Das Mädchen, das Geschichten fängt (eBook)

Roman
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2014 | 1. Auflage
432 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-13085-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Mädchen, das Geschichten fängt -  Victoria Schwab
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Wenn ein Mensch stirbt, wird seine Lebensgeschichte in einer Art Bibliothek abgelegt. Manchmal jedoch erwachen die Geschichten und versuchen in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Dann kommt Mac ins Spiel, denn sie ist eine Hüterin und ihre Aufgabe ist es, die entlaufenen Geschichten zurückzubringen. Doch plötzlich häufen sich diese Vorfälle, und die Grenzen zwischen Leben und Tod drohen zu verschwimmen. Mac beschleicht der schreckliche Verdacht, dass jemand die Lebensgeschichten manipuliert. Gemeinsam mit dem Hüter Wes versucht Mac, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Victoria Schwab lebt in Nashville, Tennessee, und arbeitete nach dem Studium in den verschiedensten Jobs, ehe sie ihre Leidenschaft professionalisierte und Autorin wurde. Bücher hat sie schon immer über alles geliebt - und Geschichten, in denen die Realität aufbricht und etwas Dunkles, Geheimnisvolles, Anderes durchscheint. Verflucht ist ihr Debütroman.

1

Nichts an diesem Neuanfang ist wirklich neu.

Ich lehne mich ans Auto und blicke am Coronado hinauf, einem ehemaligen Hotel, das zu Wohneinheiten umgebaut worden war und das meine Eltern »ganz bezaubernd« finden. Es starrt mit großen, traurigen Augen zurück. Die ganze Fahrt über habe ich an meinem Ring herumgespielt, bin mit dem Daumen über die drei Linien gefahren, die in seine Oberfläche eingraviert sind, als wäre das silberne Band ein Rosenkranz oder ein Amulett. Ich habe gebetet, dass uns irgendein einfacher, aufgeräumter, neuer Ort erwarten würde. Und nun das hier.

Ich kann den Staub schon von der anderen Straßenseite aus sehen.

»Ist das nicht himmlisch?«, quietscht meine Mutter.

»Es ist … alt.«

So alt, dass sich die Steine abgesenkt haben und die dadurch entstandenen tiefen Risse der gesamten Fassade ein müdes Aussehen verleihen. Vor meinen Augen löst sich irgendwo ein faustgroßer Steinbrocken und kullert seitlich am Gebäude hinunter.

Ein Blick nach oben offenbart ein Dach, das mit Wasserspeiern gespickt ist. Nicht bloß an den Ecken, wo man sie erwarten würde, sondern in unregelmäßigen Abständen entlang der Kante, wie ein Haufen Krähen. Meine Augen wandern über verschnörkelte Fenster sechs Stockwerke hinunter zum brüchigen steinernen Vordach, das den Eingang überspannt.

Mom eilt voran, bleibt aber mitten auf der Straße stehen, um die »altmodischen« Pflastersteine zu bewundern, die der Straße angeblich so viel »Charakter« verleihen.

»Liebling«, ruft mein Vater, der ihr folgt. »Steh nicht auf der Straße herum!«

Eigentlich sollten wir zu viert sein: Mom, Dad, Ben und ich. Sind wir aber nicht. Granpa, mein Großvater, ist schon vier Jahre tot, aber es ist noch kein Jahr her, seit Ben gestorben ist. Ein Jahr der Worte, die keiner aussprechen kann, weil sie allesamt Bilder wecken, die keiner ertragen kann. Die albernsten Dinge machen einen völlig fertig. Ein T-Shirt, das hinter der Waschmaschine auftaucht. Ein staubiger Baseballhandschuh, der in der Garage unter einen Schrank gerutscht war und vergessen wurde, bis jemand zufällig etwas fallen lässt, ihn beim Bücken entdeckt und plötzlich schluchzend auf dem Betonboden hockt.

Doch nachdem wir ein Jahr lang auf Zehenspitzen durch unser Leben geschlichen sind und dabei versucht haben, keine Erinnerungen wie Landminen auszulösen, haben meine Eltern beschlossen aufzugeben. Sie nennen es Veränderung. Einen Neustart. Behaupten, es wäre das, was die Familie jetzt braucht.

Ich nenne es Weglaufen.

»Mackenzie, kommst du?«

Ich folge meinen Eltern auf die andere Straßenseite. Der Asphalt glüht in der heißen Julisonne. Unter dem Vordach gibt es eine Drehtür, flankiert von zwei normalen Türen. Ein paar Menschen – die meisten von ihnen älter – haben es sich in der Nähe der Türen oder auf einer Terrasse daneben bequem gemacht.

Bevor Ben gestorben ist, hatte Mom immer mal wieder verrückte Ideen. Sie wollte Zoowärterin werden, Anwältin, Köchin. Aber es waren nur Ideen. Nach seinem Tod wurde mehr daraus. Statt nur zu träumen, fing sie an zu handeln. Mit aller Macht. Wenn man sie nach Ben fragt, tut sie so, als hätte sie einen nicht gehört, aber wird sie auf ihr jüngstes Lieblingsprojekt angesprochen – was auch immer das gerade sein mag –, wird sie stundenlang reden und dabei so viel Energie versprühen, dass man den gesamten Raum damit versorgen könnte. Moms Energie ist jedoch ebenso unbeständig wie intensiv. Sie hat angefangen, Berufe zu wechseln, wie Bens Lieblingsessen wechselt – gewechselt hat –, eine Woche Käse, die Woche darauf Apfelmus … Allein im vergangenen Jahr hat Mom sieben verschiedene Jobs durchprobiert. Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass sie nicht gleich versucht hat, ihr ganzes Leben einzutauschen, wo sie schon mal dabei war. Dad und ich hätten eines Tages aufwachen und eine Nachricht in ihrer fast unleserlichen Handschrift vorfinden können. Aber sie ist immer noch da.

Ein weiterer Stein löst sich seitlich am Gebäude.

Vielleicht hat sie hier jetzt genug zu tun.

Die leer stehenden Räumlichkeiten im Erdgeschoss des Coronados, direkt hinter der Terrasse und unter Markisen versteckt, sind das künftige Zuhause der neuesten Schnapsidee meiner Mutter – sie nennt es ihr »Traumprojekt«: Bishop’s Café. Sie behauptet ja, das wäre der einzige Grund für unseren Umzug, und es hätte überhaupt gar nichts mit Ben zu tun hat (nur dass sie dabei seinen Namen nicht ausspricht).

Wir steigen die Stufen zur Drehtür hinauf, wobei mein Vater mir die Hand auf die Schulter legt. Sofort erfüllen lautes Rauschen und bebende Bässe meinen Kopf. Ich zucke zusammen, versuche aber, seine Hand nicht abzuschütteln. Die Toten sind still, genau wie Gegenstände, wenn sie Eindrücke enthalten, bis man durch sie hindurchgreift. Die Berührung der Lebenden aber ist laut. Lebende Menschen wurden noch nicht erfasst und sortiert – was bedeutet, dass sie aus einem Wust an Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen bestehen, die alle miteinander verworren sind und nur durch den silbernen Ring an meinem Finger gedämpft werden. Der Ring hilft dabei, die Bilder abzublocken, aber gegen den Lärm kann er nicht viel ausrichten.

Ich versuche, mir eine Schallmauer zwischen Dads Hand und meiner Schulter vorzustellen, wie Granpa es mir beigebracht hat. Eine zweite Barriere, aber es funktioniert nicht. Das Geräusch ist immer noch da, übereinander gelagerte Töne und statisches Rauschen, wie ein falsch eingestelltes Radio, und nach einigen Sekunden mache ich einen großen Schritt nach vorn, wodurch Dads Hand wegrutscht und die Stille zurückkehrt. Ich lasse meine Schultern kreisen, um wieder locker zu werden.

»Und, was hältst du davon, Mac?«, fragt er. Ich blicke am Gebäudekoloss hinauf.

Am liebsten würde ich meine Mutter schütteln, bis sie eine neue Idee ausspuckt, die uns irgendwo anders hinführt.

Aber ich weiß, das kann ich nicht sagen, nicht zu Dad. Die Haut unter seinen Augen ist fast blau, und im Lauf des letzten Jahres ist er, der ohnehin schlank war, immer dünner geworden. Während Mom eine ganze Stadt mit Strom versorgen könnte, ist Dads Licht fast erloschen.

»Ich glaube …« – ich ringe mir ein Lächeln ab –, »… es könnte ein Abenteuer werden.«

Ich bin zehn, fast elf, und ich trage meinen Hausschlüssel an einer Schnur um den Hals, um zu sein wie du.

Es heißt, ich hätte deine grauen Augen und deine Haarfarbe geerbt – bevor aus Rotbraun Weiß wurde –, aber solche Details sind mir egal. Jeder hat Augen und Haare. Ich will die Dinge, die den meisten Menschen nicht auffallen. Den Ring und den Schlüssel und deine Angewohnheit, alles im Innern zu tragen.

Wir fahren Richtung Norden, damit ich rechtzeitig zu meinem Geburtstag zu Hause bin, obwohl ich lieber bei dir bleiben würde, als Kerzen auszupusten. Ben schläft hinten auf dem Rücksitz, und die ganze Heimfahrt über erzählst du mir Geschichten über diese drei Orte.

Die Außenwelt, über die du nicht viele Worte verlierst, denn sie ist alles um uns herum, die normale Welt, die einzige, von der die meisten Menschen je wissen.

Die Narrows, ein beklemmender Ort, der nur aus fleckigen Gängen und fernem Flüstern besteht, aus Türen und Dunkelheit so klebrig wie Ruß.

Und das Archiv, eine Bibliothek der Toten, riesig und warm, Holz und Stein und buntes Glas, und über allem ein Gefühl des Friedens.

Beim Reden hältst du mit einer Hand das Lenkrad fest, während die andere mit dem Schlüssel an deinem Hals spielt.

»Das Einzige, was die drei Orte gemeinsam haben«, sagst du, »sind Türen. Türen, die hineinführen, und solche, die hinausführen. Und Türen brauchen Schlüssel.«

Ich beobachte, wie du mit dem Daumen über die Zacken an deinem fährst. Als ich versuche, dich heimlich nachzuahmen, entdeckst du die Kordel um meinem Hals und willst wissen, was das ist. Ich zeige dir meinen albernen Hausschlüssel. Auf einmal erfüllt diese seltsame Stille das Auto, als würde die ganze Welt die Luft anhalten, und dann lächelst du.

Du sagst, ich könnte mein Geburtstagsgeschenk schon vorab haben, obwohl du weißt, wie wichtig es Mom ist, die Dinge richtig zu tun, und du ziehst eine kleine, nicht eingepackte Schachtel aus der Tasche. Darin liegt ein silberner Ring, in den die drei Striche, das Archivsymbol, eingraviert sind, genau wie bei deinem.

Ich weiß nicht, wofür er ist, noch nicht – ein Schutzschild, ein Schalldämpfer, ein Puffer gegen die Welt und ihre Erinnerungen, gegen Menschen und ihre unaufgeräumten Gedanken –, aber ich bin so aufgeregt, dass ich verspreche, ihn immer zu tragen. Dann fährt das Auto über eine Bodenwelle, und der Ring kullert mir unter den Sitz. Du lachst, aber ich überrede dich anzuhalten, damit ich ihn holen kann. Weil er zu groß ist, muss ich ihn am Daumen tragen. Ich würde schon noch hineinwachsen, sagst du.

Wir schleppen unsere Koffer durch die Drehtür in die Eingangshalle. Mom...

Erscheint lt. Verlag 14.7.2014
Übersetzer Julia Walther
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Archived
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Ben Aaronovich • Christoph Marzi • Christoph Marzi, Ben Aaronovich, Geister, fantastisches Abenteuer • eBooks • fantastisches Abenteuer • Geister
ISBN-10 3-641-13085-9 / 3641130859
ISBN-13 978-3-641-13085-5 / 9783641130855
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