Ich Ich Ich (eBook)
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403021-0 (ISBN)
Robert Gernhardt (1937-2006) lebte als Dichter und Schriftsteller, Maler und Zeichner in Frankfurt am Main und in der Toskana. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Heinrich-Heine-Preis und den Wilhelm-Busch-Preis. Sein umfangreiches Werk erscheint bei S. Fischer, zuletzt »Toscana mia« (2011), »Hinter der Kurve« (2012) und »Der kleine Gernhardt« (2017).
Robert Gernhardt (1937–2006) lebte als Dichter und Schriftsteller, Maler und Zeichner in Frankfurt am Main und in der Toskana. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Heinrich-Heine-Preis und den Wilhelm-Busch-Preis. Sein umfangreiches Werk erscheint bei S. Fischer, zuletzt »Toscana mia« (2011), »Hinter der Kurve« (2012) und »Der kleine Gernhardt« (2017).
Er
Er kommt an
Herrlich, diese Ruhe, sage ich mir ein übers andere Mal, diese Ruhe ist ja herrlich, ganz herrlich, eine herrliche Ruhe. Das ist schon etwas Herrliches, so eine Ruhe, wenn ich dagegen an den Lärm in Frankfurt zurückdenke! Der war ja geradezu eklig laut, doch diese Ruhe hier – einfach herrlich. Hier ist alles so herrlich ruhig, einfach alles. Hallo Rosenbusch, ganz schön ruhig heute, was, alter Stachelkopp? Hallo Terrasse, wir haben heute auch wieder die Ruhe weg, wie? Hallo Mäuerchen, ja was, strahlen wir denn aus? Ruhe – oder irre ich mich etwa? Hallo Hügelkette, wie stehst du denn mal wieder gegen den Nachthimmel? Ruhig, ganz ruhig – stimmt’s? O Gott, sind die alle ruhig, warum bin ich denn nur so unruhig?
Ach, es hatte alles falsch begonnen, und ich hätte es ahnen müssen. Jeder Tor kann wegfahren, doch nur der Weise versteht es anzukommen, hat jemand einmal gesagt, ach was, ich habe es einmal gesagt, eben gerade, noch einmal sage ich es bestimmt nicht, wer den Satz beim ersten Mal nicht mitgekriegt hat, kann mir leid tun, es war schon ein verdammt guter Satz, einer von der Sorte, wie sie in einem Jahrhundert nur äußerst selten, genauer, alle naslang
»Angeklagter!«
»Ja?«
»Äußern Sie sich endlich zu dem Ihnen zur Last gelegten Delikt!«
»Zu welchem Delikt denn? Ich habe doch nur …«
»Sie haben ein in Ihrem Mitbesitz befindliches Bauernhaus in der Toscana angezündet – weshalb?«
»Aber das habe ich Ihnen doch schon hundertmal erklärt! Ich war in Frankfurt in einen Strudel des Wahnsinns geraten …«
»Das wissen wir.«
»Ich konnte nicht mehr malen – all der Schmutz, all die Zumutungen …«
»Das kennen wir.«
»Ich war geflohen. Ich war Tag und Nacht gefahren. Zwölfhundert Kilometer, meine Damen und Herren Geschworenen, und auf dem Rücksitz schrien die Katzen …«
»Lassen Sie doch endlich die Katzen aus dem Spiel!«
»Ich suchte die Ruhe. Aber sie floh mich. Ich immer hinterher. Innsbruck, Mutters, Natters, Brixen, Bozen, Trento, Verona, Modena, Bologna, der Appenin, der mir fast den Verstand raubte, die Hitze, die Laster, die Tunnel, die Bauarbeiten, die Kurven, die Steigungen, dann, endlich, Prato-Calenzano, Firenze Signa, Firenze Certosa, Firenze Sud, Inchisa, und schließlich, ich fuhr fast blind, die Ausfahrt 25, die Chiantigiana Richtung Siena, die Abzweigung, die Schotterstraße, und: der Betonplatz, die Scheune, das Haus. Als erstes ließ ich die Katzen hinaus, dann ging ich im Licht der Scheinwerfer auf die Eingangstür zu, und wieder tat ich es, wie jedesmal, mit jenem einzigartigen Gemisch aus ängstlicher Unruhe, freudiger Erwartung und tiefer Zärtlichkeit, mit dem man sonst nur in die Arme der lange vermißten und sich nun endlich schattenhaft abzeichnenden geliebten Frau eilt. Zitternd öffnete ich die Tür; mit jener schlafwandlerischen Sicherheit, die dem Liebenden, und nur ihm, eigen ist, fand ich trotz der Dunkelheit das Holzpaneel, das die Sicherungen abdeckt, öffnete es und tastete nach der Taschenlampe. Die aber war nicht da! Fahriger griff ich ins Dunkel, doch da war keine! War keine, obwohl ich bei meiner letzten Abreise dort nicht nur eine Taschenlampe abgestellt, sondern zudem in einem Aushang ausdrücklich vermerkt hatte, sie, die Taschenlampe, habe dort auf jeden Fall zu stehen! Nun, ich fand die Sicherungsschalter auch ohne die Taschenlampe, drückte die Sicherungshebel einen nach dem anderen auf ON, Licht flammte auf, doch unter den Arkaden blieb es dunkel. Des Rätsels Lösung, Hohes Gericht …«
»Nun kommen Sie doch bitte zur Sache!«
»Die Arkadenbeleuchtung war weg! Mit diesen meinen Händen, Genossinnen und Genossen, hatte ich sie installiert, ja lächelt nur, auch Künstlerhände können handfeste Arbeit verrichten, doch sie war fort! Und wo war eigentlich der Gartenschlauch? Und wieso waren die heruntergefallenen Kacheln im Bad nicht erneuert worden? Weshalb funktionierte die Wasserzufuhr nicht?«
»Zur Sache bitte!«
»Aber ich rede doch zur Sache. Ich rede pausenlos zur Sache, verehrte Femerichter. Haben Sie sich schon mal nach Monaten der Trennung der geliebten Frau genähert: erregt, die Arme ausgebreitet, eilen Sie auf sie zu, Sie drehen den Wasserhahn auf, und was kommt? Nichts kommt. Kein Wasser! Sie treten betroffen zurück, versuchen in den so unendlich vertrauten Zügen den Grund für diese Verweigerung zu erkennen, statt einer Erklärung aber finden Sie auf dem Tisch im Gemeinschaftsraum lediglich einen Zettel, der Ihnen mitteilt: ›Zu dem neuen Besen bitte einen neuen Stiel kaufen. Der Deckel der neuen Kaffeekanne muß mit etwas Gefühl aufgesetzt werden. Der Brillenbügel zur alten Sonnenbrille ließ sich in Montevarchi nicht ersetzen.‹ Das, meine Herren Judices, war der berühmte Tropfen, welcher – mit dem Unterschied, daß da gar kein Tropfen war! Kein einziger! Ich stehe ohne Wasser da, und meine Geliebte faselt etwas von zerbrochenen Sonnenbrillenbügeln – verstehen Sie mich?«
»Nein.«
Nein, niemand versteht mich, niemand liebt mich. Dabei hatte ich niemals Liebe und Verständnis nötiger als gerade jetzt. Ach, du Beneidenswerter, hatten mir die falschen Freunde zum Abschied gesagt, du fährst in die Toscana? Na, da wirst du ja endlich wieder in Ruhe arbeiten können! Und ob ich das können werde, hatte ich geantwortet, ich habe da ein paar Bilder im Kopf, Bilder! Erzähl doch mal, hatten sie gedrängt, und ich hatte in aller Unschuld erwidert: Also erstmal werde ich die Landschaft malen, die ich von meiner Ateliertür aus sehe, abends, wenn die untergehende Junisonne schräg draufhält und das Goldgelb der gerade noch nicht abgeernteten Kornfelder kontrastiert zum frischen Grün des kräftig sprießenden Maises …
Maises? hatten sie heimtückisch hinterfragt, hast du Maises gesagt? Ja, hatte ich arglos entgegnet, ich sagte Maises. Ach Maises! hatten sie geschrien. Und wir hatten schon gedacht, du hättest Maises gesagt.
Doch wie weit das alles nun schon zurückliegt. Nur noch verworren dringen die Stimmen der falschen Freunde an mein Ohr, die Ruhe, die mich hier umgibt, kann ja auch ihre Wirkung nicht verfehlen, nicht wahr, das kann sie doch ganz einfach nicht. Morgen bereits werde ich mit dem Malen beginnen, und zudem werde ich
»Angeklagter!«
Ist gut, Hohes Gericht, du bist entlassen. Warst nur ein mutwilliges Spiel meiner Einbildungskraft, geh. Troll dich. Und auch das Haus steht noch, hatte mir alles doch nur ausgedacht, ihr hattet wohl schon einen Schreck gekriegt, wie? Fürchtet euch nicht, ich bin ja bei euch. Eben sieht es hier noch ein wenig wüst aus, kein Wunder, bin ja gerade erst angekommen, doch bereits morgen, in aller Herrgottsfrühe, wird alles fein säuberlich eingeräumt, und dann fangen wir aber gleich an. Vom ersten Tag an werde ich Gymnastik treiben, Ehrenwort. Und italienisch lernen, parola d’onore. Und ich werde – aber das sagte ich wohl bereits.
Wie warm die Nacht ist! Die Arkadenbeleuchtung fand sich übrigens im Gerätekeller. Die Taschenlampe stand im Atelier. Und auch das Wasser läuft wieder – ich hatte ganz einfach vergessen, das Kabel anzuschließen, das die Pumpe mit Strom versorgt. Ach, dieser Friede! Seht nur: Der Mond! Hört nur: Die Grillen!
Er lernt italienisch nach M. Alani
Traduzione 3. Warum erzählst du nicht von deiner Reise? Jedes Land hat seine Schönheiten. Meine Großeltern leben in Italien. Die Tante verkauft ihr Haus und kauft das unsrige. Jeder Vogel liebt sein Nest. Ich liebe mein schönes Vaterland.
Er schildert einen allerliebsten Anblick
Ein Wanderer, der an einem schönen Spätjunivormittag des Jahres 1980 dem Fußweg von Montevarchi nach Siena folgend ein bei Montaio liegendes altes Gemäuer passiert hätte, wäre durch einen äußerst kuriosen Anblick belohnt worden. Mit nichts als einem blauen Unterhemd und einer schreiend roten Hose bekleidet, hüpfte da nämlich ein nicht mehr ganz junger Mann derart ausdauernd im Takte eines von ihm selbst geschwungenen Sprungseils auf und nieder, daß die Hose, erst scheinbar widerstrebend, dann, dem zwiefachen Antrieb von niederdrückender Körperbewegung und niederziehender Schwerkraft immer williger folgend, rasch und rascher via Knie und Knöchel herabsank, dergestalt, daß sie sich schließlich völlig vom Träger löste, der, obwohl nun unterwärts zur Gänze entblößt, dennoch nicht mit dem Hüpfen aufhörte, wodurch sich ein allerliebster pas de deux ergab, welcher vom selbstvergessenen Hüpfer und seinem nolens volens im gleichen Takt auf und ab hüpfenden Glied bestritten wurde.
Aber wie sollte denn jemand von Montevarchi nach Siena wandern, da doch die Junisonne bereits ungewöhnlich früh ungewöhnlich heiß herniedersticht und da zudem von einem Fußweg von Montevarchi nach Siena überhaupt nicht die Rede sein kann, weil gewaltige Brombeerhecken ihn gottlob ganz und gar unpassierbar gemacht haben?
Er nimmt sich was vor
Der Maler hat keine natürlichen Feinde, der Hausbesitzer aber …
Dabei bin ich gar kein richtiger, sondern nur ein Viertelshausbesitzer, verdanke diesen Viertelsbesitz auch lediglich mir verbundenen Freunden sowie der Gunst der Stunde. Mehr als eine Bruchbude war uns freilich nicht in den Schoß gefallen, es hatte unglaublicher Zähigkeit bedurft …
Doch ich denke nicht daran, zu weiteren Rechtfertigungen Zuflucht zu nehmen. Schluß mit der...
Erscheint lt. Verlag | 13.11.2013 |
---|---|
Reihe/Serie | Fischer Klassik Plus |
Fischer Klassik Plus | |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Existenzkrise • Flucht • Kulturbetrieb • Künstlerroman • Robert G • Roman • Satire • Schaffenskrise • Toskana • Tragikomödie |
ISBN-10 | 3-10-403021-9 / 3104030219 |
ISBN-13 | 978-3-10-403021-0 / 9783104030210 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 854 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich