Nenn mich einfach Superheld (eBook)
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30720-7 (ISBN)
Alina Bronsky, geboren 1978, lebt in Berlin. Ihr Debütroman »Scherbenpark« wurde zum Bestseller und fürs Kino verfilmt. »Baba Dunjas letzte Liebe« wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und ein großer Publikumserfolg. 2019 und 2021 erschienen ihre Bestseller »Der Zopf meiner Großmutter« und »Barbara stirbt nicht«.
Alina Bronsky, geboren 1978, lebt in Berlin. Ihr Debütroman »Scherbenpark« wurde zum Bestseller und fürs Kino verfilmt. »Baba Dunjas letzte Liebe« wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und ein großer Publikumserfolg. 2019 und 2021 erschienen ihre Bestseller »Der Zopf meiner Großmutter« und »Barbara stirbt nicht«.
Ich wachte davon auf, dass mir jemand mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete. Ich versuchte sie mit der Hand wegzuschieben. Es war aber gar keine Taschenlampe, sondern ein Sonnenstrahl, also musste ich vor ihm wegrücken. Er kitzelte meine Nase, ich fuhr mit der Hand darüber und hatte plötzlich eine schwarze Haarsträhne zwischen den Fingern.
Alles fiel mir sofort wieder ein, und ich setzte mich auf.
Janne schlief neben mir. Wir hatten uns eine Decke geteilt. Sie lag darunter und ich darauf. Sie trug ein langes Nachthemd mit Spitzenbesatz. An jeder anderen hätte es absolut lächerlich ausgesehen. Jannes Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. An einer Schulter war das Nachthemd heruntergerutscht.
Es war hell, viel zu hell. Zu Hause hatte ich immer die Rollläden unten. Ich wollte meine Sonnenbrille zurechtrücken, aber meine Hand griff ins Leere.
Ich musste nicht lange suchen. Sie lag auf der Kommode. Ziemlich genau neben der Bürste.
Verdammte Scheiße, dachte ich.
Ich stieg vorsichtig über die gleichmäßig atmende Janne, lief auf Zehenspitzen durchs Zimmer und setzte das Ding auf die Nase. Drehte mich noch mal um. Janne sah unvorstellbar schön aus. Und ich hatte die Nacht in ihrem Bett verbracht und alles einfach verschlafen.
Es war ein wunderschöner Morgen. Friedrich, bis zu den Ellbogen mit Schaum bedeckt, scheuerte auf der Wiese das Gitterrost. Kevin schnarchte leise auf der Liege. Der Guru war nicht da.
»Abgehauen?« fragte ich Friedrich und deutete auf die leere Liege.
»Unter der Dusche.« Friedrich wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht. Jetzt hing der Schaum in seinen Augenbrauen.
Die Wiese sah aus wie nach einer Orgie. Die leeren Rotweinflaschen lagen unter dem Tisch. Pappteller und Stücke abgerissener Alufolie flatterten im Wind. Auf dem Tisch saß eine kleine getigerte Katze und leckte die Salatschüssel aus.
Ich kehrte ins Haus zurück und suchte in den Küchenschränken nach einer Mülltüte. Konnte keine finden und nahm stattdessen eine Einkaufstüte. Stieß dann mit dem Guru zusammen, der ein zerknautschtes Gesicht hatte und viel zu stark nach Rasierwasser roch.
»Jawohl, ich schäme mich«, sagte er. »Ich kann nicht begreifen, wie das passieren konnte.«
Ich zuckte mit den Schultern. Sollte er doch ein schlechtes Gewissen haben, das hatte noch niemandem geschadet.
»Ist noch jemand verletzt?«
Ich musste lachen. Dann ging ich mit meiner Tüte aus dem Haus und begann, den Müll einzusammeln.
Gegen Mittag wollten wir zusammen im Garten frühstücken. Eine Stunde vorher klopfte ich immer wieder an Jannes Tür.
»Kann grad nicht«, schrie sie jedes Mal, und es klang fröhlich, und ich fragte mich, woher sie wusste, dass ich es war, der da gerade klopfte. Oder ob sie mit jemand anderem rechnete. Oder ob es ihr egal war. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, dass sie mir die Brille abgenommen hatte, lief es mir eiskalt den Rücken herunter.
Kevin stand in unserem Zimmer, klagte über Migräne und versuchte, bei Marlon eine Kopfschmerztablette zu schnorren. Marlon behauptete, keine zu haben.
»Kann nicht sein«, quengelte Kevin und zupfte Marlon am T-Shirt. »Ich sehe es dir an, dass du was hast. Du musst noch mal nachschauen.«
Ich beobachtete das Schauspiel, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Marlon aus dem Weg zu gehen, und dem Bedürfnis, mit ihm zu reden. Ich fühlte mich wie ein Schwein, aber wie ein glückliches Schwein.
Deswegen wartete ich auf meinem Bett, bis Marlon Kevin abgeschüttelt hatte. Irgendwann begann Kevin zu weinen. Ich konnte es nicht mitansehen, sprang auf und wühlte im Koffer nach meinen Pillen. Drückte eine aus der Blisterpackung und hielt sie Kevin hin.
»Die ist gegen alles«, sagte ich. »Ich hab dich gewarnt.«
»Du bist mein Retter.« Kevin presste theatralisch die Hand, in der er die Tablette umschlossen hielt, an die Stirn, die andere ans Herz. Dann warf er Marlon und, weil der nicht reagierte, auch mir eine Kusshand zu und stöckelte aus dem Zimmer.
»Marlon«, sagte ich, als wir endlich allein waren. »Ich muss mit dir reden.«
Er stand leicht von mir abgewandt, die Hände in den Taschen, und wiegte sich hin und her. Irgendwie erinnerte er mich an einen Tiger hinter Gittern.
»Marlon«, sagte ich. »Ich weiß echt nicht, wie ich es dir sagen soll. Das Problem ist, du siehst wirklich perfekt aus, obwohl du es selber gar nicht beurteilen kannst, und ich bin hässlich wie die Nacht und werde es bleiben. Du kannst einfach nicht wissen, was das bedeutet. Außerdem bist du cool, und ich habe es wohl für immer verlernt, den richtigen Ton zu treffen.«
»Dein Telefon hat die ganze Nacht geklingelt«, unterbrach er mich.
Mein Handy. Ich fuhr hoch. Ich hatte noch kein einziges Mal daraufgeschaut. Ich hatte auch vergessen, Claudia eine Nachricht zu schicken, dass ich heil angekommen war. Wahrscheinlich war sie jetzt wahnsinnig vor Sorge. Sie hatte vielleich auch die Nummer des Gurus nicht. Sie wusste nicht einmal genau, wo wir waren.
Ich warf den Stuhl um, suchte das Telefon in meinem Koffer, im Schrank, entdeckte es schließlich in der Jackentasche. Ich fand elf Anrufe vor, alle von Claudia. Sie hatte gestern Abend angefangen, meine Nummer zu wählen, und erst im Morgengrauen damit aufgehört. Bevor ich die Nachrichten abhören konnte, las ich die einzige neue SMS. Sie kam von einer Nummer, die ich nicht kannte, und lautete: »Marek unser Papa ist tod bitte kom schnel. Ferdi«.
Zuerst hielt ich es für einen Scherz. Jemand wollte mich reinlegen. Ein Betrüger hatte die SMS geschickt, damit ich für mehrere Hundert Euro eine Nummer zurückrief, die ins Ausland weitergeleitet wurde. Wenn diese fünf Buchstaben nicht gewesen wären. Ferdi. Ferdi, das war der kleine Sohn meines Vaters und meines ehemaligen Au-pair-Mädchens. Mein Halbbruder, den ich nie gesehen hatte. Der vor sechs Jahren das Baby auf den Fotos gewesen war. Eigentlich Ferdinand, und Claudia hatte damals geseufzt: »Wie kann man das einem Kind antun?«
Plötzlich knickten mir die Knie ein, und ich hatte Angst, Claudias Nachrichten abzuhören. Sie hatte mir keine SMS geschickt, sie wollte es mir sicher persönlich sagen. Ich wollte es aber nicht persönlich hören. Ich wollte das Handy unters Kissen stecken, das Zimmer abschließen und frühstücken gehen. Ich wollte nichts damit zu tun haben.
Marlon kam näher. Sollten alle behaupten, dass er blind war, ich glaubte es ihm nicht mehr. Er fragte: »Was ist?«, und ich hielt ihm das Handy mit der geöffneten SMS unter die Nase. Er rührte sich nicht.
»Ich habe eine Nachricht bekommen.« Dann las ich sie ihm vor.
»Was ist Ferdi?« fragte Marlon.
»Der Sohn von meinem früheren Au-pair und meinem Vater.«
»Dein Bruder also.«
Ich schwieg.
»Und ist das dieser Vater, der tot ist?«
Ich sagte wieder nichts.
»Hat er einen besonders schrägen Humor, dieser Bruder?«
»Er ist noch klein«, sagte ich. »Sechs oder so.«
»Dann musst du wohl los«, sagte Marlon. »Zur Beerdigung.«
Ich wusste überhaupt nicht, was jetzt zu tun war. Was ich machen oder sagen sollte. Ich fühlte mich wie ein Erstklässler, der sich plötzlich ins Lehrerzimmer verirrt hatte. Ich fragte mich, ob ich überhaupt zur Beerdigung meines Vaters gehen musste, wenn wir doch zuletzt gar keinen Kontakt mehr hatten.
Aber mein Vater war zu mir ins Krankenhaus gekommen, also musste ich jetzt wohl auch zu seiner Beerdigung.
Ich fragte zur Sicherheit Marlon nach seiner Meinung.
»Spinn nicht rum«, sagte er.
Ich las noch mal die SMS durch. Sie war immer noch dieselbe. Marek unser Papa ist tod bitte kom schnel. Ferdi. Kein Buchstabe weniger.
»Wer hat die ganze Zeit versucht, dich zu erreichen?« fragte Marlon.
»Meine Mutter.«
»Ruf sie zurück.«
»Ich hab Angst.«
»Mach. Sonst wird es noch schlimmer.«
Ich nickte und wählte Claudias Nummer. Und sobald ihre Stimme im Hörer war, wusste ich, dass es keine Hoffnung gab, dass ich irgendetwas missverstanden hatte.
»Ein kleiner Bruder, wie niedlich«, sagte Kevin. »Hast du ein Foto?«
Richard sah ihn an und schüttelte den Kopf. Der Guru hielt seinen Schädel mit beiden Händen zusammen und sah immer noch nicht wirklich gut aus. Ich umklammerte mein Handy, als würde, sobald ich es losließ, noch jemand sterben.
Claudia hatte in den Hörer geweint. Ich hatte mich eigentlich schon daran gewöhnt, dass sie überhaupt nicht mehr weinte. Ich war bereit, so ziemlich alles dafür zu geben, dass es so blieb. Und nun das.
Ehrlich gesagt verstand ich nicht, warum sie überhaupt weinte. Warum sie »Ausgerechnet jetzt« schluchzte, als ob es heute viel schlimmer war als vorgestern oder übermorgen. Er hatte sie verlassen, und sie war längst ohne ihn glücklich. Sie hatten keinen Kontakt gehabt, zumindest ging ich fest davon aus. Sie hatte, da musste ich großzügig sein, immerhin ihren Dirk.
»Ach, Marek«, sagte sie, nachdem ich sie danach gefragt hatte. »Du hast wirklich keine Ahnung.«
Ich saß am Frühstückstisch, und alle sahen mich an. Höchst betroffen und mitfühlend, und am liebsten hätte ich sie angebrüllt, dass sie jetzt bitte wieder normal gucken sollten.
»Er hat uns verlassen, als ich ganz klein war!« redete ich auf sie ein, damit dieser Ausdruck aus ihren...
Erscheint lt. Verlag | 10.9.2013 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alina Bronsky • Das Schicksal ist ein mieser Verräter - John Green • Familie • Identitässuche • Identitätssuche • Kampfhund-Angriff • Scherbenpark • Selbsthilfe • Selbst-Hilfe • Trauma • Tschick - Wolfgang Herrndorf • Überwindung • Verlust |
ISBN-10 | 3-462-30720-7 / 3462307207 |
ISBN-13 | 978-3-462-30720-7 / 9783462307207 |
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