Keiner werfe den ersten Stein (eBook)
464 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-12027-6 (ISBN)
In den schottischen Highlands herrscht tiefster Winter, und Westerbrae, ein Country-House wie aus dem Bilderbuch, ist von der Welt abgeschnitten - ideale Voraussetzung für eine prominente Londoner Theatergruppe, um ungestört ein neues Stück zu proben. Doch schon am ersten Morgen wird aus den Proben tödlicher Ernst: Joy Sinclair, die junge Autorin, wurde kaltblütig erdolcht. Und die Ortspolizei weigert sich, die Untersuchungen zu übernehmen. Ein Fall für Inspector Lynley von New Scotland Yard, stammen doch fast alle Beteiligten aus den ihm wohlvertrauten, besten Kreisen der englischen Gesellschaft. Aber er findet nur Fragen ohne Antworten, unausgesprochene Geheimnisse und Halbwahrheiten. Zum ersten Mal gerät Lynley mit den Prinzipien in Konflikt, die für ihn selbst die Welt bedeuten: den festgefügten Regeln der Oberschicht, der Tradition, Stolz und Familienbande mehr bedeuten als ein Menschenleben. Immer tiefer gerät er in ein Labyrinth aus zwischenmenschlichen Beziehungen, die weit in die Vergangenheit und hinauf in höchste Regierungskreise reichen. Doch die bittere Wahrheit hinter der blutigen Scharade entdeckt erst seine Assistentin, der Adel, Konventionen und Privilegien von Haus aus zutiefst suspekt sind.
Der dritte Fall für Inspector Lynley.
Akribische Recherche, präziser Spannungsaufbau und höchste psychologische Raffinesse zeichnen die Bücher der Amerikanerin Elizabeth George aus. Ihre Fälle sind stets detailgenaue Porträts unserer Zeit und Gesellschaft. Elizabeth George, die lange an der Universität »Creative Writing« lehrte, lebt heute in Seattle im Bundesstaat Washington, USA. Ihre Bücher sind allesamt internationale Bestseller, die sofort nach Erscheinen nicht nur die Spitzenplätze der deutschen Verkaufscharts erklimmen. Ihre Lynley-Havers-Romane wurden von der BBC verfilmt und auch im deutschen Fernsehen mit großem Erfolg ausgestrahlt.
1
Gowan Kilbride, sechzehn Jahre alt, war nie ein begeisterter Frühaufsteher gewesen. Solange er auf dem Hof seiner Eltern gelebt hatte, war er morgens stets nur unter Murren aus dem Bett gekrochen und hatte jeden in Hörweite durch lautes Stöhnen und vielfältige Klagen wissen lassen, wie wenig dieses bäuerliche Leben seinem Geschmack entsprach. Als daher Francesca Gerrard, die jüngst verwitwete Eigentümerin des größten Landguts der Gegend, beschloß, ihr schottisches Herrenhaus in ein Hotel umzuwandeln, um wenigstens einen Teil der exorbitanten Erbschaftssteuern aufzufangen, bot Gowan ihr sogleich seine Dienste an, überzeugt, genau der richtige Mann zu sein, um bei Tisch zu servieren, an der Bar den Cocktailshaker zu schütteln und die Schar junger Damen im heiratsfähigen Alter zu beaufsichtigen, die sich zweifellos in Bälde als Zimmermädchen oder für den Service bewerben würden.
Leider alles nur schöne Phantasien, wie Gowan bald entdeckte. Noch keine Woche war er auf Westerbrae angestellt, als ihm klar wurde, daß der gesamte Betrieb des neuen Hotels in den Händen einer Vierermannschaft ruhen sollte: Mrs. Gerrard persönlich, einer ältlichen Köchin mit allzu üppigem Haarwuchs auf der Oberlippe, Gowan und einem frisch aus Inverness eingetroffenen siebzehnjährigen Mädchen namens Mary Agnes Campbell.
Gowans Tätigkeit besaß gerade so viel Glanz, wie es seiner Stellung in dieser Hierarchie entsprach — praktisch keinen. Er war »Mädchen für alles«, ob es nun darum ging, den weitläufigen Park in Ordnung zu halten, die Zimmer zu fegen, die Wände zu malern, zweimal wöchentlich den altertümlichen Boiler zu reparieren oder die zukünftigen Gästezimmer zu tapezieren. Sehr ernüchternd für einen jungen Mann, der sich stets als kommender James Bond gesehen hatte! Die Unbilden des Lebens auf Westerbrae wurden einzig gemildert durch die ungemein verlockende Anwesenheit Mary Agnes Campbells.
Nicht einmal mehr das frühe Aufstehen war nach weniger als einem Monat Zusammenarbeit mit Mary Agnes eine Last, denn je eher Gowan morgens aus seinem Bett sprang, desto früher bekam er ja Mary Agnes zu sehen, konnte mit ihr schwatzen und ihren betörenden Duft atmen, wenn sie an ihm vorüberging. Und innerhalb von lachhaften drei Monaten waren alle Träume, in denen er als wodkaschlürfender Held mit einer Vorliebe für maßgefertigte italienische Faustfeuerwaffen fungierte, vergessen; verdrängt von der Hoffnung, ein sonniges Lächeln von Mary Agnes, einen Blick auf ihre hübschen Beine zu erhaschen, in diesem oder jenem engen Korridor im Vorübergehen wie zufällig ihren wohlgerundeten Körper streifen zu können.
All diese qualvollen süßen Hoffnungen waren berechtigt, ihre Erfüllung möglich erschienen, bis gestern die ersten Gäste auf Westerbrae eingetroffen waren: eine Gruppe Schauspieler aus London, die mit ihrem Produzenten, dem Regisseur und mehreren Gefolgsleuten gekommen waren, um einer neuen Produktion in gemeinsamer Arbeit den letzten Schliff zu geben. Das Erscheinen dieser Londoner Theatergrößen in Verbindung mit dem, was Gowan an diesem Morgen in der Bibliothek gefunden hatte, hatte die Erfüllung seiner Träume vollkommenen Glücks mit Mary Agnes schlagartig in weite Ferne gerückt. Darum machte er sich, nachdem er den zerknüllten Bogen Papier mit dem Briefkopf von Westerbrae aus dem Papierkorb in der Bibliothek gezogen hatte, unverzüglich auf die Suche nach Mary Agnes. Er fand sie allein in der großen Küche, wo sie die Tabletts für den Morgentee richtete.
Die Küche war von Anfang an Gowans Lieblingsaufenthalt gewesen, vor allem deshalb, weil sie im Gegensatz zu den übrigen Räumen des Hauses nicht in ihrer Eigenart gestört, nicht verändert und durch Renovierung verdorben worden war. Es bestand keine Notwendigkeit, sie dem Geschmack und den Vorlieben zukünftiger Gäste anzupassen. Die würden kaum hier hereinkommen, um eine Soße zu kosten oder über die Qualität des Fleisches zu fachsimpeln.
Die Küche war also unverändert, immer noch genau so, wie Gowan sie aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Der alte Boden aus mattroten und cremefarbenen Fliesen, wie ein großes glänzendes Schachbrett. An einer Wand unter den eisernen Leuchten, die sich dunkel von der gesprungenen Kachelfläche abhoben, hingen wie eh und je Töpfe und Pfannen aus blitzendem Messing in langer Reihe an den Haken. Auf einem vierstöckigen Regal aus Fichtenholz über einer der Anrichten stapelte sich das Geschirr für alle Tage, und darunter stand unter der Last von Geschirrtüchern und Spüllappen schwankend ein dreieckiges Trokkengestell. Auf den Fensterbrettern reihten sich tropische Pflanzen in Keramiktöpfen mit großen, palmwedelähnlichen Blättern — Pflanzen, die im eisigen Klima des schottischen Winters eigentlich hätten sterben müssen, in der Wärme der Küche jedoch prächtig gediehen.
Im Augenblick allerdings war der Raum noch eiskalt. Als Gowan hereinkam, war es fast sieben Uhr, aber der große Heizofen hatte die eisige Morgenluft noch nicht erwärmt. Ein großer Kessel dampfte auf einer der Herdplatten. Durch die Sprossenfenster sah Gowan die Rasenflächen, die sanft gewellt zum Loch Achiemore abfielen, nach den Schneefällen der vergangenen Nacht unter einer weißen Decke liegen. Normalerweise hätte ihn der Anblick vielleicht erfreut. In diesem Augenblick jedoch hinderte ihn selbstgerechte Entrüstung daran, irgend etwas anderes zu sehen als das hübsche Mädchen, das am Arbeitstisch in der Mitte der Küche stand und Deckchen auf die Tabletts breitete.
»Erklär mir das mal, Mary Agnes Campbell.« Gowans Gesicht wurde fast so rot wie sein Haar, und seine Sommersprossen verdunkelten sich merklich. Er hielt den zerknitterten Briefbogen hoch, den schwieligen Daumen genau auf dem Wappen von Westerbrae.
Mary Agnes’ unschuldsvolle blaue Augen streiften das Papier nur mit einem flüchtigen Blick. Nicht im geringsten verlegen ging sie in die Geschirrkammer und nahm Teekannen, Tassen und Untertassen von den Borden. Sie verhielt sich ganz so, als hätte eine ganz andere mit ungeübter Hand geschrieben, was da auf dem Briefbogen stand: »Mrs. Jeremy Irons, Mary Agnes Irons, Mary Irons, Mary und Jeremy Irons, Mary und Jeremy Irons mit Familie.«
»Was denn?« fragte sie und warf das lange rabenschwarze Haar in den Nacken. Ihr weißes Häubchen, das keck auf ihren dunklen Locken saß, rutschte dabei schräg über das Auge. Sie sah aus wie eine reizende kleine Piratin.
Eben das war das Problem. Nie war Gowans Herz für ein weibliches Wesen so heiß entbrannt wie für Mary Agnes Campbell. Er war ein Bauernjunge, mit fünf Geschwistern auf der Hillview Farm aufgewachsen, die sein Vater von Westerbrae gepachtet hatte, und nichts in seinem jungen Leben, in dem bisher die Schafherden seines Vaters und seine Bootsfahrten auf dem Loch das Wichtigste gewesen waren, hatte ihn auf das vorbereitet, was jedesmal mit ihm geschah, wenn er nur in Mary Agnes’ Nähe kam. Nur der Traum, daß sie eines Tages ihm gehören würde, hatte verhindert, daß er ihretwillen völlig den Verstand verlor.
Immer hatte er an die zukünftige Erfüllung dieses Traums geglaubt, trotz der Existenz von Jeremy Irons, dessen schönes Gesicht mit den seelenvollen Augen, aus Filmzeitschriften ausgeschnitten, die Wände von Mary Agnes’ Zimmer im unteren Nordwestkorridor des großen Hauses zierte. Mädchenschwärmerei für das unerreichbare Idol war schließlich etwas ganz Normales — oder nicht? Das jedenfalls erklärte Mrs. Gerrard Gowan, wenn er ihr sein Herz ausschüttete und sie ihm zusah, wie er sich bemühte, den Wein in die feinen Gläser zu gießen, ohne die Hälfte auf das Tischtuch zu verschütten.
Das war sicher richtig, solange der Unerreichbare unerreichbar blieb. Jetzt aber, wo das Haus voller Londoner Schauspieler war, mit denen man täglich in Berührung kommen würde, sah Mary Agnes ihre große Chance, das war Gowan klar. Ganz sicher kannte einer von diesen Leuten Jeremy Irons persönlich, würde sie mit ihm bekannt machen, und alles andere würde sich von selbst ergeben. Daß sie so dachte, bewies das Papier, das Gowan in der Hand hielt; es zeigte deutlich, was Mary Agnes von der Zukunft erwartete.
»Was denn?« wiederholte er empört. »Du hast das hier in der Bibliothek liegengelassen, darum geht’s.«
Mary Agnes riß ihm den Briefbogen aus der Hand und stopfte ihn in ihre Schürzentasche. »Nett, daß du’s mir nachgetragen hast«, sagte sie.
Ihre Unerschütterlichkeit war zum Verrücktwerden. »Und eine Erklärung findest du wohl überflüssig?«
»Übung, Gowan.«
»Übung?« Er explodierte fast. »Wofür soll das denn Übung sein? Was hast du denn davon, wenn du ›Jeremy Irons‹ schreiben kannst? Noch dazu, wo der verheiratet ist. «
Mary Agnes wurde blaß. »Verheiratet?« Sie stellte heftig eine Untertasse auf die andere. Das Porzellan klirrte.
Gowan bedauerte seine impulsiven Worte sofort. Er hatte keine Ahnung, ob Jeremy Irons verheiratet war, aber er wurde fast wahnsinnig bei dem Gedanken, daß Mary Agnes nachts in ihrem Bett von dem Schauspieler träumte, während er selbst in seinem Zimmer nebenan sich nach einem Kuß von ihr verzehrte. Es war gemein. Es war unfair. Sollte sie ruhig dafür leiden.
Aber als er das Zittern ihrer Lippen sah, ärgerte er sich über seine Dummheit. Sie würde ihn hassen, nicht Jeremy Irons, wenn er nicht vorsichtig war. Und das hätte er nicht ertragen können.
»Ach was, ich weiß nicht genau, ob er verheiratet ist«, bekannte er.
Mary Agnes hob die Nase in die Luft, sammelte ihr Geschirr ein und kehrte in die Küche zurück. Gowan folgte ihr wie ein treues Hündchen. Sie stellte die Kannen auf die Tabletts, gab Tee hinein, zog die Deckchen...
Erscheint lt. Verlag | 11.11.2013 |
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Reihe/Serie | Ein Inspector-Lynley-Roman |
Ein Inspector-Lynley-Roman | |
Übersetzer | Mechtild Sandberg-Ciletti |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Payment in Blood |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | eBooks • Familienbande • Gesellschaft • InspectorLynley • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mord • NewScotlandYard • Oberschicht • Reihe • Roman • Serie • Somerbuch 2020 • Sommerlektüre • Urlaub • Verbrechen |
ISBN-10 | 3-641-12027-6 / 3641120276 |
ISBN-13 | 978-3-641-12027-6 / 9783641120276 |
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