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Die letzten Dinge (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Aufl. 2013
Eichborn (Verlag)
978-3-8387-4947-1 (ISBN)
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Eher durch Zufall gerät Lotta, Mitte zwanzig, als Stationshelferin in ein Pflegeheim. Dort sorgt sie mit ihren Kollegen für alte Menschen, die zu krank oder zu verwirrt sind, um diesen Ort jemals aus eigener Kraft wieder zu verlassen. Der Tod ist allgegenwärtig und spaziert so zufällig über die Station, als müsste er sich überlegen, wen er diesmal mitnimmt. Annegret Held gelingt das Unglaubliche: ein höchst lebendiges Buch über das Leben und Sterben mitten unter uns, und ein leidenschaftliches Plädoyer für eine barmherzigere Sicht der Dinge, die alle Komik, alle Weisheit und allen Trost umschließt. Mit mitreißender Sprachkraft und voller Sympathie für ihre Figuren schildert sie die raue Wirklichkeit dieses vergessenen Ortes und nennt das Liebenswürdige und das Problematische, das Harmlose und das Bedrohliche beim Namen.

Ein hohes Haus , ein Schindeldach, und so viele Fenster. So viele Fenster! Unter jedem Dach ein Ach, unter diesem Dach so viele Ach, und aus jedem Fenster ein Weh noch dazu.

Valerija Webknecht, geborene Schiwrin, betrachtete widerwillig die Front und das Eingangsschild: »Haus Abendrot«. Seniorenzentrum.

Valerija aber las: »Hotel Hölle – Guten Tag«. Sie las noch mehr: »Seniorenanlage: Zum letzten Geschäft. Seelenabschussrampe Speedway. Pension Krückengeschwader. Klassisches und fortgeschrittenes Mumienschieben«. Und sie las auch: »Welcome to the Hotel California: You can check out any time you want – but you will never leave«.

Valerija fürchtete sich. Sie fürchtete sich vor dem Haus. Sie fürchtete sich vor dem rothaarigen Gnom, der ihr Vater war. Vor allem aber fürchtete sie sich vor Schwester Nadjeschda. Und das war der einzige Grund, warum sie jetzt tief Luft holte und die schwere Glastür aufdrückte. Gelb gestrichen. Alles gelb. Haus Abendrot. Irreführung der Angehörigen. Versuch einer Hoffnung. Haus Scheinheilig. Ein Haus wie ein Kindergarten, in den gleichen Farben. Etwas sanfter. Weiße Gardinchen, Basteleien an den Wänden, Vögelchen, Blümchen, Herbstblumengestecke. Die Alten wurden wie Kinder, der Kreis schloss sich.

Immer schwerer wurden Valerijas Schritte. Treppe hoch. Erster Stock. Zweiter Stock. Dritter Stock. Vielleicht konnte sie Nadjeschda vermeiden. Schnell das Zimmer suchen, hineingehen, eine Flasche Rotbäckchen hinstellen und wieder verschwinden. Denn wenn Nadjeschda sie sah, würde sie sagen: Warum Sie sind nicht gekommen! Vater ganze Zeit alleine!

Nun, es war tatsächlich ihre Pflicht, hier aufzutauchen, und aus irgendeinem Grunde hatte sie den Vater auch gemocht. Mehr als die anderen, er hatte manchmal gespielt mit ihr, mit Zündholzschachteln, sie erinnerte sich. Im dritten Stock herrschte ein eigentümliches lichtes Rosé vor. Am Stationszimmer klebten Engelchen. Ausgerechnet. Die großen Engel, die hier herumliefen, schienen reichlich ausgelutscht. Wenn man so sagen durfte. Dann kam allerdings ein Prachtbursche des Weges entlang. Was für ein Kerl. Er legte den Kopf schief und zwinkerte ihr zu. An wen erinnerte er sie bloß? Marlon Brando oder so. Das heiterte etwas auf.

Zimmer 311, murmelte Valerija. Stand eine Weile vor der Tür. Las: Schiwrin. Ihr Name. So hatte sie selbst geheißen, die längste Zeit ihres Lebens. Sie klopfte. Hörte nichts. Klopfte noch mal.

Moshno vojti? Vater? Ich bin es, Valerija! Kann ich reinkommen?

Aber sie hörte nichts. Von links näherte sich gewaltigen Schrittes eine gut genährte Schwester, Valerija zuckte zusammen, öffnete die Tür und ging schnell hinein. Nicht, dass sie der Schwester begegnete. Sie sah sich vorsichtig um. Ein kleiner Flur mit Spüle und Hängeschrank, eine Tür zum Bad, schwach beleuchtet, etwas brummte noch, ein Entlüfter über der Toilette war noch in Betrieb. Sie schaute vorsichtig und angstvoll um die Ecke. Da lag er. Sie sah ihn gleich. Er war noch kleiner geworden. Etwas in ihr krampfte sich zusammen und Widerstände und Schuld und Hass fielen in sich zusammen. Schiwrin lag mit dem Gesicht in der Ritze des Sofas vergraben, er trug einen schwarzen, leicht glänzenden Sportanzug, die Gardinen waren zugezogen und ließen noch Tageslicht hinein. Das Sofa war eigentlich ganz schön, der Tisch, der Schrank, Valerija staunte über die Möbel. Sie standen noch da vom Vorgänger. Schiwrin hatte nichts mitgebracht, gar nichts. Im Zimmer stand alles still. Kein Fernseher lief, kein Radio spielte, kein Papier raschelte, Schiwrin atmete schwach.

Valerija hustete.

Dobri djen.

Schiwrin murmelte etwas. Er wagte nicht, sich umzudrehen, weil immer noch die Möbel hin und her liefen. Das war nicht gut. Er war nicht Alice im Wunderland. Er war ein alter Mann, dem es nicht gut ging. Auch wenn er keine Schmerzen hatte und Nadjeschda ihm mit dem Morphium hinterherlief.

Oichee, sagte er. – Muss ich schon wieder trinken? Ich will nichts trinken.

Vater, sagte Valerija noch mal.

Schiwrin war es, als hätte er: »Vater« gehört. Aber das konnte nicht sein. Sie wollten alle nichts von ihm wissen und er hatte das immer verstanden. Schließlich, nach einer endlosen Weile, löste Valerija sich aus ihrem Stillstand und berührte unter äußerster Anstrengung mit der Kuppe ihres Mittelfingers seine Schulter.

Ich bin es. Valerija. Ich bin gekommen, dich zu besuchen.

Schiwrin wurde es siedend heiß. Das waren keine sprechenden Möbel. Das war kein Versehen. Das war seine schönste Tochter.

Was? Oichee, oichee, warte …

Schiwrin drehte sich vorsichtig um, er war schwach, aber sein Herz schlug jetzt wild. Valerija? Und aus der Lungengegend schien ihm etwas Flüssigkeit nach oben zu kommen, er musste sich räuspern, er geriet durcheinander, noch mehr durcheinander, aus den Tiefen kam etwas emporgegurgelt, etwas, das durch den vertrockneten Tränenkanal kriechen wollte, tatsächlich, er hatte es sich nicht eingebildet, da war sie, da stand sie, Valerija, die so schön war, dass er es nicht gewagt hatte, sie anzuschauen ab ihrem siebten Lebensjahr. Valerija, die so gestraft war mit diesem schrecklichen Vater. Schiwrin drehte sich und drehte sich und war immer noch nicht auf der linken Seite angelangt, er sollte sich setzen, er musste doch aufstehen, die verdammten Knochen, sein verdammtes, untaugliches und eingesunkenes Gestell, wie erbärmlich, wie erbärmlich er hier vor ihr kroch. Und dazu seine aufsteigenden Gefühlen, sie besuchte ihn, tatsächlich, da stand sie, die Möbel rührten sich nicht, alles stand still an seinem Platz.

Valerija schluckte auch. Ein stolzes Gefühl drückte ihr Kinn hoch. Weichheit duldete sie nicht. Sie war stolz, sie war Russin.

Was machst du, Väterchen?

Oichee, ich liege, wie du siehst. Es hat mich erwischt. Ich büße für all meine Sünden.

Valerija zog sich einen Stuhl herbei. Sah ihren Vater so dürftig, so voller Qualen, und doch konnte er immer noch listige, manchmal lustige Sätze bilden, das hatte sie vergessen. Selbstironie nannte man das. Sie versuchte, keine Miene zu verziehen. Die braunen Vorhänge, der kleine Mann, der abgestandene Geruch hinter ewig verschlossenen Fenstern.

Wie hast du mich gefunden?

Schwester Nadjeschda hat angerufen.

Oh, Nadjeschda … Schiwrin musste unwillkürlich in sich hineinkichern.

Valerija erinnerte sich an kein Gekicher ihres Vaters.

Bist du gut untergebracht? Wirst du gut versorgt?

Schiwrin nickte. Leidlich, leidlich. – Wie geht es der Mutter?

Sie wohnt jetzt in Bad Hersfeld. Sie hat dort Bekannte.

Oh, … hat sie einen anderen Mann gefunden?

Nein, sie ist alleine, aber es sind russische Leute dort. Na ja. Sie lebt.

Aah.

Sie schwiegen. Reden war ihre Sache nicht. Nie gewesen. Valerija fühlte sich unbehaglich. Saß auf dem äußersten Rand des Stuhles. War wütend, in dieser Situation zu sein.

Ich habe dir was mitgebracht.

Sie stellte ihm eine Flasche Rotbäckchen hin. Wartete eine Weile. Und schließlich zog sie ein Foto heraus in einem Bilderrahmen zum Aufstellen.

Was ist das?

Das ist Noah Benjamin. Dein Enkelkind.

Schiwrin tastete nach der Brille auf dem Nachttisch, er räusperte sich, nahm den Rahmen und seine Hände zitterten, er starrte auf das Bild und schob die Brille höher. Seine Rippen, die alten Knochengriffel, sie verschoben sich, er bebte, seine Nase schien zu schwellen, das Wasser kämpfte sich in seine Augen, ein trockenes Schluchzen entrang sich seiner Kehle. Er hatte es nicht gewusst. Nicht gewusst.

Oichee, ein schönes Kind, ein schönes Kind. Mein Tochter hat ein Kind geboren, oichee, was für ein Freude.

Seine Worte kamen langsam, so langsam, aber deutlich und klar und dunkel, nur etwas schwankend im Ton. Eine heftige, schmerzliche Liebe zu diesem kleinen Kerl mit nacktem Kopf, den er vielleicht niemals sehen würde, erfasste und bestürzte ihn zutiefst.

Betreten saß Valerija da. Vielleicht waren sie zu hart gewesen mit ihm. Vielleicht hatten sie etwas nicht kapiert, damals.

Warum bist du einfach davongegangen?

Eine Weile verging und Schiwrin sah nur immer auf das Bild. Irgendwann hielt Valerija es nicht mehr aus, sie sprang auf, riss die Gardinen und Fenster auf und ließ frische Luft in das Zimmer. – Was war da?

Garstig, sagte Schiwrin. – Sie war so garstig zu mir.

Valerija wusste nicht, ob sie etwas sagen sollte, ob das stimmte, was ihr Vater sagte, es war alles so lange her. Garstig, hatte er gesagt. Das stimmte, die Mutter konnte garstig sein. Besonders als sie in einem fremden Land war, in dem sie niemanden kannte, und der Ehemann war fort, weil er sich in anderer Leute Erde vergrub. Was nun. Was nun? So ein Besuch dauerte lange, es ging über ihre Kraft und über seine auch. Es hielt sie kaum noch in diesem Zimmer. Sie hatte ihm was geschenkt. Sie hatte ihn besucht. Das musste genügen, sie musste raus hier. Das stickige Gemäuer! Und während sie noch zur Tür hinsah, zu der sie hinauslaufen wollte, klopfte es an genau dieser Tür und schon flog sie beinahe aus den Angeln.

Oijoy! Was das? Oh, Herr Schiwrin hat Besuch!!

Nadjeschda stellte ein Tablett mit Brei und Tee auf den Tisch und schüttelte Valerija herzlich die Hand.

Wie gut, Sie sind gekommen! Ach, das gutt. So viel Freude für Herrn Schiwrin. Charasho. Stalko radosti dlja gospodina Schiwrin.

Valerija bedankte sich steif und hoffte, Nadjeschda sah ihr ihren Unmut nicht an.

Oh, sagte Nadjeschda, können helfen! Wir haben immer keine Zeit! Ihr Vater will nicht essen und nicht trinken, aber muss! MUSS! Geben ihm bitte den Brei und muss alles trinken!...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2013
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Altersheim • Angst • Besonders • Bücher • Drama • Ende • Endstation • Frauen Bücher • Frauen Bücher Bestseller • Frauenroman • Frauenroman Bestseller • Gefühl • Gefühle • Hoffnung • interessant • Liebe • Liebesleben • Liebesroman • Liebesromane für Frauen • Litcom • Pflege • Roman • Romane • Romantik • Sonstige Belletristik • Sterben • Tod • Tragik • Trauer • Unterhaltung • Vergessen
ISBN-10 3-8387-4947-2 / 3838749472
ISBN-13 978-3-8387-4947-1 / 9783838749471
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