Die Straße (eBook)

eBook Download: EPUB
2013 | 2. Auflage
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73454-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Straße -  Andreas Maier
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Am Anfang sind es bloß Doktorspiele, aber sie sind schon von einer Dringlichkeit, die eines Erwachsenen würdig wäre. Später kommt die Bravo und gibt erstmals eine Sprache dazu. Eine jugendliche Welt aus zeitschriftengeborenen Worten wie Petting, Glied und Scheide. Der Erzähler, drei Jahre jünger als seine Schwester und ihre Freundinnen, steht staunend vor ihnen und erfährt seine erste Aufklärung ausgerechnet mit »Alice im Wunderland« ... Andreas Maier widmet sich einem ebenso interessanten wie heiklen Thema. Dem Erwachen der Sexualität in den siebziger Jahren, einer Zeit, in der dieses Thema sorgfältig in einer Parallelwelt verschlossen wird. Und Andreas Maier geht ans Eingemachte.

<p>Andreas Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, studierte Philosophie und Germanistik, anschlie&szlig;end Altphilologie. Er lebt in Frankfurt am Main.</p>

Die Straße entlang standen die anderen Häuser. Jedes dieser Häuser war mir unbekannt, eine fremde Welt, verschlossen durch die Eingangstür. Was dahinter geschah, war für mich unvorstellbar. Die Häuser in unserer und in den angrenzenden Straßen hatten eine eigene physische Präsenz, wie für sich seiende Wesen. Ihr Wesen schien aus den Mauern, der Fassadenfarbe, der Größe und Anordnung der Fenster und all den nach außen sichtbaren Gegebenheiten zu bestehen. Im Grunde sahen diese Häuser im Mühlweg und überhaupt im Barbaraviertel alle gleich aus, es war eine eintönige Fünfziger- und Sechziger-Jahre-Architektur, aber gerade weil sie alle demselben Muster folgten, konnten die wenigen äußerlichen, voneinander unterschiedenen Einzelheiten jedem eine so individuelle Substanz geben, daß ich nie den ganzen Straßenzug sah, sondern immer diese einzelnen Hauswesen, hinter denen sich jeweils eine eigene, mehr oder minder völlig abgeschottete Welt befand. Manchmal sah man etwas von dieser Welt bzw. dem in dem jeweiligen Haus eingeschlossenen Leben. Etwa wenn die Bewohner im Garten saßen oder wenn der Familienvater das Automobil wusch, was damals regelmäßig jeden Samstag geschah. Manchmal sah man Menschen aus den Türen kommen, manchmal durch sie verschwinden, manchmal konnte man durch ein Fenster irgendein Detail dieser unvorstellbaren Welt erhaschen, die Ecke eines Wohnzimmerschranks, ein Bild. Irgendwelche Vasen.

Als Kind hatte ich natürlich eine unüberwindbare Angst vor diesen fremden Häusern, und es war fast unmöglich, mich in sie hineinzubringen. Schon vor der Fahrt nach Frankfurt zu meiner dortigen Verwandtschaft hatte ich Angst. Immer wenn ich ein fremdes Haus betrat, war ich überwältigt von sämtlichen Sinneseindrücken. Alles war fremd und anders, wobei ich auch hier sagen muß, daß diese Fremdheit nur dadurch so stark werden konnte, daß im Grunde alles in diesen Häusern gleich war. Hinter der Haustür kam fast immer die Treppe, und diese Treppe war ja nicht kategorial von anderen Treppen geschieden, sondern nur die Variation ein und derselben mir bekannten Form. Aber gerade die Akzidentien ließen alles so unterschiedlich wirken, Farbe, Lage, Geruch, die Enge oder Breite des Eingangs, welche Gegenstände um die Treppe herumstanden. Schon allein an der Treppe war das fremde Hausleben für mich fühlbar, sehbar und riechbar. Dort standen etwa Schuhe, deren Träger ich gar nicht kannte, und schon seit Jahren liefen diese fremden Menschen in diesen Schuhen in ihrem mir fremden Leben durch die Welt, nur wenige Meter von meinem Elternhaus entfernt und trotzdem universenweit fort. In jedem Ding sah ich in erster Linie nicht das Ding selbst, sondern den Menschen, der hinter diesem Ding steckte. Deshalb hatte alles diese lange Zeit so bedrohliche Nähe und Zudringlichkeit, weil die Dinge so waren, als stünde der Mensch bereits in den Schuhen und also direkt vor mir. Mit der Zeit gewöhnte ich mich natürlich an dieses Phänomen, je öfter ich, und inzwischen auch allein, fremde Häuser und fremde Wohnungen betrat. Die Angst verschwand, aber es blieb noch, sicher bis ich zehn, elf war, eine gewisse körperliche Abneigung, eine Art von Grundangewidertheit, wenn mich die Atmosphäre einer fremden Wohnung umschloß: das darin herrschende Licht, der darin liegende Geruch, die Konsistenz des Teppichs, der Vorhänge, der Schränke und Sessel und vor allem natürlich meistens die Erfahrung der Enge, denn unser eigenes Haus war groß und leer.

Vor allem muß mich diese heimelige Gemütlichkeit angeekelt haben, mit der die Wohnungen eingerichtet waren. Zumindest würde ich es heute so sagen: Man sah den Wohnungen an, daß die Bewohner es in ihnen heimelig und gemütlich haben wollten. Man sah den Willensakt. Besonders unangenehm war, wenn man mir aufnötigte, zum Essen zu bleiben, und wenn ich am Tisch in der Küche des anderen Hauses saß. Die Gerüche wurden dann am intensivsten, und ich saß mittendrin und sah den fremden Lebensrhythmus und die fremde Vertrautheit jener Familienmitglieder untereinander. Vielleicht stellte ich mir auch immer vor, ich wäre nicht in unserem Haus, sondern in diesem fremden anderen aufgewachsen, oder in einer fremden Wohnung, und dieses andere Licht und dieser andere Geruch und diese anderen Zimmer wären meine Welt gewesen. Dann wäre ich ja wie die anderen geworden, dachte ich. Die anderen aber waren offenbar anders als ich. Und das hing für mich auch mit jenen anderen Häusern und Wohnungen zusammen, in denen sie mit ihrer Familie zusammengepfercht waren wie Tiere in einem Stall. Die familiäre Enge der anderen stand in jähem Widerspruch zu meiner eigenen Familie. Dort war ich ja meist allein und konnte mich auch stets zurückziehen, was mir lange Zeit meiner Kindheit geradezu notwendig gewesen war. Dennoch suchte ich die anderen Häuser inzwischen aus einer Art Pflichtgefühl auf, vermutlich weil ich meinte, ich müßte mich daran gewöhnen, daß alles um mich herum anders war und alle in dieser gewissen Enge aufeinander herumhockten und das offenbar auch so wollten.

Die für mich erträglicheren Häuser gehörten denen, deren Familienleben eher kaputt war und die sich schon weitgehend voreinander zurückgezogen hatten. Häuser mit Einzelkindern, Akademiker, Lehrer oder dergleichen. Wo sowieso eine düstere Stimmung herrschte und jene gewisse emotionale Leere, konnte ich besser atmen, und die dort lebenden Kinder waren auch eher so wie ich. Sie standen mehr für sich, ich konnte sie besser ansprechen, es geschah nicht alles nach einem bloßen Mechanismus. Man merkte, sie befanden sich nicht in natürlichen Zusammenhängen und waren darin aufgehoben, sondern sie orientierten sich selbst bzw. versuchten dies, weil sie mußten. Sie neigten zum Fragen und zum Zuhören. Und sie konnten sich im Regelfall mit sich selbst beschäftigen. Es umwehte sie überdies immer eine gewisse Traurigkeit. Beispiel: Jener H., schlank, ein Fußballtalent, die Eltern lebten gemeinsam im Haus, aber waren nicht mehr zusammen (was ich zunächst gar nicht verstand), ein seltsam lebloser Kontakt zum Vater, der überdies gebrochen und gedemütigt wirkte, wie ein Fremdkörper im eigenen Haus (ein modernes Siebziger-Jahre-Haus im damaligen Neubaugebiet der Stadt). Was in dieser Familie vorgefallen war, weiß ich nicht, es ist alles denkbar: Sie hat ihn wegen eines anderen verlassen, er sie wegen einer anderen; er hat sie verlassen, ist aber mit der anderen Frau ins Unglück geraten und vegetiert nun als der Schuldige vor sich hin; denkbar auch: H. wird als Kind gezeugt, um die Ehe zu retten, was insgesamt mißlingt. Es war nun so, daß alles, was den anderen Kindern Spaß machte, bei H. fast wie eine Zwangshandlung wirkte. Seine ganze Selbstbeschäftigung wirkte auf seine Umwelt gezwungen. Beim Sport war er – ehrgeizig im gewöhnlichen Sinn möchte ich nicht sagen. Er war keiner von denen, die sich nach einem verschossenen Siebenmeter in der Halle (wir schossen auf Handballtore) rückwärts auf den Boden schmissen, die Hände vor dem Kopf zusammenschlugen und es nicht fassen konnten, daß sie gerade verschossen hatten, oder die sich lauthals bei den Mitspielern beschwerten, wenn die Pässe nicht ankamen oder nicht verwertet wurden bzw. der freistehende Mann gar nicht gesehen wurde. H. hatte kaum Kontakt zu seinen Mitspielern und wirkte auf dem Feld stets wie ein Solitär. Aber er trainierte viel verbissener als die anderen und am liebsten allein. Beim Spiel konnte er sich durch fünf oder sechs Mann hindurchdribbeln und bog seinen schmalen, langen Körper wie einen Bogen Papier im Windstoß nach da und da. Er machte sich beim Dribbeln quasi zur Negativform der anderen und fügte sich genau in ihre Zwischenräume, und sein Schuß war ansatzlos, trocken und äußerst wuchtig. In den Abendstunden stand er stets länger als die anderen auf dem Platz und zirkelte Ball um Ball auf das Tor, immer wieder. H. ging damals, da war er elf, zwölf Jahre alt, zeitweise ganz im Fußball auf, er fertigte Dutzende von Statistiken an und kannte sie allesamt auswendig. Er saß vor dem Radio und zwei Stunden später vor dem Fernseher und notierte Ergebnisse, Torschützen, Tabellen. Kannte, glaube ich, alle Spieler aller Mannschaften. Mit mir spielte er die ganze Europameisterschaft 1980 beim Tipp-Kick durch. Er hatte, was Statistiken anging, einen Vollständigkeitswahn. Und dennoch war er das Gegenteil eines gewöhnlichen fußballfanatischen Kindes, denn hinter allem war immer dieser Traurigkeitshintergrund zu finden, der mir damals selbst noch gar nicht so bewußt war, nach dem ich mir aber bereits die Menschen um mich herum aussuchte, ohne es zu merken. Wenig später verlor sich der Fußball aus H.s Welt, er wurde binnen kurzer Zeit komplett durch das Arno-Schmidtsche Roman-Universum ersetzt. Noch später wurde H. zu einem Nachtmenschen und schrieb, da war er fünfzehn, sehr eigenartige Geschichten, er war der erste Schriftsteller, den ich kannte, aber so weit sind wir noch nicht. Einige Jahre vorher, noch zur Fußballzeit, war H. dennoch bereits durch seine Andersheit, durch sein Nichtfunktionieren im gewöhnlichen Rahmen, durch seine Eigenwilligkeit und seinen für andere eher zwanghaften Charakter stigmatisiert bzw. erkennbar.

Auch mit seinem Vater, dem gebrochenen, konnte ich besser umgehen als mit anderen. Andere Väter kamen immer mit großem Schwung und großer Selbstsicherheit daher und integrierten mich sofort in irgend etwas, in ein Gespräch, das dann eigentlich nur sie führten, oder sie wollten, daß ich etwas erzähle, wobei ich immer merkte, daß sie gerade nur die typische Begegnung »Vater unterhält sich mit Freund des Sohnes« spielten. Sie waren immer aufgeräumt, gut gelaunt, frisch, und ich dachte stets: leben die wirklich so, und wie anstrengend ist das, sich...

Erscheint lt. Verlag 9.9.2013
Reihe/Serie Ortsumgehung
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 70er Jahre • Erzählung • Erzählungen • Franz-Hessel-Preis • Pubertät • Romane • ST 4567 • ST4567 • suhrkamp taschenbuch 4567
ISBN-10 3-518-73454-7 / 3518734547
ISBN-13 978-3-518-73454-4 / 9783518734544
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,1 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99