Tobys Zimmer (eBook)
400 Seiten
Dörlemann eBook (Verlag)
978-3-908778-38-7 (ISBN)
geboren 1943 in Thornaby-on-Tees, England, erlangte ihren literarischen Ruhm mit der Roman-Trilogie »Regeneration« - Niemandsland, Das Auge in der Tür, Die Straße der Geister (Deutsch von Matthias Fienbork). Pat Barker wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 1995 gewann sie den renommierten Booker-Preis, 2001 erhielt sie den WELT-Literaturpreis. Pat Barker lebt in Durham.
Pat Barker, geboren 1943 in Thornaby-on-Tees, England, erlangte ihren literarischen Ruhm mit der Roman-Trilogie »Regeneration« - Niemandsland, Das Auge in der Tür, Die Straße der Geister (Deutsch von Matthias Fienbork). Pat Barker wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 1995 gewann sie den renommierten Booker-Preis, 2001 erhielt sie den WELT-Literaturpreis. Pat Barker lebt in Durham.
1
Elinor kam am Freitag um vier nach Hause und ging sofort auf ihr Zimmer. Sie hängte das rote Kleid an die Schranktür und warf beim Haarebürsten hin und wieder einen Blick darauf. Der Ausschnitt wurde immer tiefer. Schließlich verließ sie der Mut. Sie kramte ihr rosa Kleid hervor, das sie immer zur Tanzstunde getragen hatte, zog es an und stellte sich vor den Standspiegel. Sie wandte den Kopf hin und her und strich die Falten glatt, die sich um die Taille bildeten. Ach je. Nein, nein, das schaffte sie nicht, nicht schon wieder, nie mehr. Sie wand sich aus dem Kleid und warf es nach hinten in den Kleiderschrank. Aus dem Fenster, das wäre befriedigender gewesen, aber dort saß Vater mit ihrem Schwager auf der Terrasse. Sie schlüpfte ins rote Kleid, zog den Ausschnitt so hoch wie möglich und ging langsam nach unten.
Vater begrüßte sie in der Diele und umarmte sie, als hätte er sie ein Jahr lang nicht gesehen. Vor dem Wohnzimmer zögerte sie, aber wozu ein rotes Kleid anziehen, um dann wie eine Maus an der Fußleiste entlangzukriechen, also stieß sie die Tür auf und rauschte hinein. Sie küsste Rachel, winkte Rachels Mann Tim, der auf der anderen Zimmerseite mit ihrer Mutter sprach, und sah sich dann nach Toby um, aber er war nicht da. Vielleicht kam er doch nicht, obwohl er es angekündigt hatte. Die Aussicht auf seine Abwesenheit trübte den gesamten Abend; ob sie dem allein gewachsen war, wusste sie nicht. Kurz darauf kam Toby und entschuldigte sich überschwänglich, das feuchte Haar klebte ihm an der Stirn. Er war wohl schwimmen gewesen. Hätte sie das gewusst, sie wäre mitgegangen. Jetzt bestand wenig Hoffnung auf ein Gespräch; Mutter beanspruchte ihn bereits für sich.
Rachel bedrängte Elinor mit Fragen nach ihrem Leben in London, wen sie kennengelernt habe, mit wem sie ausgehe, ob sie besondere Freunde habe. Elinor antwortete so knapp wie möglich und wartete auf einen Vorwand, um sich zu entziehen. Den lieferte ihre Mutter, die auf sie zuging und zischte: »Elinor, geh auf der Stelle nach oben und zieh dieses lächerliche Kleid aus.«
In diesem Augenblick ertönte der Gong. Elinor spreizte die Finger, ganz gekränkte Unschuld, insgeheim fühlte sie sich verletzt und gedemütigt. Wieder einmal wurde sie behandelt wie ein Kind.
Vater kam erst, als sie sich bereits zu Tisch setzten. Was war es doch für eine merkwürdige Mischung aus Neugier und Verstohlenheit, die das Familienleben prägte. Mutter und Vater sahen sich selten. Sie brauchte die Landluft für ihre Gesundheit, er wohnte im Club, weil der so bequem fußläufig zum Krankenhaus lag, wo er oft spätabends gebraucht wurde. War das der Grund für ihre einwöchigen Trennungen? Elinor hatte ihre Zweifel. Beim Überqueren der Tottenham Court Road hatte sie ihren Vater mit einer jungen Frau gesehen, jünger als Rachel. Sie waren gerade aus einem Restaurant gekommen. Die Frau stand da und zog sich die Stola straff um die schmalen Schultern, während Vater ein Taxi herbeiwinkte und ihr hineinhalf, dann verschwanden sie im Verkehrsstrudel. Elinor hatte mit offenem Mund zugesehen. Vater hatte sie nicht bemerkt; ganz sicher nicht. Sie hatte diese Begebenheit niemandem, nicht mal Toby gegenüber erwähnt, obwohl Toby und sie die Einzigen in der Familie waren, die keine Geheimnisse voreinander hatten.
Sie verbrachte die erste Hälfte der Mahlzeit mehr oder weniger schweigend – eingeschnappt, wie ihre Mutter sagen würde –, obwohl Tim unbeholfen sein Bestes tat, sie herauszukitzeln. Ob sie schon einen jungen Mann habe? Ob sie aus lauter Verliebtheit so launisch sei?
»Dafür ist gar keine Zeit«, sagte Elinor schnippisch. »So, wie die uns schinden.«
»Na, du weißt ja, Arbeit allein …, nicht wahr?« Er wandte sich an Toby. »Hast du sie schon mal mit jemandem zusammen gesehen?«
»Noch nicht, aber das ist bestimmt nur eine Frage der Zeit.«
Dass Toby, wenn auch zögernd, auf die Frotzeleien einging, hatte ihr gerade noch gefehlt, ihre Gereiztheit schlug in Wut um.
»Also, wenn ihr es denn unbedingt wissen wollt, ich habe jemanden kennengelernt.« Sie griff einen Namen aus der Luft. »Kit Neville.«
Das stimmte nicht: Sie hatte noch kaum mit Kit Neville gesprochen. Er war nur einfach der lauteste, selbstbewussteste, großspurigste und in vielerlei Hinsicht unausstehlichste Student ihres Jahrgangs und daher die Person, die ihr als Erstes in den Sinn kam.
»Was macht er?«, fragte Mutter. Natürlich.
»Er ist Student.«
»Was studiert er denn?«
»Kunst. Was macht man sonst an der Slade?«
»Hast du schon seine Familie kennengelernt?«
»Wie käme ich denn bitte dazu?«
»Das tut man so, wenn –«
»Wenn man sich verlobt? Das habe ich nicht vor. Wir sind lediglich Freunde. Sehr gute Freunde, aber … Freunde.«
»Du musst dich vorsehen, Elinor«, sagte Rachel. »So allein in London. Damit du dir keinen Ruf einhandelst …«
»Ganz zufällig hätte ich aber gern einen Ruf. Einen Ruf als Malerin.«
»Du weißt, was ich meine.«
»Ach, Himmel noch mal.«
»Elinor«, sagte ihr Vater. »Es reicht.«
Selbst Vater wandte sich also gegen sie. Mit dem letzten Bissen Käse und Cracker in der trockenen Kehle folgte Elinor ihrer Mutter und Rachel aus dem Esszimmer. Sie saßen bei einer Kanne Kaffee, den niemand wollte, und betrachteten ihre Spiegelbilder in den dunklen Fenstern, die auf die stickige Terrasse hinausgingen. Die Fenster durften wegen der Motten nicht geöffnet werden. Rachel graute vor Motten.
»Also, wer ist dieser Mr Neville?«, fragte Mutter.
»Niemand, er ist in meinem Jahrgang, sonst nichts.«
»Hattest du nicht erzählt, ihr hättet keine gemischten Kurse?«
»Mal so, mal so.« Vor lauter Verdruss brachte sie kaum ein Wort heraus; das hatte sie sich selbst eingebrockt. »Also, es ist ja nicht so, als wären wir zusammen …«
»Wozu erwähnst du ihn dann?« Rachel nuschelte vor Müdigkeit. Feuchte Haarsträhnen klebten ihr an der Stirn; sie hatte kaum etwas gegessen. Gähnend streckte sie die Füße von sich. »Seht euch diese Knöchel an. Pudding.« Sie grub die Finger in das aufgedunsene Fleisch, als würde es sie abstoßen.
»Die Hitze nimmt dich sicher mit«, sagte Mutter. »Leg doch die Füße hoch.«
Füße hoch im Salon? Unerhört. Als Elinor einen Blick zwischen den beiden Frauen auffing, begriff sie. Und fragte sich, wann man es ihr sagen würde. Wie typisch doch das Schweigen für diese Familie war. Sie wollte auf den Tisch hüpfen und all die jämmerlichen kleinen Geheimnisse herausbrüllen, allerdings fielen ihr außer dem Scheitern der elterlichen Ehe gar keine Geheimnisse ein. Aber es gab etwas: einen Schatten unter dem Wasser. Schwamm man zu nah ran, schnitt man sich die Füße auf. Eine Kindheitserinnerung kam hoch. Irgendwo im Urlaub hatte sie sich an einem Felsen unter Wasser den Fuß geschnitten; sie hatte keinen Schmerz empfunden, nur den Schreck, als ihr Blut im Wasser aufwölkte. Toby hatte sein Hemd ausgezogen und ihr um den Fuß gewickelt und sie dann zur Promenade zurückgebracht. Sie erinnerte sich an seine rosa Finger, runzlig vom Meer, und den Haarwirbel auf seinem Kopf, als er sich zu dem Schnitt hinunterbeugte.
Warum ließ man sie nicht einfach in Ruhe? Dieser ganze Unsinn über junge Männer … Das diente doch nur wieder dazu, einem einzuhämmern, dass die eigentliche Aufgabe einer jungen Frau darin bestand, sich einen Ehemann zu suchen. Die Malerei war im günstigsten Fall eine Fertigkeit, im ungünstigsten Zeitverschwendung. Sie versuchte, an ihrer Wut festzuhalten, aber sie hatte sie so lange unterdrückt, dass sie in Depression umzuschlagen drohte. Wie so oft. Warum hatte sich Toby nicht für sie eingesetzt? Statt einfach nur dazusitzen und mit Messer und Gabel zu spielen.
Sie hatte es gründlich satt. Nachdem die Männer sich zu ihnen gesellt hatten, zog sie sich so bald wie möglich zurück; sie wolle früh schlafen gehen.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, hörte sie Vater fragen: »Was ist los mit ihr?«
»Ach«, sagte Mutter. »Mädchen.«
Und das hieß? Nichts, was sie mit sich selbst versöhnte. Oder mit ihnen.
Am nächsten Morgen verkündete Toby nach dem Frühstück, er wolle zur alten Mühle laufen.
»Bei dieser Hitze?«, fragte Mutter.
»So schlimm ist es nicht. Außerdem ist es kühler am Fluss.«
Elinor folgte ihm in die Diele. »Hast du was dagegen, wenn ich mitkomme?«
»Es ist weit.«
»Toby, ich laufe kreuz und quer durch London.«
»Lass das nicht Rachel hören. Der gu-te Ruf!«
Sie trafen sich auf der Terrasse. Kurz darauf ging Elinor mit ihrem Bruder über die Wiese und fühlte die seidene Liebkosung der langen Grashalme an ihren bloßen Armen und von Zeit zu Zeit einen Kälteschock durch Kuckucksspeichel.
»Dieser Kerl, von dem du gestern Abend sprachst …«
»Ach, fang nicht wieder damit an.«
»Ich frag ja nur.«
»Ich habe ihn nur erwähnt, weil ich die Hänseleien satthatte. Ich wollte mir Tim vom Hals halten. Stattdessen hatte ich Mutter dran.«
»Und Rachel.«
»Sie ist schlimmer als Mutter.«
»Sie ist bloß eifersüchtig. Sie hat sich zu früh gebunden und … Na ja, einen guten Fang hat sie ja auch nicht gerade gemacht.«
»Du magst Tim nicht, oder?«
»Er ist harmlos. Ich glaube einfach nicht, dass sie besonders glücklich ist.« Er drehte sich zu ihr um. »Den Fehler machst du doch nicht, oder?«
»Tim zu heiraten? Eher nicht.«
»Neiiin. Dich zu früh zu binden.«
»Ich habe nicht vor, mich überhaupt zu ›binden‹.«
Sie hoffte, damit sei das Thema erledigt, aber...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2014 |
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Übersetzer | Miriam Mandelkow |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1. Weltkrieg • Krieg • Kunst • Liebe • Trauer |
ISBN-10 | 3-908778-38-7 / 3908778387 |
ISBN-13 | 978-3-908778-38-7 / 9783908778387 |
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