Tage des letzten Schnees (eBook)

Ein Kimmo-Joentaa-Roman
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
320 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30750-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tage des letzten Schnees -  Jan Costin Wagner
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Die Morde, die jeder begeht Anfang Mai, im finnischen Turku fällt der letzte Schnee. Kimmo Joentaa wird gleich zwei Mal gerufen: an einen Unfallort, an dem eine Elfjährige durch einen Unbekannten ums Leben gekommen ist, und an einen Tatort, an dem zwei unbekannte Tote auf einer Parkbank liegen, als würden sie schlafen. Für den Vater des bei dem Unfall verstorbenen Mädchens wird Kimmo Joentaa zum Begleiter in der Trauer, während er gleichzeitig daran arbeitet, die Unfallflucht und den Doppelmord aufzuklären. Die Ermittlung führt Joentaa in ein fatales Beziehungsgeflecht, das Menschen, die ursprünglich nichts verband, schicksalhaft zusammengeführt hat: einen Architekten, der den festen Glauben an die Symmetrie des Lebens verliert, einen Schüler, der unaufhaltsam auf einen Amoklauf zusteuert, eine junge Frau, die versucht, der Armut zu entkommen, und einen Investmentbanker, der sich im Dickicht seines Doppellebens verliert. Als Kimmo Joentaa die Linien, die diese Menschen verbinden, schließlich zu erkennen beginnt, ist es fast zu spät. Und erst dann begreift er, dass seine große Aufgabe nicht die Suche nach einem Doppelmörder ist, sondern eine, die ihm noch bevorsteht ...

Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert, vielfach ausgezeichnet (u. a. Deutscher Krimipreis, Nominierung zum Los Angeles Times Book Prize) und in 14 Sprachen übersetzt. Tage des letzten Schnees und Das Licht in einem dunklen Haus wurden 2019 und 2022 vom ZDF u.a. mit Henry Hübchen und Bjarne Mädel verfilmt. Sommer bei Nacht erhielt den Radio Bremen Krimipreis, Am roten Strand ist nominiert für den Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi. 

Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert, vielfach ausgezeichnet (u. a. Deutscher Krimipreis, Nominierung zum Los Angeles Times Book Prize) und in 14 Sprachen übersetzt. Tage des letzten Schnees und Das Licht in einem dunklen Haus wurden 2019 und 2022 vom ZDF u.a. mit Henry Hübchen und Bjarne Mädel verfilmt. Sommer bei Nacht erhielt den Radio Bremen Krimipreis, Am roten Strand ist nominiert für den Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi. 

Erster Teil


Mai


1


Am ersten Mai fiel der letzte Schnee.

Das hatte der Wetterbericht so vorhergesagt, und so war es gekommen. Lasse Ekholm steuerte den Wagen vom Parkplatz auf die Straße und betrachtete den Himmel, aus dem die dicken weißen Flocken fielen, die in diesem Monat nichts verloren hatten.

Er dachte darüber nach, dass im Zusammentreffen des ersten Tages mit dem letzten Schnee eine Symmetrie verborgen lag. Eine Symmetrie, die schlüssig und schön war, weil sie auf asymmetrischen Komponenten beruhte. Das Erste und das Letzte, Anfang und Ende, verschmolzen zu einer Einheit … allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Wetterbericht recht behalten und es tatsächlich der letzte Schnee sein würde, bevor der Sommer kam.

Der Wagen glitt über die weiche Schneedecke, und er öffnete das Handschuhfach, ohne die weiße Straße aus den Augen zu lassen. Er nahm die CD heraus, die Anna zusammengestellt hatte, Musik, mit der er nichts anfangen konnte, die er nicht verstand, aber Anna verstand sie und versuchte meistens, ihm zu erklären, worin der tiefere Sinn der hektischen Rhythmuswechsel bestand. Er legte die CD ein und wählte das einzige Stück, das er mochte, das mit Abstand ruhigste, dunkle Bässe auf einem warmen Klangteppich.

»Das gefällt mir«, sagte er immer zu Anna, wenn dieses Stück lief, und Anna lachte und antwortete, das sei wohl kein Wunder, da es sich um den Retro-Mix eines 80er-Jahre-Klassikers handle, und Lasse Ekholm fragte sich, woher sie diese Worte kannte – Retro-Mix … 80er-Jahre-Klassiker …

Er parkte auf dem weiten Platz vor der Eishalle und freute sich darauf, sie gleich zu sehen, während er durch den Flockenwirbel auf den Eingang zulief. Drinnen war es warm, und er hörte schon die durchdringende Stimme von Elina, der Trainerin, die es sich nicht hatte nehmen lassen, am ersten Mai, einen Tag nach dem Vappu-Fest, wenn normale Menschen ihren Rausch ausschliefen, zum Training zu bitten. Und er hörte die kreischenden Stimmen der Mädchen, die sich herzlich wenig für Anweisungen zu interessieren schienen. Anna in ihrem viel zu großen Trikot jagte dem Puck hinterher, ohne dabei augenscheinlich taktischen Vorgaben zu entsprechen. Sie führte den Puck, zunächst erfolgreich, bis drei Gegenspielerinnen entscheidend die Laufwege verkleinerten und sie zu Boden fiel und sich das Knie hielt. Ekholm schloss die Augen und spürte die Angst, die er immer spürte, wenn er Anna zusah. Eine Angst, die der Freude darüber, dass sie so gerne Eishockey spielte wie er früher, entgegenstand.

Er dachte an die strengen Blicke, die Kirsti ihm zuwerfen würde, wenn sie den blauen Fleck verarzten und Anna in ungebrochen guter Laune ins Bett humpeln würde. Vielleicht würde er ein weiteres Mal versuchen, Kirsti davon zu überzeugen, dass er mit Annas Begeisterung für diesen Sport nicht das Geringste zu tun hatte, und Kirsti würde ihm ein weiteres Mal nicht glauben, obwohl es stimmte.

Er freute sich einerseits jedes Mal darüber, Anna spielen zu sehen, hatte aber andererseits vermutlich noch größere Angst als Kirsti davor, dass sie sich irgendwann verletzen würde, zumal ihn ihre Spielweise sehr an die erinnerte, die seine eigene gewesen war – auch er war immer da hingegangen, wo es wehtat, und hatte aus Prinzip den Puck nur abgespielt, wenn es sich gar nicht hatte vermeiden lassen.

Anna hatte zwei gute Tormöglichkeiten, während er zusah, und fiel noch drei Mal auf eine Weise aufs Eis, die ihn ein wenig ins Schwitzen brachte. Aber sie stand immer wieder auf und sagte »Ach, Papa«, als er sie am Ende des Trainings fragte, ob noch alle Knochen dran seien.

»Dann ist ja gut«, sagte er.

»Gar nicht gut. Ich habe zwei Mal die Latte getroffen. Und das ist ziemlich unwahrscheinlich, weil …«

»… die Querstange mit rund vier Zentimetern nur unwesentlich mehr Masse hat als der Puck, folglich ein Aufeinandertreffen des Pucks mit der Querstange nur in seltenen Fällen zu erwarten ist.«

»Genau«, sagte sie.

»Das heißt aber nicht, dass ein Torerfolg wahrscheinlich wäre, mit Abstand am wahrscheinlichsten ist es, dass der Schütze im Eishockey aufgrund der Abmessungen des Tores am …«

»… Goalie scheitert«, vervollständigte sie.

»Erzähle ich oft solches Zeug?«, fragte er.

»Ziemlich oft, Papa«, sagte sie. »Ich dusche und ziehe mich um, bis gleich.«

»Bis gleich«, sagte Lasse Ekholm. Er sah ihr nach und dachte wieder über den letzten Schnee am ersten Tag des Monats nach, während er wartete. Er erwiderte die gemurmelten Grüße von Annas Teamkolleginnen, und als Anna schließlich gemeinsam mit ihrer Freundin Laura mit nassen Haaren aus der Kabine kam, sagte er den Satz, den er häufig sagte, zumindest an kalten Tagen, wohl wissend, wie der kurze Dialog enden würde.

»Deine Haare sind noch nass.«

»Kein Problem«, sagte Anna.

»Du könntest sie noch schnell trocknen.«

»Passt schon«, sagte Anna.

»Hm«, sagte er und nahm ihr die bleischwere Sporttasche ab, und als sie ins Schneetreiben und in die Kälte traten, kam ihnen Lauras Mutter entgegen, und Laura fragte, ob Anna vielleicht noch mit ihnen fahren könne, zum Abendessen.

»Oh ja«, sagte Anna.

»Ja … von mir aus gerne«, sagte Lauras Mutter.

»Ich fürchte, das geht nicht«, sagte Lasse Ekholm.

»Ach, Papa.«

»Nein, Mama … also Kirsti hat gesagt, dass heute frühe Bettruhe ansteht. Wegen der Klassenarbeit morgen.«

»Mann«, sagte Anna.

»Klassenarbeit?«, fragte Lauras Mutter.

»Äh …«, sagte Laura.

»Nur so ’ne Zehn-Minuten-Prüfung vom Gockel«, sagte Anna.

»Vom was?«, fragte Ekholm.

»Vom … von unserem Chemie-Lehrer«, präzisierte Anna.

»Ah«, sagte Ekholm, und die Mädchen lachten.

Sie standen noch unschlüssig, für eine lange Sekunde, dann verabschiedeten sich Laura und ihre Mutter, und Anna sagte, während sie einstieg, dass es sich nicht lohnen werde, für die Chemieprüfung zu lernen, da sie es ohnehin nicht verstehen könne.

»Das ist … eine schlüssige Argumentation«, sagte Ekholm und startete den Wagen.

»Genau«, sagte sie.

»Nur sieht Mama das ein wenig anders.«

»Na und?«

»Das ist schon weniger schlüssig.«

»Was?«

»Dieses na und. Ist weniger schlüssig.«

Sie stöhnte, und Lasse Ekholm drehte sich zu ihr um und lächelte, und sie erwiderte das Lächeln und bat ihn, die CD einzulegen.

»Schon passiert«, sagte er, und dann füllte Musik das Innere des Wagens, die Musik, die er nicht verstand, obwohl Anna versuchte, sie zu erklären. Sie wollte ausgerechnet dieses eine Stück hören, dem er bislang noch nicht den Hauch einer Melodielinie hatte entlocken können. Aber Anna summte mit, und Lasse Ekholm stellte leiser, um Anna summen zu hören.

»Papa!«, sagte sie.

»Weitersummen«, sagte er.

»Was?«

»Weiter … ich wollte die Melodie raushören, die du da summst.«

Anna lachte, er wendete sich wieder der Straße zu, und dann passierten mehrere Dinge in kurzer Abfolge.

Lasse Ekholm sah ein Licht, er spürte es mehr, als dass er es sah, es war in seinem Rücken, es kam plötzlich, und es schien ungewöhnlich hell. Er drehte sich wieder zu Anna um, die immer noch lachte, und im letzten Moment glaubte er, eine Irritation in ihren Augen wahrzunehmen. Ihr Mund war leicht geöffnet, und vielleicht hatte sie Angst in der letzten Sekunde, aber das konnte er nie mit Sicherheit sagen, obwohl er später oft darüber nachdachte.

Er hatte den Eindruck, einen Blitz zu sehen, der direkt neben ihnen einschlug, neben dem Wagen, in dem sie fuhren, ein lautloser Einschlag, der das Gleichgewicht, in dem sie eben noch gewesen waren, ins Wanken brachte und schließlich aufhob, und dann versuchte er, gegenzusteuern, weil er begonnen hatte, gemeinsam mit Anna, die er nicht mehr sah, in einem leeren Raum zu schweben.

Der Aufprall war dumpf, leise und blechern, und er hörte die Musik, das andere Stück, das eine, das er mochte, den Retro-Mix eines Achtziger-Jahre-Klassikers, dunkle Bässe auf einem Klangteppich. Er versuchte, sich auf die Melodie zu konzentrieren, die sich langsam herauszukristallisieren begann. Er betrachtete das Display, die gelbe Acht, der achte Song auf der CD, die Anna zusammengestellt hatte, eine Auswahl an Stücken, die nur sie verstand.

»Anna?«, sagte er.

Er wartete und fragte sich, warum das Display funktionierte, warum die Musik lief, wenn alles andere kaputt war. Alles kaputt, dachte er. Vielleicht war die Musik nur in seinen Gedanken. Aber das Display funktionierte, und draußen, hinter der Scheibe, sah er Schatten, die vorüberglitten. Es schneite, und es war kalt. Eben war es noch warm gewesen, und wenn es in einem Auto schneite, war davon auszugehen, dass eine Scheibe zu Bruch gegangen war.

»Anna?«, sagte er.

»Hallo?«, fragte eine Stimme. Nicht Annas Stimme.

Er drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und sah einen Schatten an der Stelle stehen, an der die Beifahrertür gewesen sein musste.

»Hilfe ist unterwegs«, sagte die Stimme, eine weibliche Stimme, die zitterte.

Er nickte und wollte aufstehen, aber es ging nicht. Er wollte aufstehen und aus dem Wagen steigen.

»Sie sollten sich vielleicht nicht bewegen«, sagte eine andere Stimme, eine männliche. »Der Notarzt kommt gleich.«

Der...

Erscheint lt. Verlag 9.1.2014
Reihe/Serie Ein Kimmo-Joentaa-Roman
Ein Kimmo-Joentaa-Roman
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Breivik • Doppelmord • Finnland • Jan Costin Wagner • Kommissar Kimmo Joentaa • Leben • Schicksal • Trauer • Verbindung • Zusammenhänge
ISBN-10 3-462-30750-9 / 3462307509
ISBN-13 978-3-462-30750-4 / 9783462307504
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