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Die linke Hand des Papstes (eBook)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
128 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-11561-3 (ISBN)
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Rom 2011. Ein deutscher Archäologe und Fremdenführer entdeckt in einer evangelischen Kirche zufällig den Papst - und gibt sich einem Wirbel von Fragen und Gedanken hin: Wann zuckt die Hand des Papstes, wann nicht? Bewegt sie sich, wenn er den regierenden Schurken sieht? Warum schmeichelt der libysche Diktator dem italienischen Regierungschef mit dreißig Berberpferden, und warum musste Augustinus den Kaiser mit achtzig numidischen Zuchthengsten bestechen, um die Erfindung der Erbsünde durchzusetzen? Weshalb ist Rom für die Deutschen ein Sehnsuchtsort, obwohl sie dort seit den Germanen, Landsknechten und Nazis als die schlimmsten Barbaren gelten? Eine Kölner Katholikin wäre gern Erzbischöfin, ein Mörder verschenkt das Pantheon, Ratten laufen über die Via Veneto - der Fremdenführer schaut hinter das Postkarten-Rom, streunt durch die Geschichte und preist die Kunst der Italiener, gleichzeitig ja und nein zu sagen. Eine Erzählung über das rätselhafte, herrliche, abgründige Rom der Gegenwart - und eine moderne Legende: wie der Papst zum Lutheraner wurde.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Ich blieb konzentriert als Beobachter der Schreibhände, die so viel bewegen könnten auf der Welt und sich jetzt nicht bewegten, und hatte gleichzeitig die linke Hand des Apoll vor Augen, des Verführers, des Möchtegern-Vergewaltigers. Die berühmte Skulptur, gemeißelt, geschlagen, geschliffen während des Dreißigjährigen Krieges, als Rom kräftig mitwirkte, Deutschland zu vergewaltigen – eine der sonderbaren Gleichzeitigkeiten, eine der Quizfragen ohne Antwort: Was haben Apoll und Daphne mit dem Dreißigjährigen Krieg zu tun? Hände, die sogleich die nächste Frage weckten, ob es richtig war, was ich mir gemerkt hatte, dass weder die Schreibhände des zehnten Innozenz, die Velázquez gemalt hatte, noch die seiner Nachfolger den Westfälischen Frieden von 1648 unterzeichnet und anerkannt hatten, die römische Kirche folglich seit mehr als dreihundertfünfzig Jahren mit den Deutschen im Kriegszustand lebte.

 

Da tauchte, da platzte die passende Erinnerung auf – endlich wusste ich, weshalb ich schon in der ersten Sekunde unserer distanzierten Begegnung gedacht hatte: die Hände, was ist mit den Händen? Nun begriff ich, warum ich so fixiert darauf war. Schon einmal hatte ich meine Einbildungskraft auf sie gerichtet, gerade ein halbes Jahr war das her, als ich, vor dem Fernseher, lange überlegt hatte, ob diese Hände, ob die rechte päpstliche Hand, ich vermutete stets einen Rechtshänder in ihm, noch zu einer Ohrfeige fähig wäre. Oder zu einem Zucken, das, unbeherrscht fortgesetzt, zu einer Ohrfeige führen könnte oder wenigstens zu einer spontanen, sofort wieder abgebremsten Bewegung. Oder ob die Würde des Amtes oder die Müdigkeit des Alters oder eine schwer in den Gliedern wuchernde Mutlosigkeit nicht nur jeden solcher Reflexe verboten, sondern auch den bloßen Gedanken an solche Reflexe eingeschläfert hatte.

 

Ein halbes Jahr zuvor, als der Öldiktator von der anderen Seite des Meeres nach Rom gekommen war, zum vierten Staatsbesuch innerhalb eines Jahres, um mit dem hier regierenden Diktatorenfreund die unverbrüchliche Freundschaft zu feiern und Geschäfte abzuschließen, schwer durchschaubare Staatsgeschäfte und Privatgeschäfte, als der Öldiktator und islamische Laienprediger das Christentum und die Kirche in burschikoser Art verhöhnt hatte, die selbst einem anständigen Ketzer zu weit ging, da hatte ich, vor dem Fernseher sitzend, an eine impulsive Bewegung der päpstlichen Hände denken müssen. Eine Ohrfeige nicht für den Gast, das gehörte sich nicht, sondern für den Gastgeber, der seinen Kumpel aus der Wüste von morgens bis nachts vor Mikrofonen und Kameras mit Komplimenten überschüttete.

 

Wie hatte der Mann, der neben mir auf der Marmorbank saß, vor einem halben Jahr die Nachricht aufgenommen, überlegte ich jetzt noch einmal, dass der regierende libysche Hurenbock anlässlich seines Staatsbesuchs beim regierenden italienischen Hurenbock, wie man sagen musste, wenn man die Sprache der Selbstzensur und der Diplomatie meiden und sich die Nähe zur Wahrheit leisten wollte, zehn Busse voll junger Mädchen gemietet und in den Garten seiner Botschaft vor sein Zelt bestellt hatte? Schön und verschwiegen hatten sie sein müssen, hieß es, und mit achtzig Euro zufrieden für die Statistenrolle bei einer Koranlektion, die ihnen der Diktator persönlich erteilt und drei der jungen Mädchen, mit oder ohne Geldbeihilfe, dazu gebracht hatte, zum Islam zu konvertieren.

 

Nicht allein diese Mission und die Konversion selbst dürfte den Papst und seine Berater aufgeregt haben, sondern, so schätzte ich, die neue Form religiöser Prostitution, die Tatsache, dass sich in der Hauptstadt der Christenheit auf Anhieb einige hundert junge Frauen fanden, die sich für den Preis eines Töpfchens Tagescreme und eines Lippenstifts als Komparsen für das Anwerbungsgeschwätz eines predigenden Wüstlings hergaben. In den päpstlichen Gemächern, stellte ich mir vor, mussten die uralten Fragen wieder aufgestiegen sein: wie heilig die heilige Stadt Rom noch, wie sündig das Sündenbabel am Tiber schon sei, wie bedrohlich die Statistik, dass in dieser Stadt nur noch die Hälfte aller Kinder getauft und bald jede zweite Ehe ohne den Segen der Kirche geschlossen wird. Wie schaut man von so hoher Warte darauf, dass nun die dümmsten Gänse für ein Linsengericht ihre Religion, sofern sie eine haben, freiwillig zum Gespött machen lassen. Und dabei dürfte ein Papst noch das Glück haben, nur unzureichend informiert zu sein über das römische Babel, wo Scharen dreizehnjähriger Mädchen von ihren Eltern in Schönheitskliniken geschickt werden, um ihnen marktgerechte Gesichter schneiden zu lassen, und wo es nicht selten vorkommt, dass Mütter arbeitssuchender junger Frauen sich selbst oder ihre Töchter den Chefs oder Personalchefs anbieten oder aufdrängen, um mit Hilfe des einen oder anderen Geschlechtsakts, wahlweise mit der Jüngeren oder der Reiferen, die Ausstellung von Arbeitsverträgen voranzubringen.

 

Was ihn noch mehr als die Trauer über die massenhafte Käuflichkeit der einst katholischen Menschen erregt haben dürfte, wird, dessen war ich sicher, eine Art Zorn gewesen sein, dass ein arabischer Herrscher und Koranprediger in die Hauptstadt der Christenheit einfliegt und, nah beim Vatikan, sich zu der Frechheit aufschwingt, das Christentum für unbedeutend zu erklären und Europa aufzufordern, sich zum Islam zu bekehren. Und diese Botschaft grinsend verkündet, urbi et orbi, vor fünfhundert gemieteten jungen Frauen und gierigen Kameras und Mikrofonen. Einige Kirchenvertreter, wenige Zeitungen hatten diese Frechheit kritisiert, nicht aber die Redakteure der Zeitungen und Kanäle des regierenden Fernsehdespoten. Seine Politiker bis hinunter zum Simplifizierungsminister hatten die Sätze gehört und, teils etwas gequält, teils achselzuckend, aber ohne Widerspruch hingenommen, um den Öldiktator nicht zu verstimmen und die Gewinne beim Autobahnbau, beim Waffenverkauf und der Installierung digitaler Netze in Libyen nicht zu gefährden. Sie hatten den religiösen Eifer des Gastes als Folklore abgetan, während die regierungsfrommen Fernsehanstalten und Zeitungen die Freundschaft und Eintracht zwischen dem Diktatorenfreund und dem Diktator feierten.

 

Damals, im August 2010, hatte ich zum ersten Mal gedacht, woran ich nun mit besserem Augenschein wieder anknüpfen konnte, ob einem Menschen wie dem Papst nicht manchmal die Hand zuckt, ob nicht doch ein Impuls in ihm wach wird, sich zu wehren und dem regierenden Heuchler, dem Gastgeber des kritiklos gefeierten Ölverkäufers und islamischen Laienpredigers, wenn schon keinen Faustschlag, dann eine Art Ohrfeige zu verpassen oder zu diktieren oder wenigstens die Untergebenen, die Bischöfe oder Pressesprecher, eine kleine, gut abgefederte und ausgewogene verbale Ohrfeige diktieren zu lassen und die Schreibhände einmal dafür zu nutzen, sich gegen die gröbsten Frechheiten zu verteidigen.

 

Gibt es das, überlegte ich nun wieder, dass ein alter, hochwürdiger Mann nach einem solchen musterhaften Aufstieg in den höchsten ihm erreichbaren Rang sich noch von einem gezähmten Zorn rütteln lässt und den natürlichen Reflex spürt, still für sich die Faust zu ballen oder einen Backenstreich auszuteilen wenigstens in Gedanken? Verbietet ihm die Angst vor der Todsünde Zorn auch das Zucken im Arm? Erstickt die Furcht vor der Sünde der Formlosigkeit jeden Impuls dieser Art schon im Keim? Oder muss die von mir vermutete Empörung oder die müde Idee an eine Empörung in den Wattekissen der Diplomatie versinken und in Hinterzimmervereinbarungen oder vagen Kommuniquéfloskeln sich auflösen? Wie lange muss, wie lange kann einer wie er die andere Backe hinhalten und still bleiben trotz des von ihm selbst abgesegneten Stillhalteabkommens? Trotz der Allianz seiner italienischen Bischöfe mit dem regierenden Haremshäuptling zum Nutzen und zur Schonung beider Seiten – sie funken ihm nicht dazwischen beim kriminellen Wirtschaften und bei privaten Vergnügungen, er erspart der Kirche Steuern und schenkt ihr Schulen, Lehrer und die ihr passenden Gesetze.

 

Ja, es hatte mich damals vor dem Fernseher eine sonderbare Sympathie, ein kurzes, aufrichtiges Mitleid mit dem päpstlichen Mann erfasst: Was macht er, wenn ihm die Hand zuckt? Sind ihm die Hände gebunden? Oder fühlt er sie nur gebunden? Welche Mittel hat er gegen einen der Kirche nützlichen und doch nur an sich selbst denkenden und sich selbst feiernden Gotteslästerer, der bei der Gründung seiner mafiafreundlichen Partei sich auf den Heiligen Geist berufen hatte, sich selbst als Jesus Christus der Politik hinstellte und den Diktator Russlands als Geschenk Gottes verehrte?

 

Ich wusste es damals nicht, ich wusste es jetzt nicht, als ich den alten Herrn mit dem milchig-violetten Gesicht bescheiden im Hintergrund sitzen sah, in echter oder gut gespielter Bescheidenheit, nur durch die Marmorbank etwas herausgehoben. Aber ich war sicher, dass er und ich, ein niepensionierter Kleriker und ein frühpensionierter Archäologe, trotz tausend Gegensätzen und Meinungsverschiedenheiten, damals im August, vielleicht nur dies einzige Mal, den gleichen Gedanken gehabt hatten: Wenn ein christlicher Staatschef aus einem europäischen Land in Tripolis aufträte und an fünfhundert junge Männer oder Frauen die Bibel austeilte und forderte, Arabien, Afrika müsse christlich werden, oder gar in Mekka eine solche Show abzöge, denn Rom kann hier nur mit Mekka verglichen werden, und ausriefe, Arabien solle bitte schön zum Katholizismus übertreten – er würde gesteinigt oder auf andere Art massakriert oder bestenfalls verjagt werden mit kriegerischen Folgen.

 

Der...

Erscheint lt. Verlag 6.9.2013
Reihe/Serie Delius: Werkausgabe in Einzelbänden
Delius: Werkausgabe in Einzelbänden
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Benedikt • Ratzinger • Rom
ISBN-10 3-644-11561-3 / 3644115613
ISBN-13 978-3-644-11561-3 / 9783644115613
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