Die Drachen von Montesecco (eBook)

Kriminalroman
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2013 | 1. Auflage
278 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-0776-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Drachen von Montesecco -  Bernhard Jaumann
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Das besinnliche Leben in Montesecco gerät durcheinander, als sich der alte Benito Sgreccia drei Huren aus Rom kommen läßt, drei Tage hemmungslos prasst, sich am vierten Tag in den Herbstwind setzt und stirbt. Nur Gianmaria Curzio, der den Tod seines besten Freundes schwer verkraftet, vermutet ein Verbrechen und forscht nach.

Als bekannt wird, daß der Tote ein unbegreifliches Millionenvermögen hinterlassen hat, wittern die anderen Dorfbewohner die Chance ihres Lebens. Kurz darauf wird der achtjährige Sohn Catia Vannonis entführt, ein verschlossener Junge, der nur mit seinen Papierdrachen glücklich ist. Jeder im Dorf fragt sich, wer der Kidnapper ist, der Sgreccias Millionenerbe erpressen will. Einen Mord und viele Verdächtigungen später weist ein Papierdrachen am Himmel den Weg zum Entführer ...

Glauser-Preisträger Jaumann läßt ein ganzes Dorf ermitteln.

'Wir sehen dieses italienische Dorf vor uns, die Piazza, die klapprige Bar - wunderbar!' DIE ZEIT.



Bernhard Jaumann wurde 1957 in Augsburg geboren. Studium in München. Er war zehn Jahre Lehrer für Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Italienisch in Bad Aibling, unterbrochen von einjährigen Auslandsaufenthalten in Italien und Sydney/Australien. Seit 1997 lebt er in Mexiko-Stadt.Sein erster Kriminalroman, 'Hörsturz', erschien 1998; zweiter und dritter Band seiner Krimireihe um die fünf Sinne erschienen 1999 ('Sehschlachten','Handstreich').Foto: © Isolde Ohlbaum

1
Maestrale


Zweiundachtzig Jahre hatte Benito Sgreccia hinter sich gebracht, dann lebte er drei Tage und Nächte, und am vierten Tag starb er. Am Sonntag um 14 Uhr 10 wurde er zum letztenmal gesehen, als er den befrackten Kellner mit einer Handbewegung zurückwies und abrupt vom Tisch aufstand. Nach einem mühsam unterdrückten Hustenanfall sagte er zu Wilma, Laura und Piroschka, sie sollten den Hummer allein essen, ihm sei von den Austern und den Mazzancolle sowieso schon übel, er wolle lieber ein wenig frische Luft schnappen.

Dann stieg der Alte die Treppe hinauf und trat auf die Dachterrasse des Pfarrhauses hinaus. Große blaue Fahnen knatterten im steifen Herbstwind. Der Maestrale brachte trockene, kalte Luft aus Nordwesten, doch die Temperaturen schienen Sgreccia nichts auszumachen. Er zog den Liegestuhl aus dem Windschatten des Kirchendachs an die Brüstung der Terrasse vor und ließ sich ächzend nieder.

Unter ihm lag Montesecco. Die Häuser des kleinen Dorfs duckten sich vor dem Wind, die Dächer krallten sich ineinander, als hätten sie beschlossen, den Rest der Welt für immer auszusperren oder – wenn es denn sein müßte – gemeinsam wegzufliegen und den leergefegten stahlblauen Himmel über jedem Wohnzimmer zu offenbaren. Am Ortsausgang kämpfte ein Papierdrachen gegen den Wind an. Die bunten Dreiecke an seinem Schwanz standen in einer fast waagerechten Linie hintereinander. Die Leine war genausowenig zu sehen wie derjenige, der sie führte.

Die Piazzetta direkt unter Sgreccia und der Weg, der zum Haus von Costanza Marcantoni anstieg, waren menschenleer. Die anderen Gassen verschwanden im Gewirr der Mauern und Ziegelschrägen. Man hätte meinen können, es gäbe gar keine Wege zwischen den Häusern oder nur unterirdische wie in einem Maulwurfsbau. Doch natürlich wußte Sgreccia, wo sich die Gassen in die Dächerlandschaft schnitten, genau wie er wußte, wer in welches Haus gehörte und wer vor einem halben Jahrhundert dorthin gehört hatte. Zweiundachtzig Jahre waren eine lange Zeit.

Nicht, daß sich nichts verändert hätte! So waren auch auf die Häuser von Montesecco Satellitenschüsseln gepflanzt worden, bei Ivan, bei Milena Angiolini, bei dem Deutschen, der Paolo Garzones Haus gekauft hatte, und nicht zuletzt bei Benito Sgreccia selbst. Die Schüsseln klebten an den Dächern wie seltsame weiße Ohren, die alle in dieselbe Richtung lauschten. Nach Südwesten. Als sei genau dies die Himmelsrichtung, in der sich das wirkliche Leben abspielte, das der Stars und Katastrophen, der Champions League, der Börsenkurse und der Politskandale. Das Leben, in dem Berlusconi Wahlen gewann, die gute alte Lira durch den Euro ersetzt wurde und sich auch sonst dauernd irgend etwas Wichtiges ereignete. Etwas Buntes, Zähes, Beharrliches. Es kroch hinein unter die ausgebleichten Dächer von Montesecco und flüsterte unaufhörlich, daß jeder seines Glückes Schmied sei.

Benito Sgreccia hustete. Er war in Montesecco geboren worden, dort drüben in dem grauen Haus am Dorfrand. Als die Hebamme aus Pergola eingetroffen war, war er schon abgenabelt gewesen. Er wußte nicht, wieso er es so eilig gehabt hatte, auf die Welt zu kommen. Er war dann aufgewachsen wie alle anderen und hatte sich genausowenig wie sie gefragt, ob das Leben einen anderen Sinn hatte, als es zu erhalten. Er hatte geheiratet und einen Sohn in die Welt gesetzt. Auch eine Tochter hätte er gern gehabt, doch das sollte nicht sein. Den Krieg hatte er glücklich überstanden, sich dafür nachher in den Schwefelminen von Cabernardi die Lunge ruiniert. Später hatte er viel Zeit gehabt, hatte mit Gianmaria Curzio herumgesessen, Grappa getrunken und sich dieses und jenes durch den Kopf gehen lassen.

Er hatte keinen Grund zu klagen. Er hatte keinen Grund, sentimental zu werden. Er spürte den kalten Wind, der jetzt in Böen von den Bergen herabfuhr. Er fragte sich, ob Sterben leicht war.

Die Böen rüttelten an den Fensterläden von Montesecco, doch es war klar, daß sie nicht Ernst machten. Sie klopften nur kurz an, ohne wirklich interessiert zu sein, ob jemand zu Hause war, und dann stürzten sie sich über das Mäuerchen am Ostrand des Dorfs hinab zum Friedhof, beugten die Spitzen der Zypressen und rauschten durch den Wald am gegenüberliegenden Hügel wieder hoch. Die Blätter der Bäume waren noch grün, nur vereinzelt blinkten gelbe Flecken heraus, fast wie Gischt auf bewegtem Meer. Ja, fast wie das Meer! Die Windböen ließen Wellen durch die Baumkronen laufen, denen Sgreccia mit den Augen folgte, bis sie oben über den Hügelkamm schwappten. Die Zweige schwangen zurück und hatten noch nicht ausgependelt, als sie die nächste Welle faßte.

Vielleicht ist es das, was bleibt, dachte Sgreccia. Das Spiel der Elemente. Daß der Wind den Wald in Meer verwandelte.

Sgreccia hustete. Ihm wurde nun doch kalt. Er spürte, wie sich trotz seiner Anzugjacke die Härchen an seinen Unterarmen aufstellten. Er hörte den Wind pfeifen und versuchte das Geräusch nachzuahmen. Ihm schien, daß der Wind lauter wurde. Vielleicht lachte er ihn auch aus.

»Lach nicht!« sagte Benito Sgreccia leise. Er verschränkte die Arme vor der Brust, doch er wußte, daß ihm nicht mehr warm werden würde.

Dann hauchte er sein Leben aus, und der Wind trug es aus dem Dorf, in dem Sgreccia geboren worden war, über den Friedhof hinweg und schwemmte es den gegenüberliegenden Hügel hinauf, wo es hinter dem Kamm verschwand.

»Wer hat dich entführt?« fragte ich.

Der Junge saß am Boden und zitterte, obwohl es nicht besonders kalt war.

»Sag mir, wer es war!« sagte ich sanft.

»Der böse schwarze Mann«, sagte der Junge.

»Der mit den feuersprühenden Augen?«

Der Junge nickte. Auf dem Steinboden neben ihm lag Seidenpapier. Rotes, schwarzes, gelbes.

»Beschreib ihn mir!« sagte ich.

»Er ist ganz schwarz angezogen und trägt eine Maske über dem Gesicht, aus der die Augen hervorglühen, und er ist groß und …«

»Wie groß? So groß wie ich?« fragte ich.

Der Junge schüttelte schnell den Kopf. »Nein, viel größer. Mindestens einen Kopf größer.«

Ich wußte nicht, was ich ihm glauben konnte. Fünf Minuten später würde er vielleicht etwas völlig anderes behaupten. Man kann ja in das Hirn eines Menschen nicht hineinschauen. Entweder du traust ihm oder eben nicht. Ich halte mich eher an die zweite Variante: Wenn du dich auf andere verläßt, bist du schon verlassen. Wer hat das gleich gesagt?

»Nimm doch eine Decke!« sagte ich zu dem Jungen.

»Was?«

»Weil du so zitterst.«

»Ich zittere gar nicht«, sagte der Junge. Das war gelogen. Ich sah klar und deutlich, daß er zitterte.

»Gut«, sagte ich. Es gibt immer mehr als eine Wahrheit. In seiner zitterte der Junge eben nicht. War es dieselbe Wahrheit, durch die ein böser schwarzer Mann mit feuerspeienden Augen tobte? Der Junge hatte Schreckliches erlebt. Ich mußte Geduld mit ihm haben. Alles braucht seine Zeit. Der Junge griff nach einem Bogen roten Seidenpapiers und faltete ihn über Eck. Er richtete die Kanten sorgfältig übereinander aus. Dann öffnete er den Bogen wieder und faltete ihn über die andere Diagonale.

»Vertrau mir!« sagte ich. »Ich bin immer da. Darauf kannst du dich verlassen. Ich werde dem schwarzen Mann sagen, daß er dir nichts tun darf, weil du so ein braver Junge bist. Ich passe auf dich auf, jetzt und heute nacht und dein ganzes Leben lang. Das verspreche ich dir.«

Der Junge begann zu weinen. Er tat mir fürchterlich leid.

»Warum weinst du?« fragte ich.

»Ich weine doch gar nicht«, schluchzte er.

Da wußte ich, daß es nicht gut enden konnte.

Sgreccias drei Tage Leben hatten damit begonnen, daß er Lidia Marcantoni um die Schlüssel fürs Pfarrhaus bat. Wie um seine Forderung zu bekräftigen, stand hinter ihm eine Leibwache von vier Frauen, die mit Besen, Staubsauger und Wischlappen bewaffnet waren. Lidia kannte keine von ihnen, und das bedeutete, daß sie nicht aus der Gegend stammen konnten. Schließlich lebte Lidia seit mehr als siebzig Jahren hier. Die Marcantonis waren eine alteingesessene Familie. Und eine der angesehensten in Montesecco, auch wenn Lidias Geschwister ihrer Meinung nach den Ruf der Familie nicht sehr förderten. Doch solange Lidia atmete, würde sie das Schlimmste zu verhindern wissen.

»Die Schlüssel?« fragte sie ablehnend. Schon seit Ewigkeiten stand das Pfarrhaus leer. Der Pfarrer kam nur noch sporadisch aus Pergola, um die Messe zu lesen. Er brauchte jemanden in Montesecco, der ab und zu nach dem Rechten sah. Jemand Besseren als Lidia Marcantoni hätte er dafür nicht finden können. Sie hütete das ihr anvertraute Eigentum der Kirche, als hinge ihr Seelenheil davon ab.

»Die Schlüssel fürs Pfarrhaus? Warum?« fragte sie.

»Wegen dem Saal im ersten Stock.«

»Das ist kein Saal, das ist ein großes Zimmer. Und was willst du dort überhaupt?«

»Erst mal saubermachen.« Sgreccia wies mit dem Daumen auf die Putzkolonne hinter sich.

»Und dann?«

»Das ist privat«, sagte Sgreccia.

»Privat!« wiederholte Lidia in einem Ton, der vor Verachtung troff. Mit einer solchen Begründung hätte selbst der Papst vergeblich um die Schlüssel gebettelt. Lidia drehte sich um und zog die Tür hinter sich zu.

Bevor sie ins Schloß fiel, fragte Sgreccia schnell: »Was kosten eigentlich neue Bänke für die...

Erscheint lt. Verlag 7.11.2013
Reihe/Serie Montesecco-Romane
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Dorf • Entführung • Erbe • Ermittlung • Geld • Gesellschaft • Italien • ItalienKrimi • Krimi • Kriminalroman • Montesecco • Mord • Regionalkrimi • Roman • Verbrechen
ISBN-10 3-8412-0776-6 / 3841207766
ISBN-13 978-3-8412-0776-0 / 9783841207760
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