Der bleiche König (eBook)
640 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30717-7 (ISBN)
David Foster Wallace, 1962 geboren, gilt als einer der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Literatur. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. »Unendlicher Spaß«, »Kurze Interviews mit fiesen Männern«, »Der Besen im System« und »Der bleiche König«. David Foster Wallace starb am 12. September 2008.
David Foster Wallace, 1962 geboren, gilt als einer der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Literatur. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. »Unendlicher Spaß«, »Kurze Interviews mit fiesen Männern«, »Der Besen im System« und »Der bleiche König«. David Foster Wallace starb am 12. September 2008. Ulrich Blumenbach, geboren 1964 in Hannover und aufgewachsen in Lüneburg, hat Anglistik und Germanistik in Münster, Sheffield und Berlin studiert und arbeitet seit 1993 als literarischer Übersetzer aus dem Englischen und Amerikanischen sowie als Gelegenheitslektor und -kritiker.
§ 5
Das ist dieser Junge, der die grell orangefarbene Schärpe anlegt und die Kinder aus den unteren Klassen über den Zebrastreifen vor der Schule lotst. Nachdem er für Essen auf Rädern seine Frühstückstour durch das Seniorenstift in der City absolviert hat, dessen Geschäftsführerin sich immer mit einem Hechtsprung in ihr Büro rettet, wenn sie sein Wägelchen durch den Korridor quietschen hört. Die stählerne Trillerpfeife hat er ebenso von seinem Taschengeld bezahlt wie die weißen Handschuhe, deren Handflächen er den Autos entgegenstreckt, während Kinder, die sich nicht allein angezogen haben, hinter ihm die Straße überqueren, manchmal sogar zu rennen versuchen, obwohl er sich eine Plakattafel mit einem Smiley und der Aufschrift GEHEN, NICHT RENNEN! angefertigt hat. Den Autos, deren Fahrer er kennt, winkt er, schenkt ihnen ein extra breites Lächeln und wirft ihnen aufmunternde Bemerkungen zu, während sich der Zebrastreifen leert, die Autos anfahren und an ihm vorbeibrettern, wobei manche zum Scherz ein bisschen ausscheren und ihn um Haaresbreite verfehlen, und er lacht dann nur, tänzelt beiseite und setzt eine Miene vorgeblichen Erschreckens ob der Kotflügel und hinteren Stoßstangen auf. Das eine Mal, wo ein Kombi ihn nicht verfehlte, war wirklich ein Unfall, und er schrieb der Dame mehrere Briefe und versicherte ihr absolut glaubhaft, dass ihm das klar sei, und er bat alle möglichen Leute, mit denen er sich bislang noch nicht hatte anfreunden können, seinen Gips zu signieren, verzierte die Krücken sorgfältig mit bunten Bändern, Lametta und Glitzerlack, und noch bevor der von den Ärzten mit strengen Mienen verordnete Mindestzeitraum von sechs Wochen verstrichen war, hatte er die Krücken schon der Pädiatrieabteilung vom Calvin Memorial gespendet, um die Genesung eines weniger glücklichen Kindes aufzuhellen, und am Ende der ganzen Angelegenheit fühlte er sich bemüßigt, für den jährlichen Essaywettbewerb in Sozialkunde einen sehr langen Essay zu der Frage zu verfassen, wie sogar eine durch einen Unfall verursachte schmerzhafte und kräftezehrende Verletzung dabei helfen kann, neue Freunde zu gewinnen und auf Mitmenschen zuzugehen, und dass der Essay nicht gewann und nicht einmal ehrenvolle Erwähnung fand, machte ihm ehrlich nichts aus, weil er fand, das Schreiben des Essays sei schon an sich ein Gewinn gewesen, und er hatte aus dem ganzen Prozess der neun Überarbeitungen sehr viel über sich selbst gelernt und freute sich aufrichtig für seine Mitschüler, deren Essays Preise gewannen, und sagte ihnen, er sei mehr als hundertprozentig sicher, dass sie sie verdient hätten, und wenn sie ihre Preisessays aufbewahren und vielleicht sogar Geschenke für ihre Eltern daraus machen wollten, würde er sie nur zu gern abtippen und laminieren und, wenn sie wollten, die Rechtschreibfehler korrigieren, falls er welche fände, und zu Hause legt sein Vater dem kleinen Leonard die Hand auf die Schulter und sagt, er ist stolz darauf, dass sein Sohn so ein guter Verlierer ist, und lädt ihn zur Entschädigung zu Dairy Queen ein, und Leonard sagt seinem Vater, er ist ihm sehr dankbar, und die Geste bedeutet ihm sehr viel, aber wenn er ganz ehrlich sein soll, ist es ihm noch lieber, wenn sein Vater das Geld, das er sonst für Eiscreme ausgeben würde, Easter Seals oder besser noch UNICEF spendet, um die Not der hungerleidenden Kinder in Biafra zu lindern, die, wie er schwören kann, von Eiscreme wahrscheinlich nie auch nur gehört haben, und er wettet, sie fühlen sich dann beide sogar besser als nach einem Besuch bei DQ, und während der Vater die Münzen in den Schlitz des besonders leuchtend orangefarbenen UNICEF-Spenden-Pappsparkürbisses steckt, kleidet Leonard seine Besorgnis über das nervöse Zucken seines Vaters in Worte, zieht ihn ein bisschen wegen seines Zögerns auf, das mal vom Hausarzt der Familie untersuchen zu lassen, erwähnt noch, laut der Tabelle an der Zimmertür ist die jährliche Vorsorgeuntersuchung seines Vaters jetzt schon drei Monate überfällig und die empfohlene Auffrischungsimpfung gegen Tetanus sogar schon acht Monate.
Während der ersten und zweiten Stunde übernimmt er die Gangaufsicht (nach Punkten ist er eine halbe Klasse weiter), verwarnt aber weit mehr, als dass er tatsächlich einträgt – er soll helfen, findet er, und niemanden zur Strecke bringen. Zusammen mit den Warnungen gönnt er seinen Gesprächspartnern meist ein Lächeln und meint, sie seien nur einmal jung und sollten das genießen, warum sie nicht in die Welt gingen und jeden Tag eine gute Tat vollbrächten, ab durch die Mitte. Er arbeitet für UNICEF und Easter Seals und initiiert in drei Klassen gleichzeitig eine Recyclingkampagne. Er ist gesund und frisch gewaschen und immer gepflegt genug, um Verbindlichkeit auszustrahlen und Respekt für die Gemeinschaft, der er angehört, und in der Klasse meldet er sich höflich bei jeder Frage, aber nur, wenn er sicher ist, dass er nicht nur die korrekte Antwort kennt, sondern diese auch so formulieren kann, dass die Lehrerin damit die Diskussion des übergreifenden Themas voranbringen kann, das an dem Tag gerade dran ist, und oft geht er nach dem Unterricht noch kurz zur Lehrerin, um sich zu vergewissern, dass er ein solides Verständnis ihrer Lernziele mitbringt, und um zu fragen, ob er seine Diskussionsbeiträge im Unterricht womöglich noch irgendwie verbessern oder hilfreicher gestalten kann.
Die Mom des Jungen hat beim Backofenreinigen einen schrecklichen Unfall erlitten und wird in Windeseile ins Krankenhaus gefahren, und obwohl er außer sich vor Sorge ist und beständig um ihre Stabilisierung und Genesung betet, bleibt er freiwillig zu Hause, übernimmt den Telefondienst, gibt nach einer alphabetischen Liste von Verwandten und besorgten Freunden der Familie Informationen weiter, sorgt dafür, dass Post und Zeitungen nicht im Briefkasten liegen bleiben, schaltet abends in unregelmäßigen Abständen die Lampen im Haus ein und aus, wie Officer Chuck, der Kontaktbereichsbeamte der Michigan State Police für Verbrechensprävention, das an staatlichen Schulen immer für den Fall empfiehlt, dass mal keine Erwachsenen zu Hause sind, ruft auch die (auswendig gelernte) Notrufnummer der Gasgesellschaft an, um das möglicherweise schadhafte Ventil oder den Stromkreis im Backofen überprüfen zu lassen, bevor womöglich noch ein weiteres Familienmitglied zu Schaden kommt, und arbeitet (heimlich) an einer gewaltigen Sammlung von Wimpeln und Fähnchen und WILLKOMMEN-ZU-HAUSE- und BESTE-MOM-DER-WELT-Transparenten, die er mithilfe der (von einem verantwortungsbewussten Erwachsenen aus der Nachbarschaft festgehaltenen und überwachten) ausziehbaren Leiter aus der Garage mit wasserlöslichem Leim sorgfältig an der Hausfassade anbringen will, um die Mom zu begrüßen und zu bejubeln, wenn sie mit einer medizinischen Unbedenklichkeitsbescheinigung von der Intensivstation entlassen worden ist, was Leonard seinem Vater über das Münztelefon auf der Intensivstation mehrmals versichert, dass er persönlich keinerlei Zweifel an dieser medizinischen Unbedenklichkeitsbescheinigung hegt, jede Stunde ruft er pünktlich auf die Minute an, bis eine technische Störung das Münztelefon lahmlegt und er nach dem Wählen nur noch einen hohen Ton hört, was er der Telefongesellschaft ordnungsgemäß unter der 1-616-Störfallnummer durchgibt, wobei er auch daran denkt, die (für alle Fälle notierte) spezielle achtstellige Inventarnummer des Münztelefons anzugeben, was die klein gedruckten technischen Angaben ganz hinten im Telefonbuch bei der 1-616-Störfallnummer für eine schnelle und effiziente Behebung des Problems empfehlen.
Er versteht sich auf mehrere Versionen von Kalligrafie, hat am Origami-Lager teilgenommen (zwei Mal), kann aus freier Hand außergewöhnliche Skizzen der regionalen Flora anfertigen, alle sechs Nouveaux Quatuors von Telemann pfeifen und außerdem praktisch jede Vogelstimme nachahmen, die Audubon je untergekommen ist. Mit Wissenschaftsverlagen korrespondiert er manchmal über mögliche Kategorien- und/oder Grammatikfehler in ihren Fachbüchern. Von Buchstabierwettbewerben fangen wir gar nicht erst an. Er kann aus normalen Zeitungen über zwanzig verschiedene Admirals-, Cowboy- und Geistlichenhüte sowie Kopfbedeckungen diverser Ethnien falten und meldet sich freiwillig, um in den Kindergartenklassen der Carl-P.-Robinson-Grundschule zu hospitieren und das den Kleinen beizubringen, ein Angebot, das der Rektor zu schätzen weiß, nach reiflicher Überlegung aber ablehnen muss. Der Rektor kann den Jungen auf den Tod nicht ab, ohne das recht begründen zu können. Der Junge erscheint ihm im Schlaf, an den zerfaserten Rändern seiner Albträume – das gebügelte karierte Hemd und der streng gezogene Scheitel, die Sommersprossen und das gewinnende Lächeln: Womit kann er dienen? Der Rektor malt sich aus, wie er Leonard Stecyk einen Fleischerhaken in das strahlende Gesicht bohrt und den Jungen mit dem Gesicht nach unten hinter seinem VW-Käfer über die unebenen neuen Vorstadtstraßen von Grand Rapids schleift. Die Fantasien tauchen aus dem Nichts auf und schockieren den Rektor, einen frommen Mennoniten.
Alle hassen den Jungen. Es ist ein vielschichtiger Hass, bei dem sich die Hassenden oft niederträchtig fühlen, ein schlechtes Gewissen haben und sich selbst hassen, weil sie einem so umfassend gebildeten und wohlmeinenden Jungen mit solchen Gefühlen begegnen. Aber dann hassen sie ihn unwillkürlich nur noch mehr, weil er in ihnen einen solchen Selbsthass schürt. Die ganze Angelegenheit ist äußerst verwirrend und verstörend. Man braucht viel Aspirin, wenn er in der Nähe ist....
Erscheint lt. Verlag | 7.11.2013 |
---|---|
Übersetzer | Ulrich Blumenbach |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Arbeitsplatz • Beamte • Behörde • Beruf • David Foster Wallace • Illinois • Langeweile • Posthum erschienen • The Pale King • Unendlicher Spaß |
ISBN-10 | 3-462-30717-7 / 3462307177 |
ISBN-13 | 978-3-462-30717-7 / 9783462307177 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 2,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich