiert und waren im Weg herumgestanden. Herbert hasste ihre hartnäckigen Fragen, ob man zu diesem Zeitpunkt schon etwas über die Brandursache sagen könne. Die vordringlichste Aufgabe der Feuerwehr war es schließlich, Menschenleben zu retten und die Flammen zu löschen, und in dieser Hinsicht war heute ja einiges geboten gewesen. Bevor die Brandermittler aus Garmisch eintreffen würden, wollte Herbert eine erste Inspektion in dem abgebrannten Gebäude machen. Doch plötzlich fragte ihn ein Kollege: »Wo is eigentlich die Pflegerin? Du woaßt scho, des Madel. Wo is die?« Das Adrenalin, das eine kurze Pause eingelegt hatte, schoss wieder ein. Aus Herberts Magen stieg Säure auf. »Such den Franz«, antwortete er. Franz Schmid, einen der Söhne der beiden Alten, hatte er vorhin noch irgendwo im Getümmel gesehen. Der erste Kommandant stieg über die vor sich hin dampfenden Balken. Wo der blendend helle Schein ins Schwarz der Nacht herausgefahren war, hielt Herbert inne. Es war offensichtlich, dass hier etwas mit gewaltiger Wut und Hitze gebrannt hatte. Die genauen Umstände zu untersuchen würde Aufgabe der Brandermittler sein, aber Herbert war sich sicher, dass hier etwas den Brand in Gang gesetzt und beschleunigt hatte. Der Schmid hatte noch ein altes Holzhochsilo in seiner Tenne gehabt, auch das war fast vollständig heruntergebrannt. Draußen gab es noch ein neueres Fahrsilo, aber der alte Xaver hatte immer noch das unpraktische Holzmonstrum mit Silage vollgepackt. Von dem einst fünf Meter hohen Turm war nur noch ein Ring von etwa einem Meter fünfzig übrig geblieben, und lediglich die untere der beiden Entnahmeluken war erhalten. Herbert spähte über den Rand, und sein ganzer Körper war auf einmal stocksteif. Die Magensäure schwappte ihm bis in die Kehle, sein Herz raste. »Alle zruck!«, rief er. »Zruck!« Im Silo lagen zwei verkohlte verbogene Gestalten, die gerade noch als Menschen zu erkennen waren. Das war nun Sache der Kriminaler. Herbert informierte die Polizisten, und schon war ein zweites Feuer entfacht: ein Lauffeuer, das von den Kollegen sofort auf die Neugierigen übergriff. Zwei Tote im Silo! Wer? Warum? Was war passiert? Das Lauffeuer eilte durch das Dorf. Es war halb acht, als Kathi Reindl und ihre Kollegin Andrea in Unterammergau eintrafen. Zehn Minuten später spähten sie über den Rand des Silos. »Scheiße!«, entfuhr es Kathi. »Irgendeine Idee, wer das sein kann? Wird jemand vermisst?« »Es gibt eine rumänische Pflegekraft, über deren Aufenthaltsort momentan nichts bekannt ist«, meinte Herbert langsam. »Und die andere Leiche?« »Liabs Madel, wir haben hier die ganze Nacht einen Brand gelöscht, der aufs gesamte Dorf hätte übergreifen können. Und mit Bränden hat Ugau in seiner Geschichte ja durchaus schlechte Erfahrungen gemacht«, sagte Herbert nun etwas schärfer. Kathi drehte sich um und beäugte ihre Kollegin mit einer Mischung aus Verachtung und Bedauern. Andrea war blass wie der Schnee und sah aus, als müsse sie gleich kotzen. Kathi hatte sich vorgenommen, netter zu ihr zu sein. Vor allem jetzt, wo Irmi nicht da war. Deshalb schickte sie Andrea zu den Spurensicherern, weg vom Fundort der Leichen. Auch Kathi fühlte sich irgendwie zittrig, wenn sie ehrlich war. Zwei verbrannte Menschen in einem Silo in Unterammergau. Was für ein Wahnsinn. Und was für ein Wintermorgen, der doch still hätte sein müssen. Stad wie die ganze stade Zeit, wo die Tage kurz waren und weniger forderten als der aufdringliche Sommer, der einem den Schlaf raubte, weil man bis nachts um halb elf draußen saß und am nächsten Morgen das Licht schon so früh ins Zimmer fiel. Irmi sagte immer, dass sie den Sommer hasste. Sie mochte diese frühe Dunkelheit, darum war sie wohl auch dorthin gereist, wo es noch dunkler war. Sie fehlte hier. Schließlich gaben die Spurensicherer das Startzeichen, die Leichen aus der Ruine zu holen. Herbert wusste, was das hieß. Dafür waren nun wieder sie zuständig. Sie, die Männer fürs Grobe. Zusammen mit seinen Kollegen Sepp, Willi und Hans verrichtete er diesen gruseligen Dienst. Sie schoben die Brandopfer in zwei Leichensäcke. Es war leicht, die Toten wogen fast nichts. »Der Leib hebt lang gut zamm«, sagte Willi. Herbert schwieg, jeder hatte seine eigene Art, mit solcher Pein umzugehen. Zusammen mit Sepp trug er den ersten Sack und lud ihn ins Auto der Gerichtsmedizin. Willi stand derweil in der Tenne. Was do no alls rumflackt, dachte er und kickte das dunkle Gebilde, das er neben dem ausgebrannten Silo entdeckt hatte, mit dem Stiefel aus dem Gebäude. Sein Kollege Hans hatte davon gar nichts mitbekommen. Allmählich wurde es ruhiger. Die Nachbarwehren waren davongefahren. Kathi war im Gespräch mit den Brandermittlern, die Herberts Ansicht teilten und den Brandherd jetzt schon lokalisieren konnten. Sie wollten noch jemanden aus München hinzuziehen und versprachen, rasch zu arbeiten. Die Gerichtsmedizin stand in den Startlöchern. Kathi hatte Franz Schmid zu ihrem Wagen gebeten. »Ich habe gehört, die Pflegerin Ihrer Eltern wird vermisst. Sie war nicht im Haus, wo sie ja wohl eigentlich hätte sein müssen.« Franz Schmid, der um die fünfzig sein musste, hatte wirres, graubeigeblondes Haar, das vermutlich selten einen Schnitt bekam. Kathi blickte auf die geplatzten Äderchen, die wie ein feines Gespinst seine Wangen überzogen. Sein linkes Augenlid hing leicht nach unten, ein schöner Mann war das nicht. Wahrscheinlich war er das nicht einmal in jungen Jahren gewesen, bevor er viel zu viel gesoffen hatte. »Ja, sie war dann wohl nicht da«, sagte der Mann mürrisch. Kathi riss die Augen auf. »Das ist alles, was Sie mir zu sagen haben? In der Tenne Ihrer Eltern lagen zwei Tote! Ist Ihnen vielleicht schon mal die Idee gekommen, dass Ihre Pflegerin die eine davon sein könnte?« »Die Idee scho.« Selbst wenn man dem Mann eine gewisse Verwirrung nach so einer Nacht zubilligen wollte, erzeugte so viel Einsilbigkeit bei Kathi starke Aggressionen. »Schmid!«, brüllte sie. »Zwei Tote! Und die Pflegerin fehlt. Hat sie einen Freund? Wo könnte das Madel stecken? Verstehen Sie mich?« Er schwieg, von Kathis Ausbruch wenig beeindruckt. An diesem Mann schien alles abzutropfen. »Das weiß man bei solchen doch nicht«, sagte er schließlich. »Solchen was?« »Na ja, Ostweibern halt. Sind doch alle nur auf Männer aus, die sie heiraten und rausholen aus den Karpaten.« Kathi sah wieder Irmi vor sich, die in solchen Momenten ganz leise wurde und Eiseskälte in ihre Stimme zu legen vermochte. Sie war nahe dran, dem Schmid Franzl eine zu scheuern. »Ich frag Sie nun zum letzten Mal: Haben Sie eine Idee, wo das Madel sein könnte?« »Nein, normal müsst sie da sein. Dafür wird sie ja bezahlt, die Trutschn.« Franz Schmid war so kooperativ und gesprächig wie ein zermergelter Hackstock. Kathi atmete tief durch. Dann zählte sie innerlich bis fünf. Irmi hatte ihr mal geraten, bis zehn zu zählen, aber so weit kam sie nicht, ehe es aus ihr herausschrie: »Und wenn sie doch im Silo lag? Was hat sie da gemacht?« »Sich vor dem Brand versteckt? Was woaß denn i?«, murmelte er und schaute grimmig. So dumm war doch wohl keiner, sich bei Feuer in ein Silo zu flüchten? Andererseits: Wussten alle Menschen, welche Gefahr von Silogasen ausging? »Wo war das Zimmer der Pflegerin? Hat die vielleicht auch einen Namen?« »Ionella. Ionella Adami.« »Und das Zimmer?« »Oben. Aber da können Sie jetzt ned eini!« »Sie glauben gar nicht, was ich alles kann!« Kathi stampfte davon und auf Herbert zu, der angesichts der herannahenden Rachegöttin unwillkürlich einen Schritt zur Seite machte. »Ich muss ins Wohnhaus. Es gibt die berechtigte Sorge, dass eine der Leichen die Pflegerin ist.« Herbert sah Kathi in die Augen, und obwohl Kathi alles andere als der sensible Typ war, spürte sie in diesem Blick eine schwere Last. Der Mann machte sich Vorwürfe, und sie hatte auf einmal das Gefühl, ihn trösten zu müssen. »Sie konnten nichts tun. Sie haben doch Wärmebildkameras. Die haben ja auch nichts mehr angezeigt. Sie haben das Haus und das Dorf gerettet.« »Von mir aus können Sie reingehen. Gefahr besteht jedenfalls keine.« Er zögerte. »Wo ist eigentlich Frau Mangold?« »Im Urlaub. Kennen Sie Irmi?« »Eher ihren Bruder, den Bernhard. Der ist bei der Wehr in Eschenlohe. Man kennt sich oiwei.« Ein kleiner Plausch über Bekannte, wie man das im ländlichen Raum eben so machte. Hätte da nicht die schwarze Ruine gestanden, hätte nicht der Brandgeruch in den Lungen gebissen und wären da nicht zwei Tote gewesen. »Wenn wir mal annehmen, die eine Leiche ist die Pflegerin. Wer ist dann die zweite?«, fragte Kathi. »Ich bin kein Hellseher.« »Aber Feuerwehrkommandant in Ugau. Nicht in New York oder Mexiko City. Sie kennen doch jeden hier. Hatte diese Ionella einen Freund?« »Klar san s' der brutal nachg'stiegen. Schlange san s' g'standen. Aber es wird ja wohl kaum einer ein Schäferstündchen im Silo ausmachen!« Kathi schwieg. »Ich geh dann mal rein«, sagte sie schließlich. »Ich komm mit, falls was wär'«, meinte Herbert. Kathi widersprach nicht, sondern winkte Andrea heran. Zu dritt gingen sie durch den Bauerngarten und betraten das Wohnhaus. Der Gestank war überall, er würde auch noch eine Weile bleiben und penetrant an den Brand erinnern. Im Gänsemarsch stiegen Kathi, Andrea und der Feuerwehrler die kleine Treppe hinauf, die vom Gang aus in den ersten Stock führte. Gleich vorn gab es rechts und links je einen Raum, von denen der eine ein altes Kinderzimmer war. An einem Schrank pappten noch Mainzelmännchen-Sammelaufkleber und Fußballerbilder aus Zeiten, in denen Beckenbauer noch ein Bürscherl gewesen war und Breitner noch nicht gewusst hatte, dass er mal Pädagogik studieren würde. Im anderen Zimmer standen ein altes, mit Bauernmalerei verziertes Doppelbett und ein Bauernschrank, offenbar das Schlafzimmer der beiden Alten. Weiter hinten am Gang befanden sich zwei weitere Räume: ein kleines Duschbad, das neu eingebaut zu sein schien, und ein Zimmer, das ebenfalls mit Jugendmöbeln aus den Siebzigern ausgestattet war. An der Wand hing ein offenbar mehrfach umgeklebtes Pferdeposter von einem Haflinger. Es war zerknittert und hatte abgeschnittene Ecken. Die Einrichtung war spartanisch: Schrank, Bett, ein Schreibtischchen, ein Holzstuhl, ein Regal. Über der Stuhllehne hing ein BH, im Regal lagen ein paar Bücher mit dramatisch anmutenden Umschlägen. Es schien sich um einige rumänische und mehrere deutsche Liebesromane zu handeln. Auch eine Möglichkeit, Deutsch zu lernen, dachte Kathi. Neben den Büchern standen zwei gerahmte Bilder, ein Familienfoto und das Porträt eines Mannes, das mit »Franz Davidis« betitelt war. Darunter stand ein Spruch: Die vom Geist Gottes Erleuchteten dürfen nicht aufhören zu reden, noch dürfen sie die Wahrheit unterdrücken. So ist die Kraft des Geistes, dass der menschliche Verstand, jede falsche List beiseitelassend, allein bestrebt ist, die Ehre Gottes zu vergrößern, sollte auch die ganze Welt toben und sich widersetzen. Kathi runzelte die Stirn. »War wohl religiös, diese Pflegerin«, sagte Andrea. »Und wer ist Franz Davidis?«, fragte Kathi. Andrea zuckte mit den Schultern. Im Regal lagen außerdem die Tablettenboxen des Ehepaars Schmid. Zumindest nahm Kathi an, dass sich darin deren Medikamente befanden. Wahrscheinlich hatte die Pflegerin sichergehen wollen, dass die beiden Alten nicht versehentlich die falschen Tabletten in einer falschen Dosierung einnahmen. Der Schrank war mit Kleidung nur spärlich bestückt, auf dem säuberlich gemachten Bett saß ein Plüschhase, der sehr abgegriffen aussah. Als die drei wieder das Zimmer verlassen hatten, blickte Kathi auf eine Tür am Ende des Gangs. »Da tät ich nicht rausgehen. Da ist ja ... also ... da ist ja nix mehr«, sagte Herbert. Kathi stutzte. Klar, an das Haus schloss sich der kleine Stall an, der von der mehrstöckig gebauten Tenne quasi umschlossen war. Und die Tenne war ja nun komplett abgebrannt. Da war wirklich nichts mehr ... Aus dem kleinen Bad, das kaum mehr als ein paar Schminkutensilien, ein Duschgel, einen Deoroller und ein billiges Parfüm enthielt, holte Kathi die Zahn- und Haarbürste von Ionella und packte sie in Plastikbeutel - für den DNA-Abgleich. Eine Weile standen sie alle unschlüssig im Gang. Andrea warf noch einen Blick in das Zimmer und auf den Hasen. »Ist das traurig«, sagte sie leise. Kathi war schlecht, und sie hatte Hunger. Momentan war wenig zu tun. Sie mussten auf eine schnelle Identifizierung der Leichen hoffen. Als Nächstes würden sie mit den beiden Alten reden und mit der übrigen Familie. Aber für den Moment lag eine gespenstische Stille über dem Haus, das noch vor wenigen Stunden von den Sirenen umjault gewesen und vom Feuerschein hell beleuchtet gewesen war. Herbert ging langsam zu seinem Jeep. Vorbei an dem Jägerzaun, vorbei an den flackernden Lichtern der Polizei, die immer noch den Himmel durchzuckten. Dann spie er. Auf seine Schuhspitzen, auf die Feuerwehrstiefel. Haix, »Schuhe für Helden«, trug man bei den Wehren - doch wie ein Held fühlte er sich in diesem Moment nicht gerade. 2 »In my darkest hour«, sang eine einschmeichelnde Frauenstimme. Ein paar Kerzen brannten in der morgendlich leeren Bibliothek, die auch ein Restaurant beherbergte. Hier, im Sortland Hotell, hatte der Schriftsteller Lars Saabye Christensen sein letztes Buch geschrieben. Viele seiner Werke wuchsen die Wände hinauf, in einer Glasvitrine ruhte ein Originalmanuskript, der Widerschein der Kerzen tanzte auf den Scheiben. Irmi war in den letzten Wochen öfter hier gewesen. Immer wenn es größere Einkäufe zu tätigen gab, fuhr man in die Stadt. Wobei Stadt ein bisschen übertrieben war, Sortland war eher ein Städtchen. Irmi nippte an ihrem Kaffee, während draußen ein bläuliches Licht Schlieren in den Himmel zu ziehen begann. Es war neun Uhr morgens, erst gegen zehn würden sich Rosa und Lila ins Blau mischen. Um zwei würde der Farbkasten Gelb und Orange hinzufügen, die schwarzen Fjordberge würden scharfe Konturen zeichnen, und dann würde das Licht wieder davongleiten - langsam, sanft, sphärisch. Die ersten Tage war Irmi geneigt gewesen hinauszustürmen, um das Licht schnell aufs Foto zu bannen. Doch der Himmel hier war viel gnädiger zu den Fotografen als der in den Alpen mit seinen schnellen Sonnenauf- und -untergängen. Sie hatte schon bald gelernt, dass sie sich hier auf 68 Grad und 42 Minuten nördlicher Breite befand. In der Polarnacht kam die Sonne nicht mehr über den Horizont, dennoch war Licht, magisches Licht, vier bis fünf Stunden lang. Genug Zeit für Hunderte, ja Tausende von Fotos. Genug Zeit für einen weiteren Kaffee, den die Norweger ja literweise tranken. Es war ein klarer Tag, es würde heute heller werden als an den Tagen zuvor. Irmi beschloss, zum Hafen zu schlendern, durch die Stadt, die immer blauer wurde, und zwar nicht nur wegen des Himmelsspektakels. Zur Jahrtausendwende hatte der Künstler Bjørn Elvenes nämlich ein Projekt entwickelt, mit dem aus Sortland, dem »schwarzen Land«, eine »blaue Stadt« werden sollte, Blåbyen. Er entwarf eine Farbpalette und begann die Häuser Sortlands in verschiedenen Blautönen zu streichen. Sortland war zu diesem Zeitpunkt nicht gerade ein Vorzeigestädtchen, und der Künstler wollte mit seiner Aktion die depressive Stimmung wegmalen. Die Stadtväter hatten sich für besonders clever gehalten und dafür Industriefarbe zur Verfügung gestellt, die billiger war. Der Künstler klagte wegen der mangelnden Qualität, es gab ein langes Hin und Her - nun wurde schließlich weitergemalt, in diversen Blautönen. Letztlich herrschten auch hier am Weltenende, an der Kante des Universums, Bauernschläue und die Macht des Geldes. Am Hafen lag die »Arctic Whale«, eine Gruppe von Touristen hatte aufgeregt das Deck gestürmt. Winter Whale Watching Tours waren etwas ganz Neues, ebenso die Wintergäste, die Pauschalreisen hierher buchten. Denn wer fuhr schon freiwillig im Winter nach Nordnorwegen? Irmi hatte es gewagt, sie war an einem windigen Tag Anfang Januar nach Kopenhagen, von da aus nach Oslo und weiter nach Narvik geflogen. Das Weihnachtsfest hatte sie knapp überstanden, aber auch nur, weil Bernhard so gar keine Antennen für seine Schwester hatte oder haben wollte. Am 6. Januar hatte sie die Krippe weggepackt, die alte Krippe mit den versehrten Figuren, wie es sie in vielen Familien gab. Den Hirten waren die Arme schon vor vielen Jahren abgebrochen. Der eine von ihnen trug eigentlich ein Holzbündel auf der Schulter, aber ohne Arm ging das schlecht. Irmi hatte ihn immer wieder angeklebt, doch sobald sie das Holzbündel hineingeschoben hatte, löste sich der Arm wieder. Nun hatte der arme armlose Hirte keinen Job mehr. Einer der Heiligen Drei Könige hat sein Bein verloren. Wie wanderte man als Einbeiniger aus dem Morgenland heran? Der Esel war ein Dreibein, und einer der Engel hatte sich seiner Laute entledigt. Da war das Frohlocken auch nicht mehr das, was es mal gewesen war. Versehrt und arbeitslos waren sie, diese Figuren. Die lange Wartezeit im Sommer setzte ihnen zu, denn irgendwann räumte man die Kiste im Speicher eben doch um, stellte eine andere darüber - und schon gab es neue Versehrte. Als Irmi dieses Jahr ihr Krippenvölkchen wegpackte, begann sie zu weinen, sie konnte gar nicht mehr damit aufhören. Warum war das Leben so ungerecht? Es gab immer neue Verletzungen, es ging mit großen Schritten dem Alter entgegen, das einem die Mutter nahm, den Vater, die Freunde. Es war düster in Irmis Seele. Zwei Tage lang spürte sie gar nichts, dann regte sich in ihr ein Fluchtreflex. Wieder einmal besuchte sie Adele, berichtete ihr von einer Freundin, die sie besuchen wolle. Ausgerechnet hinter dem Polarkreis. Doch letztlich hatte Adele ihr zugeraten. Adele war ihre Therapeutin. Niemals hätte Irmi gedacht, dass sie mal zu so einer Seelenklempnerin gehen würde. Sie musste lächeln, während sie da im Sortland Hotell saß und an Adele dachte. Das Klempnerhandwerk passte so gar nicht zu Adele Renner mit ihrer leicht entrückten Weltfremdheit. Dafür war sie mit ihrer sanften und liebevollen Art gar nicht handfest genug. Als Irmi sich irgendwann eingestanden hatte, dass ihre Schlafstörungen, ihre für sie selbst unfassbare Bedrücktheit mitten an bunten Sonnentagen das Maß des Erträglichen überstiegen hatten, war es fast schon zu spät gewesen. Sie hatte ihr sprachloses Entsetzen selber nicht verstanden, sie hatte die Bilder gesehen, die immer wieder in ihrem Inneren auftauchten, aber sie hatte mit niemandem darüber reden können. Ein gemeinsames Wochenende mit Jens, bei dem sie ihn nur noch angepflaumt und jeden seiner Blicke und Gesten falsch gedeutet hatte, war die Initialzündung gewesen. Sie konnte sich selbst zerstören, aber doch nicht die Menschen, die sie liebten. Man durfte den Besten nicht immer die schlechtesten Seiten zumuten. Aber genau das hatte sie getan. Und so war sie an die zierliche und alterslose Adele gelangt. Weit weg von Garmisch, im Allgäu draußen, weil man sie dort nicht kannte. Adele hatte sie nicht belabert, hatte keine Gemeinplätze von sich gegeben, keine Plattitüden, aber auch nicht die ganze Zeit geschwiegen. Stattdessen hatte Adele ihr eine EMDR-Therapie angeboten, das sogenannte Eye Movement Desensitization and Reprocessing, zu Deutsch »Augenbewegungsdesensibilisierung und Wiederaufarbeitung«. So lautete die etwas sperrige Bezeichnung für eine Methode, bei der eine traumatisierte Person eine besonders belastende Phase ihres traumatischen Erlebnisses gedanklich einfrieren soll, während der Therapeut den Klienten mit langsamen Fingerbewegungen zu rhythmischen Augenbewegungen anhält. Irmi kam das alles zwar etwas merkwürdig vor, aber sie akzeptierte zum ersten Mal, dass sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt. Sie begriff, dass das Eingesperrtsein mit einem Rentierschädel in einem dunklen Bunker, dass diese Todesangst, die sie dort empfunden hatte, eben doch tiefe Schäden in ihr hinterlassen hatte. Und weil die Methode des EMDR nach dem Tsunami im Indischen Ozean 2004 bei den Überlebenden so gut funktioniert hatte, vertraute Irmi dieser kleinen Frau. Vielleicht auch, weil diese selbst so unperfekt wirkte. Adele hatte sich Irmis Reisepläne angehört und sie letztlich gutgeheißen, trotz des merkwürdigen Ziels. Kathi hingegen hatte Irmi angesehen, als sei sie geistesgestört, als sie ihr erzählte, dass sie mitten im Winter nach Nordnorwegen fahren wollte. »Was willst du denn auf einer windgepeitschten Insel am verschissensten Arsch der Welt? Da wird ja selbst ein Bauerntrampel wie du depressiv«, hatte sie gesagt. Von Irmis Therapie wusste sie ja nichts. Irmi hatte nur gutmütig gelacht. Eigentlich sollte die Reise ihre Schwermut ja eher vertreiben. Kathi hatte ihr zu Ayurveda in Sri Lanka oder zumindest zu »so einem Wellness-Chichi auf Malle« geraten. Doch Irmi war nordwärts geflogen. Wieder trank sie einen Schluck von ihrem Kaffee und winkte einem Mann auf dem Schiff zu. Sie selbst hatte kürzlich auch so eine winterliche Whale Watching Tour mitgemacht, mit Ssemjon, der seinen Namen den Eltern zu verdanken hatte, die glühende Tolstoi-Anhänger waren. Ssemjon war Deutscher und hatte ein Guesthouse an einer windigen Inselspitze. Er war extrem wetterfest und voller Euphorie. Auch Irmi hatte sich nach einiger Zeit den Norwegern angepasst und trug nun über ihren ohnehin schon warmen Klamotten einen dieser typischen Overalls. Schmeichelhaft für die Figur waren sie nicht gerade, denn sie machten einen zum Michelinmännchen oder Öltank. Aber nicht umsonst hatte das halbe Land sie - sie waren wattiert, wasserfest, winddicht. Mit dem Schiff waren sie bis in den engen Trollfjord eingefahren, dessen Ende zugefroren war. Irmi war es fast unglaublich erschienen, dass die Schiffe der Hurtigruten hier wenden konnten. Seeadler hatten über dem Boot gekreist, das Licht hatte Feuersbrunst am Himmel gespielt. Sortland war Anlegestation, und immer wenn eines der stolzen weißen Schiffe der Hurtigruten kam, blieben Autos auf der Brücke stehen, und es wurde fotografiert. »Man hat schon ein Halteverbot auf der Brücke diskutiert«, hatte Ssemjon erklärt. »Doch der Antrag wurde abgeschmettert: Die Hurtigruten ist ein Teil der nationalen Identität, so viel Zeit muss eben sein!« Und Zeit hatte Irmi genug in dieser anderen Welt, die sich aus Eis und Wind, aus Licht und so viel Dunkelheit jeden Tag neu erschuf. Ihre Finger waren bei der Whale Watching Tour an Deck des Schiffes zusehends zu Eiskrallen geworden, aber sie hatte den Auslöser der Kamera, die Kathi ihr mitgegeben hatte, nicht loslassen können. Ein Lob auf die Michelinmännchenbekleidung. Nur Ssemjon hatte ohne Mütze im Wind gestanden und gelächelt, weil er fand, dass seine Wahlheimat der schönste Platz der Welt war, gerade jetzt, wo die Fjordberge immer schwärzer wurden. Und es schon um drei Uhr nachmittags Nacht wurde. Irmi verstand ihn gut. Erst nach einiger Zeit hatte sie den Rhythmus hier begriffen, die Welt war langsamer geworden, nichts zählte mehr, nur das Licht, das zauberhafte, betörende Licht. Nachdem Irmi ihre Einkäufe erledigt hatte, fuhr sie zurück nach Bø, an jenem Berg vorbei, der wie ein Spaten aussah. Es war stockdunkel, als sie nach gut einer Stunde Fahrt über kurvige Sträßchen im Guesthouse in Ringstad ankam, ihrem Zuhause auf Zeit. Vom offenen Meer blies ein scharfer Wind in den Vesterålsfjord herein, und es riss ihr fast die Tür aus der Hand, als sie die Tüten ins Haus schleppte. Kaum hatte sie alles eingeräumt, da klingelte das Schnurlostelefon, das auf der Theke lag. Sie hob ab und verstand erst gar nichts. Es war Kathi. Wie war sie an ihre Telefonnummer gekommen? Es rauschte, fast wie der Wind draußen. Immer wieder brach Kathis Stimme ab. Nur eines war ganz klar zu verstehen: »Du musst zurückkommen.« Irmi begab sich mit dem Mobilteil näher zur Ladestation, und das Rauschen wurde zu einem Rascheln. »Erzähl das bitte noch mal. Ich kann dich nur ganz schlecht verstehen«, sagte Irmi und starrte auf ein grandioses Foto an der Wand, das ihr Domizil am Wasser zeigte. Darüber war das Nordlicht zu sehen, Aurora borealis genannt - ein Spektakel, das süchtig machte. Das Foto war nur eines von vielen, die Ian aus seiner schwarzen Kamera zaubern konnte. Seine Bilder konnten einen zu Tränen rühren, so schön waren sie. Irmi hatte Carina und Ian vor einigen Jahren in Garmisch kennengelernt, wo sie Urlaub gemacht hatten - voller Sehnsucht nach unberührter Natur, von der sie im Ruhrgebiet, wo sie damals wohnten, nicht genug finden konnten. Inzwischen hatten die beiden eine alte Handelsstation in der Inselwelt der Vesterålen gepachtet, in der sie Zimmer vermieteten, und sie hatten Irmi per E-Mail herzlich dorthin eingeladen. Ian veranstaltete nicht nur Schneeschuhwanderungen, Touren mit dem Winterkajak und Adlersafaris, sondern auch großartige Fotokurse, die irgendwo im Nirgendwo einer Bucht hinter den Schären stattfanden. Er hatte Irmi ein paar Privatstunden gegeben und ihr dabei erklärt, dass es nur einen hassenswerten Buchstaben im Alphabet gebe: P wie Programmautomatik. Ian war ein Magier der Blende und gab sein Wissen gern weiter. Selbst Irmi hatte am Ende spektakuläre Fotos gemacht. Die würden ihr bleiben, auch wenn sie wieder in Deutschland wäre. Doch was wollte Kathi von ihr? Der Bericht ihrer Kollegin war schnörkellos. Es ging um einen Tennenbrand in Unterammergau. Um zwei Tote im Silo und zwei Alte, die nicht zu Schaden gekommen waren. Kathis Rede wurde immer wieder unterbrochen von einem kaum vernehmbaren Schlucken. »Der Chef und die Staatsanwaltschaft wollen jemanden von außen holen, weil du nicht da bist. Jemanden aus München.« Wieder eine kurze Pause. »Wir brauchen hier niemanden aus München. Ich hab gesagt, dass du zurückkommst. Ich, ach ... Ich war mir sicher, dass du zurückkommst.« Es blieb still am anderen Ende der Leitung. In der Küche klapperte irgendwer mit Geschirr. »Aber jetzt nicht mehr?«, fragte Irmi. »Jetzt bist du dir nicht mehr sicher?« »Nein, ich hätte dich nicht stören dürfen. Es ist absurd, ich ...« Es kam Irmi vor, als sei Kathi überraschend stark aus der Bahn geworfen. Sie war fast schon beklemmend leise und zurückgenommen. War das »ihre« Kathi, die sagte: »Ich hätte dich nicht stören dürfen«? Kathi, das Sturmtief? Kathi, Taifun und Tornado in Personalunion? Das Mobilteil des Telefons begann zu piepsen, schrill und nervtötend. »Kathi, ich ruf sofort zurück. Ich glaube, der Akku gibt gerade auf.« Klack. Irmi ging die steile Treppe hinauf in ihr Zimmer, das ihr in den letzten drei Wochen zum Zuhause geworden war. Es dauerte eine Weile, bis sie ihr Handy gefunden hatte, es steckte oben im Koffer, in der Deckeltasche, in die sie gebrauchte Wäsche zu stecken pflegte. Sie schaltete es ein, und mit dem Aufflackern des Bildschirms, mit diesem Startton, den sie nun schon so lange nicht mehr gehört hatte, passierte etwas in ihr. Es war wie ein Ruck, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Da war sie wieder: Irmi Mangold, Hauptkommissarin aus Schwaigen in Oberbayern. Sie ging ins Bad und schaute in den Spiegel, der zu hoch hing - dabei war sie wahrlich nicht klein. Sie reckte sich ihrem Spiegelbild entgegen und lächelte wieder. Auf einmal war es so mühelos. Als wäre es das Einfachste der Welt. Der Weg lag klar vor ihr, ein Weg, den sie schon verloren geglaubt hatte. Sie ging hinaus auf die steile Außentreppe, denn drinnen unter dem Dach war kein Empfang. Sie wählte eine Nummer und hatte im nächsten Moment ihren Chef am Apparat. Sie redeten ein paar Minuten. »Wir brauchen niemanden aus München«, lautete Irmis letzter Satz. Dann rief sie Kathi zurück. »Ihr müsst mit Hochdruck an der Identifizierung arbeiten. Es wird ein klein wenig dauern, bis ich zu Hause bin. Der Weg vom Polarkreis zurück in die Welt zieht sich.« Irmi lachte. Die Tränen traten ihr in die Augen, sie war so dankbar, so demütig. Wie oft hatte sie diesen Moment herbeigesehnt, den Moment, an dem sie sich wieder spüren würde, eine Irmi mit klaren Gedanken und klarem Blick. Sie hatte versucht, die Normalität herbeizukämpfen. Dann war sie wieder in ein tiefes Loch gefallen und hatte darüber nachgedacht, was eine berufsunfähige Polizistin wohl tun könnte. An der Supermarktkasse arbeiten? Oder putzen gehen? Dabei hasste sie Putzen! Und nun war es auf einmal so leicht, ohne Vorwarnung, ohne Kampf. Was Kathi erzählt hatte, war grausam und gruselig. Aber Irmi freute sich, denn das war es doch, was ihr Leben ausmachte. Sie musste forschen und wühlen in den Exkrementen menschlicher Leben, und diesmal freute sie sich darauf. Nicht auf die Exkremente, aber darauf, das zu tun, was sie konnte: genau hinsehen, genau hinhören. »Du kommst?« Kathi klang ungläubig. »Was für eine Frage! Wir reden von Unterammergau. Das ist ein Dorf voller Gallier. Da brauchen wir keine Münchner.« Wir - es jubelte in ihr. Wir, wir, wir. »Puh, da bin ich aber froh. He, du alter Bauerntrampel, du hast mir gefehlt«, sagte Kathi leise, und es klang ein wenig so, als schniefte sie. Natürlich war der Abschied am nächsten Tag etwas wehmütig. Ein letztes Mal war Irmi mit Carina in Straume im Supermarkt, bevor sie am Abend fliegen würde. Sie waren in der kleinen Kunstgalerie, bei der Tankstelle und auf der Post gewesen. Dann waren sie weiter nach Bø in einen Haushaltswarenladen gefahren, und während Carina wieder irgendwas suchte, hatte Irmi eine Abschiedstour zu ihrem Lieblingsplatz gemacht, einer eindrucksvollen Skulptur mit dem Titel »Der Mann vom Meer«. Auf dem Weg dorthin kam sie an den voll behängten Gestellen mit Stockfisch vorbei, der insgesamt sicher zwei Millionen Euro wert war, wenn es sich um Fisch der besten Qualität handelte. Sie legte einen Abstecher in das kleine Museum ein, das vor allem Regine Norman gewidmet war, einer mutigen Frau, deren bösartiger Mann ihr das Schreiben hatte verbieten wollen. Deshalb hatte sie heimlich in einer Höhle geschrieben, bevor sie schließlich vor ihm geflohen war. 1913 war sie die erste Norwegerin gewesen, die sich scheiden ließ. Im Museum war auch ein Christbaum aufgestellt, wie ihn die Menschen hier oben früher selbst angefertigt hatten. Da es auf den Inseln keine üppigen Wälder mit Nadelbäumen wie in Irmis Heimat gab, hatten die armen Fischer Löcher in einen Birkenstamm gebohrt und Wacholderzweige hineingesteckt. Schließlich erreichte sie den »Mann vom Meer«, eines von dreiunddreißig Land-Art-Kunstwerken im Nordland. Die gusseiserne Skulptur blickte über Inseln, die einst bewohnt gewesen waren, deren Menschen aber 1950 umgesiedelt wurden, weil der Staat nicht wegen ein paar Insulanern Wasser und Strom dorthin legen lassen wollte. Der über vier Meter lange Mann stand fest verankert da. Sein starkes Rückgrat war dem Wasser abgewandt. In die Rückseite der Skulptur war eine kleine Frauenfigur aus Gold eingelassen. Irmi blickte in den Himmel, der inzwischen dunkelrot geworden war, und nickte der goldenen Frau zu. Frauen stärkten Männern den Rücken. Sie dachte an Jens, den sie über ihre Auszeit informiert hatte. Ja, es war ein formelles Informieren gewesen, eine Art Abwesenheitsnotiz für Geschäftsfreunde. So redete man nicht mit dem Mann, den man liebte. Jens wusste zwar als Einziger, dass Irmi sich Hilfe geholt hatte, aber Genaueres wusste er nicht. Er hatte ihr Glück gewünscht und sie gebeten, sich zu melden, wenn es an der Zeit sei. Er werde auf sie warten, ein ganzes Leben. Sie beschloss, ihn von zu Hause aus anzurufen. Später traf sie sich mit Carina in einem Café. Die beiden Freunde würden ihr fehlen. Ian, der Engländer aus Cornwall, der einst in Deutschland beim Militär gewesen war und da schon alles und jeden fotografiert hatte. Als Lastkraftwagenfahrer war er eine Weile im Ruhrgebiet gefangen gewesen, wo er Carina getroffen hatte, die norwegische Fremdsprachensekretärin, auch sie Kind einer vom Wind gepeitschten Insel am Polarkreis. Dass schon heute Abend ein Platz in einem Flug von Narvik nach München mit nur einem Umstieg in Oslo frei gewesen war, kam Irmi wie ein Wink des Schicksals vor. Das würde keine lange Flugexpedition werden wie auf dem Hinweg, als sie mehrmals hatte umsteigen müssen, mit Verspätungen und langen Aufenthalten in irgendwelchen Wartehallen. Ganz so reibungslos ging es dann aber doch nicht vonstatten. Das Flugzeug bekam zunächst keine Starterlaubnis, und die Passagiere lungerten eine ganze Weile auf dem Vorfeld herum. Als sie endlich abgehoben und die Flughöhe erreicht hatten, leuchtete der Himmel. Die Fluggäste hingen alle auf einer Kabinenseite, staunten, stießen spitze Schreie aus, versuchten durch die kleinen Fenster zu fotografieren. Und doch gab das Nordlicht einzig für Irmi ein letztes furioses Spiel. Bis der schwarze Vorhang der Nacht fiel. Sie würde in jedem Fall wiederkommen an dieses Ende der Welt, allein wegen der Aurora borealis. Sie hatte das Nordlicht gesehen und war süchtig geworden. Schon am ersten Tag ihrer Anwesenheit hatte Ian Irmi entführt. Mit der Stirnlampe auf dem Kopf waren sie hinausgegangen, dorthin, wo es knackte und knarzte. Ebbe und Flut arbeiteten im Eis der zugefrorenen Buchten. Ian hatte Schneekristalle aufgehoben, schweigsam und andächtig. Immer wieder hatte er zum Himmel geblickt. Ob es kommen würde? Es verging eine weitere Stunde. War das eine Wolke dort oben? Nein, es war eine gräuliche Schliere, die ganz plötzlich am Himmel erschien. »Das kann der Beginn des Nordlichts sein, sie kann aber auch wieder verschwinden«, hatte Ian gesagt. Irmi hatte den Kopf in den Nacken gelegt und gespürt, wie sie Gänsehaut bekam. Sie wollte es zwingen, wollte das Nordlicht herbeihypnotisieren. Doch die Natur kann man nicht zwingen, wenn der Mensch das nur begreifen würde. Sie hatte tief durchgeatmet und die Schultern entspannt. Langsam waren sie zum Guesthouse zurückgegangen. Auf einmal hatte es begonnen. Die Aurora borealis färbte den Himmel, waberte, formierte sich neu, verlief wieder. Changierte in allen sphärischen Abstufungen von Grün. Verwirrende Schönheit! Der Mensch war so klein dagegen, ein Wicht - und Irmi war so dankbar gewesen. Vom ersten Tag an. Sie war eingetaucht in das norwegische Leben, von Anfang an. Carina hatte eine Weihnachtsfeier nach der anderen zu organisieren gehabt, einige davon hatten erst nach Weihnachten stattgefunden, weil vorher immer so viel los gewesen war. Die Gäste hatten Irmi zugeprostet, sie wusste nur selten, mit dem wievielten Aquavit. In der Küche des Guesthouse hatte der tschechische Koch Lutefisk zubereitet, jene gewöhnungsbedürftige Weihnachtsspezialität, für die der Trockenfisch abwechselnd in Natronlauge und Wasser eingelegt wird. Auch das Essen war mit Aquavit besser zu überstehen, dem alle üppig zusprachen. Man gab Kinderreime zum Besten, zum Beispiel den vom Hühnchen, das einfach tot vom Zaun fiel. Ganz schön makaber für einen Kinderreim, fand Irmi, auch wenn das Hühnchen am Ende zum Engel wurde. Was sollten die Kinder daraus lernen? Die heitere Runde nötigte Irmi, das Gesicht so ins Deutsche zu übersetzen, dass es sich reimte. Irmi gab alles und dichtete: Hühnchen saß auf dem Zaun ganz munter. Hühnchen fiel hinunter. Kein Arzt konnt helfen in der Not, denn Hühnchen war schon tot. Hühnchen kam in den Himmel droben, Hühnchen konnt es dort nur loben. Hühnchen wurd ein Engel schnell in des Himmels Schloss so hell. Die Zuhörer johlten, und Ian heftete Irmi den Vesterålen-Dichterpreis an - in Form einer zerbrochenen Muschel. Diese lag nun im Bauch des Flugzeugs, sicher eingehüllt in eine Stinkesocke in Irmis Koffer. In jenen feuchtfröhlichen Nächten hatte man auch ein Weihnachtslied gesungen, das die Melodie von »Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad« hatte. Irmi summte es leise im Flugzeug vor sich hin und sah dabei noch einmal in die Nacht hinaus. Bestimmt würde sie wiederkommen, aber jetzt hatte sie erst einmal in Bayern zu tun. Daheim! Daheim, endlich! Sie kamen noch später als geplant in München an, weil es zunächst keine Landeerlaubnis gegeben hatte. Zu viel Schnee, hatte es geheißen. Wurde es nicht eigentlich jedes Jahr Winter? Launig hatte der Kapitän damit gedroht, dass er wegen des Nachtflugverbots in München dann wohl in Linz landen müsse. Nachts um elf im Schneesturm in Linz, na, das waren Aussichten! Irgendwie war es ihm dann aber doch noch gelungen, kurz vor knapp in München niederzugehen. Es war nach elf, als Irmi ihr Gepäck hatte, den Ankunftsbereich verließ und gegen eine Wand von Menschen lief. Es war doch immer höchst merkwürdig, wenn man in all die erwartungsfrohen Gesichter sah, in die suchenden Blicke, wenn man die Enttäuschung spürte, dass die eigenen Lieben noch nicht dabei waren. Kathi trug eine kurze grasgrüne Daunenjacke und passende grüne Stiefel und belebte damit das Einerlei an dunklen Wintermänteln. Sie stand etwas abseits und hob die Hand zu einer Art Winken, als sie Irmi entdeckte. Betrachter dachten vermutlich, dass hier eine sehr schlanke Tochter ihre nicht so schlanke Mutter abholte. Die Schlemmerei in Norwegen war nicht gerade ein Diättrip gewesen. »Hei«, sagte Irmi und blieb stehen. Es wäre ihr unpassend vorgekommen, Kathi zu umarmen. »Hei«, sagte Kathi. »Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr.« Während sie über den verzögerten Start und das Nordlicht plauderten, erreichten sie das Auto und wenig später den Autobahnzubringer. Er schneite wirklich wie verrückt, und Kathi fluchte über die »Erzdeppen, die besser daheimbleiben sollten«, und über die »bleden Münchner, die ihren Ring nicht räumen und eh nicht Auto fahren können«. Auf der Garmischer Autobahn lag eine geschlossene Schneedecke, und sie hatten schon die Starnberger Ausfahrt erreicht, als Irmi sich erkundigte: »Weiß man schon was?« Kathi schüttelte den Kopf. »Wenig. Die eine Frau könnte Ionella Adami sein, eine junge Rumänin.« »Rumänin?« »Ja, sie hat bei der Familie, wo die Tenne abgebrannt ist, als Pflegekraft gearbeitet. Du weißt schon, diese Frauen aus Rumänien oder Polen, die ein paar Wochen bleiben, bevor die Nächste kommt. Und so weiter.« Auch wenn schon ein langer Tag hinter ihr lag, war Irmi nun hellwach. Eine junge Rumänin starb in einem Silo in Unterammergau? Und mit ihr eine weitere Person? Weil Irmi gar nichts sagte, fuhr Kathi fort: »Ich hab schon mal kurz mit Andrea und Sailer darüber diskutiert, und die haben gemeint, das sei inzwischen gang und gäbe. Ich war etwas überrascht, weil ich immer gedacht hab, auf den Bauernhöfen funktioniert das noch besser mit dem Generationenvertrag. Ich meine ...« Ach Kathi, dachte Irmi. Auf der Alm, da gibt's koa Sünd, und am Hof, da gibt's koane Probleme ... Da sitzen die Alten im Austragshäusl inmitten von Streuobstwiesen, und die Omama pflegt noch ein wenig den Bauerngarten, und der Opapa fährt noch mit dem alten Dieselross das Wasserfass auf die Weiden. Am Ende schläft die Omama vor einer Kochsendung im BR zum letzten Mal friedlich ein, und der Opapa beendet sein Leben am Hausbankerl. Aber so war es eben nicht mehr! Viele aus der jüngeren Generation waren Nebenerwerbsbauern, hasteten nach der frühen Stallarbeit auf die Baustelle oder in eine Fabrik, und kaum waren sie daheim, war der Stall wieder dran. Ihre Frauen hatten längst Jobs, die schicke Kleidung und Pumps erforderten. Und selbst auf den Höfen, wo der Jungbauer wirtschaftete und die Eltern nebenan lebten, war wenig Raum für Pflege. Meist machte es der Sohn dem Vater nicht recht, und die Alten konnten nicht loslassen. »Wie ist denn die Situation in dieser Familie?«, fragte Irmi möglichst neutral, obwohl es in ihrem Inneren toste. Ihr war jetzt schon klar, dass in diesem Fall jede Menge Sprengstoff lag. »Die Frau ist schwerst dement, der Mann noch recht fit, aber sie sind halt sehr alt, oder! Beide weit über neunzig. Es gibt zwei Söhne, Frauen, Enkel ... Ich hab mal eine Art Stammbaum der Familie Schmid erstellt.« »Super, den schau ich mir morgen mal an. Habt ihr schon alle befragt?« »Noch nicht alle. Natürlich sind die total durch den Wind wegen des Brandes. Die Tenne ist komplett hin. Und keiner weiß, wo Ionella abgeblieben ist. Die Aussagen hab ich zusammengestellt, bisher ist alles noch sehr dünn, und wir warten auf die Identifizierung der Leichen.« »Ist diese Ionella denn als vermisst gemeldet?« »Nein, das nicht. Franz Schmid, der eine Sohn des Alten, und der Enkel Thomas - beides granatenmäßige Ekelpakete - waren der Meinung, die Ionella sei abgehauen, weil das solche ja gerne tun.« Irmi grinste. Ja, sie war schlagartig angekommen in Kathis Sprachwelt. »Solche?« »Na ja, die Herren halten wenig von den ?Weibern aus den Karpaten?. Originalton. Die Familie hat wohl schon einige Mädels verschlissen. So einfach war das offenbar nicht.« Kathi hatte eine so begnadete Art, Kompliziertes in wenigen treffenden Worten zusammenzufassen, dachte Irmi. »Klar ist das nicht einfach«, sagte sie. »Da kommt so ein Mädchen vielleicht wirklich irgendwo aus den Karpaten und soll vierundzwanzig Stunden am Tag präsent sein. Ob sie überhaupt alles versteht ...« »Sicher ned, wenn die so richtig ugauerisch redn«, meinte Kathi grinsend. »Eben. Daran scheitern doch schon die Preißn, und die sind immerhin deutsche Muttersprachler«, konterte Irmi. »Und davon mal abgesehen: Die Alten sind sicher nicht immer lieb und pflegeleicht, und nicht jede dieser jungen Frauen weiß vorher, worauf sie sich da einlässt. Manche werden ihren Vorteil suchen, andere werden viel zu jung und sensibel sein. Da prallt so viel aufeinander!« Irmi war sich bewusst, dass auch die finanzielle Lage in vielen Familien katastrophal war. Bauernrenten waren weniger als Almosen, die Kosten für ein Pflegeheim waren meist nicht aufzubringen. Da war diese Nebenwelt der Pflege oft die einzige Chance, auch wenn die Kinder ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie selbst nicht genug anpackten. Denn tief drinnen wusste die jüngere Generation natürlich, dass die Alten auch deshalb so wenig abgesichert waren, weil sie nie etwas von ihrem Besitz verkauft, sondern immer nur »das Sacherl beieinandgehalten« hatten. Weil sie neue Laufställe für die Kühe zu einem Preis gebaut hatten, für den andere sich eine Villa mit Meerblick auf Malle gekauft hätten. Weil die Kredite wie ein Albdruck über den mit Solarpanels bedeckten Dächern dieser Ställe lagen. Vorsorge war ein Unwort gewesen, und auf einmal war die Quittung da. Diese Ostmädels waren die einzige Chance. Irmi wusste das, sie kannte das aus einigen Familien, wo sich Rumäninnen und Polinnen die Klinken in die Hand gaben. Ihre eigenen Eltern waren zu Hause gestorben, sie und Bernhard hatten letztlich Glück gehabt. Vater und Mutter waren ohne lange Leidenszeit gegangen. Ihre Mutter fehlte ihr plötzlich so sehr. Die Trauer war wie ein böser Stich, der sie in unregelmäßigen Abständen quälte. Es tat noch immer sehr weh, und das würde wohl ewig so bleiben. »Wurde denn sonst noch etwas Verwertbares gefunden?«, fragte Irmi und versuchte sich wieder auf den Fall zu konzentrieren. »Beide Leichen sind Frauen. Das weiß die Gerichtsmedizin ganz sicher«, sagte Kathi zögerlich. »Ach!« »Ehrlich gesagt, hatte ich angenommen, es würde um ein Verhältnis oder so gehen. Ein Lover und seine Geliebte vielleicht.« »Ein Schäferstündchen im Silo? Das ist aber kein guter Platz.« »Und ein Schäferstündchen zwischen zwei Frauen im Silo macht es noch komplizierter«, sagte Kathi. »Und das in Ugau.« Irmi starrte hinaus ins Dunkel. »Sonst noch was?« »Eine der Frauen hatte ein Handy dabei, das ist aber völlig zusammengeschmolzen. Man konnte keine Anrufe oder irgendwelche anderen Daten retten. Es war ein Smartphone von Samsung, immerhin das weiß die KTU. Das war's aber auch schon. Bis jetzt sind keine Vermisstenmeldungen eingegangen. Aber jetzt komm du doch erst mal richtig an, oder!« Als Kathi Irmi in Schwaigen absetzte, war es nach eins. Der Schnee fiel unermüdlich weiter. Irmi bedankte sich und schloss die Haustür auf. Sie stutzte kurz, als sie den Gang betrat. Erst kürzlich hatte er einen neuen Linoleumboden bekommen, der wie Holzdielen aussah, und sie hatte sich noch nicht an den Anblick gewöhnt. Der alte karierte, bei dem an manchen Stellen schon das Jutegewebe herausgekommen war, hatte seinen Dienst ja wirklich getan, aber irgendwie hatte Irmi ihn in Gedanken noch abgespeichert. Sie machte Licht und ging in die Küche. Auf dem Tisch stand ein Schokonikolaus, und daneben lag ein Zettel: »Wellcom, Schwester!« Irmi lächelte, während sie auf einen Stuhl glitt. Das Englische war nicht gerade eine Stärke ihres Bruders. Aber sie war gerührt. Von einem Kissen erhob sich etwas Schwarzes. Katzenbuckel! Der kleine Kater, der schon längst nicht mehr klein war, sondern ein Mordsbrackl geworden war. Er sprang auf den Tisch, gab Irmi einen gewaltigen Nasenstüber, gähnte und begann zu schnurren. Irmi kraulte ihn unterm Kinn. »He, Süßer. Du stinkst ganz schön aus dem Hals!« Sie war daheim. Vom Gang kam ein merkwürdig kratzendes Geräusch. Der alte Kater hatte Irmis Koffer, den sie dort abgestellt hatte, umgeworfen und herzhaft draufgepinkelt. Nun kratzte er ein wenig halbscharig auf diesem neuen Katzenklo herum und bedachte Irmi mit einem vernichtenden Blick. Dann zeigte er ihr das Hinterteil und wackelte in seinem Djangogang davon. Der alte Kater war schwer beleidigt und nicht gerade auf Willkommenskomitee eingestellt. Irmi wischte das Malheur weg. Prima, die erste Amtshandlung daheim war das Eliminieren von Katzenpisse. Einfach großartig!

Erscheint lt. Verlag 10.3.2014
Reihe/Serie Alpen-Krimis
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Allgäu • Alpen • Ammertal • Bestseller • Buch • Bücher • Ermittlerinnenduo • Garmisch • Irmi Mangold • Jörg Maurer • Kathi Reindl • Klüpfel Kobr • Krimi • Kriminalroman • Krimireihe • Regiokrimi • Regionalkrimi • spiegel bestseller • Unterammergau • Urlaubslektüre
ISBN-10 3-492-96662-4 / 3492966624
ISBN-13 978-3-492-96662-7 / 9783492966627
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