Reise in das Land der Lager (eBook)

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2013 | 1. Auflage
638 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73492-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Reise in das Land der Lager -  Julius Margolin
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1. September 1939. Julius Margolin, Bürger mit polnischem und britischem Pass, der seit kurzem mit Frau und kleinem Sohn in Palästina lebt, hält sich in Lodz auf, als die Wehrmacht sein Land überfällt. Im Auto flieht er nach Osten, vorbei an den Flüchtlingstrecks, die von den Deutschen bombardiert werden. Doch der Schwarzmeerhafen Constanza, wo er sich nach Haifa einschiffen wollte, bleibt unerreichbar: Als die Rote Armee am 17. September in Ostpolen einmarschiert, wird die rumänische Grenze abgeriegelt. Auf seiner Odyssee durch das von Hitler und Stalin eingekeilte östliche Europa wird er Zeuge, wie Juden auf den Marktplätzen die Sowjets als Befreier bejubeln, wie ihre Begeisterung im Laufe des Winters in Entsetzen umschlägt, als die Behörden hebräische Bücher verbieten und schließlich die jüdische Bevölkerung aus der Stadt vertreiben. 1941 wird er verhaftet und in ein Straflager am Weißmeerkanal deportiert. Halbtot, zufällig gerettet, schreibt er 1947 in Israel nieder, was ihm geschah. Doch niemand wollte etwas hören von Lagern im Land der »Befreier vom Faschismus«. Erst heute erscheint sein Zeugnis ungekürzt auf Deutsch. Ungewöhnlich ist nicht nur der Horizont des Berichts, der Holocaust und sowjetische Vernichtungspolitik umschließt. Margolin, dessen Buch in Ton und Haltung an Primo Levi erinnert, ergreift den Leser, weil er als Leidender wie als Zeuge auf seine Rechte pocht und sich wie ein Mensch aus einer anderen, besseren Welt verhält.

<p>Julius Margolin, 1900 in Pinsk geboren, 1971 in Tel Aviv gestorben, wuchs in Russland auf, studierte Philosophie in Berlin und &uuml;bersiedelte 1937 nach Pal&auml;stina. 1941-1945 war er in einem Gulag am Wei&szlig;meerkanal inhaftiert. Sein 1947 verfasster Bericht erschien gek&uuml;rzt: 1949 von Nina Berberova &uuml;bersetzt in Paris, 1952 in New York auf Russisch, 1965 auf Deutsch. </p> <p>Erst 2010 erschien die erste vollst&auml;ndige Fassung - in franz&ouml;sischer &Uuml;bersetzung.</p>

[Cover 
1 
[Informationen zum Buch oder Autor 
2 
[Titel 
3 
[Impressum 
4 
Reise in das Land der Lager 5
Erster Teil 7
Anstelle eines Vorworts 9
1 September 1939 13
2 In der Falle 28
3 Geschichte einer Desillusionierung 46
4 Intermezzo in Pinsk 60
5 Der Prophet Elias 87
6 Das Gefängnis von Pinsk 92
7 Ein rollender Sarg 114
Zweiter Teil 125
8 Am Weißmeer-Ostsee-Kanal 127
9 Das 48. Quadrat 139
10 Rabgushsila 147
11 Gespräche 167
12 Karelins Brigade 178
13 Entmenschlichung 189
14 Waldarbeit 209
15 Die Sanitätsstelle 224
16 Mein Feind Labanow 236
17 Gardenbergs Brigade 250
18 Abend in der Baracke 263
19 Die Menschen im 48. Quadrat 276
20 Frühjahr 1941 291
Dritter Teil 303
21 Transport 305
22 Amnestie 325
23 »Du musst einfach arbeiten!« 344
24 Iwan Alexandrowitsch Kusnezow 363
25 Brief an Ehrenburg 377
26 Die Kultur- und Erziehungsstelle 394
27 Isaak der Fünfte 413
28 Lagerneurose 431
29 Im Badehaus 448
30 Im Büro 462
Vierter Teil 477
31 Maxik 479
32 Die Lehre vom Hass 494
33 Ein Invalidenschicksal 509
34 Die Brigade der chronischen Fälle 525
35 Der Weg nach Norden 539
36 Kotlas 555
37 Block 9 564
38 Block 5 579
39 Entlassung 594
40 Schlusswort 602
Anhang 609
Anmerkungen der Übersetzerin 611
Olga Radetzkaja Der einsame Zeuge Julius Margolin und sein Bericht aus der Unterwelt 620
Zeittafel 630
Auswahlbibliographie 633
Veröffentlichungen des MAOZ, Tel-Aviv 633
Andere Veröffentlichungen 634
Editorische Notiz 635
Inhalt 637

131?September 1939


Im Sommer 1939 glaubten wir nicht an einen Krieg. Wir wussten alle, dass er unvermeidlich war. Aber niemand war darauf vorbereitet, dass er morgen beginnen würde. Die Realität hat gezeigt, dass auch die polnische Armee nicht vorbereitet war und die westliche und transatlantische Demokratie ebensowenig. Am allerwenigsten vorbereitet waren die Juden der Stadt ?ód? – eine Viertelmillion zum Tod verurteilter Menschen. Wenige Tage vor der Katastrophe lief eine demonstrierende Menge durch die Straßen von ?ód?. Auf ihren Transparenten stand: »Keine polnische Staatsbürgerschaft für Deutsche!« Als sie durch die jüdischen Straßen zogen, riefen die Demonstranten: »Juden, ihr seid als nächste dran!« … Zwei Wochen später war ?ód? in deutscher Hand.

Am Vorabend des Krieges erklärten die Polen französischen Korrespondenten, Polen sei stark genug, Deutschland auch ohne die Hilfe der Sowjets entgegenzutreten. Zwei Wochen später hätten sie eine solche Hilfe dankbar entgegengenommen, auf Knien, mit Blumenkränzen und Triumphbögen. Doch es war zu spät. Am 17. September 1939 marschierte die Rote Armee als Hitlers Verbündete in Polen ein.

Im Sommer 1939 glaubten wir nicht an einen Krieg. Tausende von Menschen, die sich nicht in Polen hätten aufhalten müssen, die das Land hätten verlassen können, wenn sie gewollt hätten, blieben aus Leichtsinn. Die Masse der jüdischen Bevölkerung blieb, wo sie war. Auf der einen Seite stand Hitler, auf der anderen die ganze Welt. Dass Deutschland sich zu einem Zweifrontenkrieg entschließen würde, schien unwahrscheinlich.

Erst am Abend des 23. August 1939 war klargeworden, dass es Krieg geben würde. An diesem Abend erfuhr die Welt von Stalins Pakt mit Hitler. Das Gefühl des Entsetzens, mit dem wir diese Nachricht aufnahmen, kann man mit dem Entsetzen von Zoobesuchern vergleichen, vor deren Augen das Tigergehege geöffnet wird. Die hungrigen Raubtiere erheben sich, die Käfigtür steht offen. Genau das war es, was der »Führer der Völker« am 23. August tat: Er ließ ein wildes Tier auf Europa los, er 14gab der deutschen Armee seinen Segen für ihren Überfall auf Polen. Diesen »weisen Schritt«, den käufliche Schreiber umständlich zu rechtfertigen versuchen, haben zig Millionen mit dem Leben bezahlt. Russland hat für das Verbrechen des 23. August mit einem Meer von Blut und unmenschlichem Leiden bezahlt. Dies war nicht der kürzeste Weg zur Vernichtung Hitlers, aber der kürzeste Weg zur Verwüstung Europas. Diese Verwüstung begann im September 1939 mit Stalins Segen. Der »Führer der Völker« konnte mit dem Ausgang seines Spiels zufrieden sein, auch wenn sein ursprüngliches Kalkül nicht aufging. Der »Kampf der Raubtiere«, wie die Ereignisse der Jahre 1939/40 in der sowjetischen Presse bezeichnet wurden, musste hastig in einen »großen Krieg zur Verteidigung der weltweiten Demokratie« umbenannt werden. An die Stelle des schadenfrohen Lächelns, mit dem die sowjetische Führung dem Weltenbrand zugeschaut hatte, trat sehr bald ein Ausdruck des Entsetzens. Für uns, für die einfachen Bürger, mit deren Blut auf dem politischen Markt gehandelt wird, war der 23. August 1939 ein dunkler, unheilvoller Tag.

Zwischen dem ersten und dem 17. September erlebten wir ein erschütterndes Schauspiel: den Zusammenbruch Polens. Ein Staat mit einer Bevölkerung von 36 Millionen, eine ganze Welt mit Gut und Böse, mit historischen Traditionen und einer tausendjährigen Kultur stürzte ein wie ein Kartenhaus. Der Krieg war schon in der ersten halben Stunde verloren, als die polnischen Streitkräfte dem Ansturm der deutschen Panzerdivisionen bei Pozna? nicht standhielten.

Dieser erste Septembertag begann in ?ód? mit einem ganz normalen Morgen. Auf dem Schreibtisch eines Amtszimmers in der Behörde, wo ich gerade zu tun hatte, klingelte das Telefon. Der Mann hinter dem Schreibtisch nahm den Hörer ab, und plötzlich wurde sein Gesicht dunkelrot; er riss die Augen auf und brüllte in den Hörer: »Was? Was soll das heißen?«

Ich eilte zu ihm: »Ist bei Ihnen zu Hause etwas passiert?« Er legte den Hörer auf. »Die Deutschen haben aus der Luft angegriffen – Warschau, Krakau, Lwów … es ist Krieg!«

?ód? wurde an diesem Tag noch nicht bombardiert. Aber am nächsten Morgen wurden wir von Detonationen geweckt. Am Himmel standen deutsche Geschwader in Dreiecksformation. Die vereinzelten Flakgeschosse konnten ihnen nichts anhaben … Offensichtlich gehörte der 15Himmel über unseren Köpfen schon Hitler: In dem Moment, als die Flugzeuge über mir hinwegflogen, wurde mir klar, dass nichts sie daran hinderte, ihre Bomben auf jeden beliebigen Platz und jede Straße der Stadt abzuwerfen; wenn sie es nicht taten, dann war das nur dem guten Willen der deutschen Befehlshaber geschuldet. Den Krieg hatten wir uns anders vorgestellt.

Am dritten Tag folgte ein Bombenalarm auf den anderen, ohne Pause. Die Arbeit brach zusammen, ebenso der Verkehr, Nachrichten über den Verlauf der Kampfhandlungen gab es nur von deutscher Seite. Das Unheil rückte näher. In der Nacht nach diesem dritten Tag begegnete mir im blinden, augenlosen, verdunkelten ?ód? die erste Verrückte. Die Frau lief im Finstern die Trottoirs auf und ab, rang die Hände und stammelte unzusammenhängende Worte. Vielleicht war ihre Familie gerade eben von einer deutschen Bombe getötet worden, und sie wusste nicht mehr, wo sie hinsollte und wo sie zu Hause war. Sie war die erste: Hinter ihr rollte eine Lawine von menschlichem Leid auf uns zu. Ich erkannte die vertrauten Straßen meiner friedlichen Stadt nicht mehr, sie waren zu einem Dschungel geworden, in ihren schwarzen Ruinen verbarg sich der Tod.

Die Deutschen schlichen sich an wie ein riesiges, kaltes Reptil, und jeden Abend hörten wir die Stimme Hans Fritzsches: näselnd und langsam, giftig, gehässig, voll spöttischen Triumphs und drohender Untertöne. Die in Polen ausgestrahlte deutsche Sendung begann immer mit einer Moniuszko-Polonaise. Diese feierlich-fließende Melodie kann ich bis heute nicht hören, ohne zusammenzuzucken – als wäre ein Hakenkreuz daraufgeschmiert.

In der Morgendämmerung des fünften Tages verließ ich ?ód?.

In aller Frühe hatte ich einen Anruf bekommen: »Wir haben noch einen Platz im Auto frei. Abfahrt in einer Viertelstunde.« An jenem Morgen standen die Deutschen fünfzig Kilometer vor der Stadt. Ich nahm meine Aktentasche und trat auf die Straße. Es war ein strahlend heller Septembertag. »Bis ich nach Hause komme, kann es gut einen Monat dauern«, dachte ich, »ich sollte besser einen Mantel mitnehmen.« Ich kehrte um und nahm meinen Sommermantel von der Garderobe, dann hängte ich ihn wieder zurück. Stattdessen nahm ich – man kann nie wissen – einen soliden Herbstmantel mit, in den das Etikett des ?ód?er Herstellers Ennigkeit eingenäht war. Mit diesem Ennigkeit und meiner 16Aktentasche, in die mir eine verwirrte Hausangestellte aus irgendeinem Grund meine Hausschuhe gepackt hatte, verließ ich ?ód?.

Anders als andere Juden wusste ich genau, wo ich hingehörte: nach Palästina. Seit 1936 lebte ich dort mit meiner Familie; in Polen hielt ich mich in diesem Sommer nur als Gast auf. Nur mein polnischer Pass verband mich noch mit dem Land – und die Sentimentalität des polnischen Juden.

Vom Patriotismus der polnischen Juden kann man heute nur noch in der Vergangenheitsform sprechen. Es gibt keine polnischen Juden mehr. Die Polen, die in der Berek-Joselewicz-Straße wohnen, können auf uns und unsere Anhänglichkeit gut verzichten. Doch an jenem Morgen, als die lange Geschichte meiner Flucht begann, war ich aufrichtig bewegt, und in meinem Bewusstsein schob sich die polnische Tragödie vor jene andere Tragödie, an die allein ich hätte denken sollen: die Tragödie meines Volkes.

In den zwanzig Jahren seiner Unabhängigkeit hatte das Polen der Legionen drei Verbrechen begangen, für die es jetzt büßen musste: drei Fehler, von denen jeder einem Verbrechen vor der Geschichte und dem menschlichen Gewissen gleichkam. Das erste Verbrechen war seine Politik – die Politik eines Volkes, das eben erst das Joch nationaler Unterdrückung abgeschüttelt hatte – gegenüber den nationalen Minderheiten. Weißrussen, Ukrainer, Litauer und Juden wurden im polnischen Staat unterdrückt, sie waren nicht gleichberechtigt. Das zweite Verbrechen war die inhumane, aggressive Ideologie der polnischen Rechten, jener innenpolitische Zynismus, der – zumal nach Pi?sudskis Tod – die Hitler'schen Methoden auch in der polnischen Gesellschaft populär gemacht hat und der das moralische Antlitz des polnischen Volkes bis heute zu einer antisemitischen Grimasse verzerrt. Das dritte Verbrechen war die Außenpolitik, der fehlende Wille zur Verteidigung der europäischen Demokratie, der 1938 in einem schändlichen Verrat zum Ausdruck kam: Polen half Deutschland bei der Aufteilung der Tschechoslowakei und knüpfte damit selbst die Schlinge, die sich später auch um seinen Hals legte. Hitler bediente sich Polens, um die Tschechoslowakei zu vernichten, und ein Jahr später bediente er sich Russlands, um Polen zu vernichten. Die Methode war dieselbe – hier wie dort verließ er sich auf die blinde Gier und den hemmungslosen Zynismus seiner Partner.

Unser Auto trug uns fort aus ?ód?. Zu beiden Seiten der Chaussee 17lagen Wälder, Felder und Wiesen in der Sommersonne, lag wie eine lebendige Zielscheibe, den Mördern preisgegeben, das polnische Land. Auf den ganzen einhundertdreißig Kilometern bis Warschau begleiteten uns deutsche...

Erscheint lt. Verlag 11.11.2013
Übersetzer Olga Radetzkaja
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Putešestvie v stranu ze-ka
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Berichte • Erinnerungen • Geschichte • Holocaust • Sowjetunion • Sowjetunion, Geschichte
ISBN-10 3-518-73492-X / 351873492X
ISBN-13 978-3-518-73492-6 / 9783518734926
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