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Der wahre Sohn (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
480 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-11571-2 (ISBN)
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Zunächst ist es für Krynitzki ein ganz normaler Auftrag: Er soll eine verschwundene Luxuslimousine ausfindig machen und von Kiew nach Deutschland zurückbringen. Mit solchen Missionen verdient der Enddreißiger seinen Lebensunterhalt, Versicherungen bezahlen ihn, und auch in diesem Fall scheint der Betrug auf der Hand zu liegen. Halb unbewusst vor seiner Familie und seiner zerrütteten Beziehung aus Berlin flüchtend, fährt Krynitzki nach Kiew - und stellt fest, dass der dortige Halter des Fahrzeugs ein hoher Beamter war, der vor wenigen Monaten gestorben ist. Krynitzki lernt die rätselhafte, eigentümlich anziehende Witwe Svetlana kennen - und ihren Sohn Arkadij, ein hochbegabter Geist, der in einer psychiatrischen Anstalt lebt und sich obsessiv mit der gewaltreichen ukrainischen Geschichte sowie mit dem Schicksal seiner vor Jahrzehnten verschwundenen Kinderfrau Olga befasst. Krynitzki erkennt, dass die Spuren zu der unauffindbar bleibenden Limousine wie zu Olga im Dunkel der Familiengeschichte zusammenlaufen, merkt aber nicht, dass er längst in einen gefährlichen Strudel geraten ist. Denn er wird selbst verfolgt ... Olaf Kühls großartig gezeichnete Figuren lavieren zwischen Sehnsucht und den Schatten der Vergangenheit, Betrug und Selbstbetrug. Ein hochliterarischer Roman über die schmerzhafte Suche nach der Wahrheit.

Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Eins


Ganz früh am Morgen aufstehen, wenn im ersten Tageslicht die Spatzen loslegen. Die Vögel singen heller, wenn alles ruhig ist. Nach der gepackten Reisetasche greifen, nicht richtig ausgeschlafen und doch wach und ein bisschen wie verkatert, obwohl man nicht viel getrunken hat am Abend, die Wohnungstür zuschlagen und die Treppen hinuntergehen, durch diesen Geruch von Bohnerwachs und undefinierbarem Eintopf, die Tasche auf den Rücksitz des Wagens werfen, einen letzten Blick hoch zu den Fenstern im dritten Stock des Mietshauses, in denen sich das rosigblasse Blau des frühen Wolkenhimmels spiegelt, sodass fast nichts dahinter zu erkennen ist, kaum das Grün der Zimmerpflanzen, zwei große Gummibaumblätter an der Scheibe, dann hinters Lenkrad steigen, den Zündschlüssel nach rechts drehen, über diesen kleinen Widerstand hinaus, und gespannt zusehen, wie der Benzinzeiger die Skala hochklettert. Den Motor anlassen und eine Weile dem gleichmäßigen, tiefen, fast: gesunden Geräusch der Zylinder lauschen, die ihr Gas in die Straßen blasen. Die Kraft von Generationen steckt in dieser Maschine, dieser beeindruckenden Frucht der Arbeitsteilung. Die schützende Scheibe herunterkurbeln und kühle Morgenluft hereinlassen. Wissen, dass es kein Zurück gibt. Onkel Wolfgang konnte schon tot sein.

Es ist noch nicht Marlenes Zeit. Sie schläft noch. Erst später am Vormittag wird sie aufstehen und die Zeitung aus dem Briefkasten holen. Bei dem Gedanken daran, wie oft er sie aus der Wohnung hat treten sehen, senkt sich sein Fuß zwei Zentimeter tiefer aufs Gaspedal. Er sieht sie die Treppe hinuntergehen, so wie sie sie tausendmal hinuntergegangen ist, sie hält den Morgenmantel mit der Hand zusammen, der Gürtel ist verloren, vor Jahren bei einem Skiurlaub in Österreich. Dabei trägt sie Hausschuhe. Als würde ihr bloßes Erinnerungsbild die Macht haben, ihn aufzuhalten, als könnte diese Gedankenfigur ihn zurückziehen wie eine wortlos ausgestreckte Hand, zurück in die Stadt, in diese Wohnung, und er würde sich von der weißen Haut des Bauches zwischen den auseinanderwehenden Bademantelschößen zum tausendsten Mal verführen, dann überreden lassen. Dann würden die Gespräche von neuem beginnen, die endlosen Diskussionen der letzten Wochen und Monate. Über ihre Beziehung. Dass da jede Entwicklung fehlte. Dass sich nichts mehr tat …

Spricht eine Frau von Entwicklung, dann ist es schon zu spät. Dann geht es bald zu Ende. «Zwischen uns entwickelt sich nichts mehr.» Er lauschte dem gleichmäßigen Summen des Motors und dachte: Was soll sich, verflucht, entwickeln, wenn doch alles gut läuft? Die Erinnerung an solche Gespräche brachte ihn in Wut. Und als sich einmal wirklich bei ihr etwas entwickelte, im Bauch, hat sie es weggemacht. Ihre krakelige Unterschrift unter der Einwilligungserklärung hat er noch in der Schublade.

Mit fast neunzig durchrauscht er die Frankfurter Allee Richtung Osten, in der bitteren Genugtuung, ihr jetzt zumindest schon fast entkommen zu sein, wieder einmal. In Lichtenberg erwacht die ehemals herrschende Klasse der DDR. Solange er in Berlin ist, ist er noch nicht ganz gerettet. Er hat im Laufe der Jahre verschiedene Fluchten gewagt. Er wollte sich auf die Kehrseite des Lebens verdrücken. Hat lange als Nachtwächter gearbeitet. Ist für ein paar Wochen zu Günter gezogen, nach Prenzlauer Berg, tief in den Osten, hat sich dort versteckt. Es half alles nicht.

Er musste endlich richtig weg. Muschters Anruf kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Marlene wird nicht gleich zusammenbrechen. Sie wird nicht denken, dass es für immer ist, er verlässt sie ja nicht zum ersten Mal. Sie wird heute dasselbe tun wie an jedem Tag. Noch bevor sie mit der Zeitung wieder in ihrer Wohnung ist, wird der Wasserkessel auf dem Gasherd pfeifen. Dieses gedämpfte, aber unüberhörbare Zischen, so beruhigend wie das Läuten von Kirchenglocken. Sie wird mit einem Becher löslichen Kaffees zurück ins Bett steigen, sanft und weißhäutig und in Gedanken versunken, mütterlich und verständnisvoll, wahrscheinlich fühlt sie sich gut, vielleicht sogar moralisch überlegen, sie wird Konrads Flucht hinnehmen wie einen tollen Jungenstreich und vielleicht in sich hinein lächeln, sie wird Verständnis für ihn zeigen wie für das trotzige Kind, das sie nie hatte. Weil sie zu wissen glaubt, dass er am Ende wieder zurückkommen wird. Sie wird die taz lesen, wird sich wohlfühlen und sich ein paar Gedanken machen. Praktische Gedanken müssen das nicht sein, sie braucht nur das Gefühl, kritisch eingestellt zu sein, diese fortschrittliche Art von Lebensgefühl.

Dachte Konrad, wobei sein Fuß sich unmerklich vom Gaspedal hob.

Damals bei der Demo vor dem Amerika-Haus hatte sie in der vordersten Reihe gestanden und Pflastersteine geworfen. Ihre mit hellem Flaum bewachsenen, von den Sommermonaten auf Kreta braungebrannten Unterarme ragten aus den abgeschnittenen Ärmeln des Parkas. Damals kämpfte sie. Und er glaubte, sie würden etwas ändern können.

Heute Nachmittag hat sie Yoga um die Ecke, in einem Ladengeschäft, in dem so eine Frau ähnlich wie sie selbst Kurse anbietet. Dass überhaupt eine Frau ihr ähnlich sein kann, sagt schon alles. Früher wäre das unmöglich gewesen. Ihre Lebensmittel kauft sie im Bioladen. Kaffee aus Guatemala. Sie hat eingesehen, dass der frontale Kampf gegen das System keine Chance hat. Deshalb konzentriert sie sich nun auf die bescheidenen Dinge, die Graswurzelarbeit, den Widerstand im Kleinen, von dem sie gern erzählt. Gegen das Große da draußen unternimmt sie nichts mehr, diese Bewegung ist über sie hinweggegangen, sie hat sich damit abgefunden. Früher hat sie gern fotografiert, der ganze Flur hängt voll mit ihren Schwarzweißfotos, heute besitzt sie einen kleinen Laden für Fotozubehör und verdient damit, immer schlechter, ihr Geld. Sie reibt sich nicht mehr auf im Kampf. Stattdessen genießt sie ihr Leben bewusst, mag gutes Essen.

Im Osten geht tatsächlich die Sonne auf. Als er in Schönefeld den Berliner Ring verlässt und die immer geradeaus führende Fahrbahn nimmt, steht der goldrote, funkelnd warme Ball dicht über dem Horizont.

Die Autobahn Richtung Frankfurt/Oder ist leer.

Aus der Gegenrichtung, Grenze und Fürstenwalde, kommen ihm Pkws entgegen, die nach Berlin wollen, zur Arbeit. Ihn bringen höchstens ein paar Lkws zum Überholen. Deutschlands östliche Länder liegen wüst und leer. Die weiten Äcker und Felder der ehemaligen LPGs, die grauen Wirtschaftsgebäude aus Beton und Eternit wirken verlassen. Ab und zu huscht im Augenwinkel eine Siedlung vorüber, ein Dorf, Schemen von Scheunen oder Lagerhallen. Er kennt diese adretten, aufgeräumten Orte.

Er freut sich auf Polen. Polen durchdringt auch die geschlossenen Fenster, man braucht nicht einmal die Autotür zu öffnen. Im Winter der Rauch der Braunkohle aus den Schornsteinen, das Holz in den Dörfern. In Słubice ist dieser Geruch noch schwach, Słubice ist verdorbenes Slawentum, ein aufgegebenes deutsches Dorf, das noch zu keiner neuen Identität gefunden hat.

Er hat ihr nie gesagt, was er genau tut. Recherchieren, das klingt gut. Für wen, für eine Zeitung? Nein, für ein großes Unternehmen in Westdeutschland. Das erzählt er auch Freunden, das leuchtet am ehesten ein. Wenn er ehrlich ist, hat es weniger mit Diskretion zu tun als mit Scham. Denn gestohlene Autos zu suchen, dieser Job ist ihm peinlich, wenn er an die Pläne und Visionen der Studentenzeit denkt.

Die Sonne steht jetzt schon sehr hoch, sie blendet. Er klappt den Sonnenschutz herunter. Einmal hat er einen Sportwagen gesehen, der unter einen Lkw gerutscht war, auf der Autobahn nach Memel. Es roch verbrannt.

Jetzt wittert er diesem Geruch nach, erinnert sich aber nur an den heißen, widerlichen Plastikgestank, wenn er in den Sommerferien am Rastplatz wieder ins Auto stieg, das von der Sonne aufgeheizt war. In der kurzen grauen Lederhose mit den geschnitzten weißen Enzianknöpfen und der fettig dunkel gescheuerten Hinterseite verbrannte er sich regelmäßig die Schenkel auf den Kunststoffsitzbezügen. Aus der Motorhaube stanken Ölwanne und heiße Gummischläuche. Nach der Rast öffnete sein Vater die Türen und ließ kurz Luft hindurchwehen, dann gab er einen Wink und drückte seine Zigarette auf dem Boden aus. Das empfand er wie eine Drohung, was mit ihm geschehen würde, wenn er nicht sofort einstiege. Der Vater stand da, die rechte Hand an der Tür, glänzend spannte der graue Anzugstoff um seinen breiten Gorillarücken. Was sollte Konrad tun? Gegen den Vater kam er nicht an. Die Mutter sieht er nicht in der Erinnerung. Als wäre sie schon damals verschwunden gewesen. Mag sein, dass sie schon immer zu leichtgewichtig gewesen war, zu flüchtig, zu hell, zu wenig eindrücklich, wie durchscheinend. Manchmal kommt es ihm vor, als sei sie nichts weiter gewesen als eine Luftverquirlung, ein Flimmern der aufgeheizten Sommerluft, das sich Jahrzehnte in Bewegung gehalten hat, wie eine Fee, aber dann rasch verschwunden ist, aufgelöst in der durchsichtigen Weite, aus der sie eines Tages hervorgegangen war. Dieses Etwas musste ja immerhin geatmet haben, sagte er sich, unzählige Male die Luft ein- und wieder ausgeatmet haben. Schon kurz nach ihrer eigenen Geburt, dann in der Umarmung eines Mannes, vielleicht seines Vaters, hat sie heftig und laut geatmet, hat geschrien, die Luft ausgestoßen, dann wieder bei seiner Geburt, später ist ihr Atem flacher geworden, gleichmäßig und ruhiger, in so vielen Nächten, in denen er sie nicht mehr kannte … Die Luft über dem Kontinent war eine große Halle, in der sie lebte und atmete.

Und ihr Körper? Er wusste nicht, wo er jetzt war. Der...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2013
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familiengeschichte • Inkasso • Kiew • Psychatrie • Vergangenheit
ISBN-10 3-644-11571-0 / 3644115710
ISBN-13 978-3-644-11571-2 / 9783644115712
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