Um unsere Webseiten für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern, verwenden wir Cookies. Durch Bestätigen des Buttons »Akzeptieren« stimmen Sie der Verwendung zu. Über den Button »Einstellungen« können Sie auswählen, welche Cookies Sie zulassen wollen.

AkzeptierenEinstellungen

Noch ein Tag und eine Nacht (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 2. Auflage
304 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60371-2 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Wecker, Kaffee, Straßenbahn, Büro, Fitness, Pizza, Kino, Bett (wenn möglich nicht allein) ... So sieht Giacomos Leben aus, ewiggleiche Tage unter dem fahlen Himmel einer italienischen Großstadt. Eines Morgens fällt Giacomo in der Straßenbahn eine junge Frau auf. Am nächsten Tag sitzt sie wieder da. Über Monate beobachtet Giacomo sie, ohne sie anzusprechen - das morgendliche Treffen wird für ihn zum geheimen Rendezvous. Als schließlich sie ihn anspricht, ist er für ein paar Sekunden auf Wolke sieben. Gleich darauf schlägt er aber hart auf dem Boden auf: Denn Michela geht fort. Für immer. Nach New York. Giacomo ist völlig durcheinander. Versucht, sich wieder einzukriegen, sich für andere Frauen zu interessieren. Doch schließlich packt er seinen kleinen Rucksack und reist Michela hinterher.

Fabio Volo, geboren 1972 bei Brescia in der Lombardei, ist Autor mehrerer Bestseller, Schauspieler in Filmen z. B. von Alessandro D'Alatri und Cristina Comencini sowie in der Verfilmung seines eigenen Romans (?Il giorno in più - Noch ein Tag und eine Nacht?) durch Massimo Venier, und er hat eigene Sendungen in Radio und Fernsehen. Fabio Volo lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Mailand.

[15] Die Frau in der Straßenbahn

Wenn ich früher eine Frau sah, die mir gefiel, habe ich versucht, sie kennenzulernen – und vor allem, sie ins Bett zu kriegen. Nur ganz wenige, die mir gefielen, habe ich ausgelassen. Warum auch?

Die Frau in der Straßenbahn war eine der wenigen. Ich habe sie immer vor mir beschützt. Das war keine bewusste Entscheidung, es hat sich einfach so ergeben. Ich habe nie begriffen, ob es an ihr lag oder ob ich mich einfach verändert hatte. Gut zwei Monate lang sind wir uns jeden Morgen in der Bahn begegnet. Eine feste Verabredung.

Zusammen mit Alessandro betreibe ich eine Druckerei. Wir stellen Kataloge her, Bücher in kleinen Auflagen, Prospekte, Broschüren, Werbezettel, und vor den letzten Wahlen druckten wir auch Wahlkampfmaterial für beide Lager: Wir mussten nur die Farbe ändern, alles andere blieb sich mehr oder weniger gleich. Alle Politiker schwafeln von einer besseren Zukunft. Wahrscheinlich meinen sie das Paradies.

Vor ein paar Jahren habe ich als Angestellter angefangen, und irgendwann bin ich in die Firma eingestiegen. Es klingt vielleicht ein bisschen großspurig, aber alles, was ich anpacke, gelingt mir. Wenn ich mir etwas vornehme, dann schaffe ich es normalerweise auch. Das hat einen einfachen Grund: Was es mir in Liebesbeziehungen schwermacht, macht es [16] mir im Berufsleben leichter. Deshalb verdanke ich meinen Erfolg im Grunde genommen weniger einem Talent als einem Manko. Die Unfähigkeit, mit meiner labilen Gefühlswelt umzugehen, hat zwangsläufig dazu geführt, dass ich mich völlig in die Arbeit gestürzt habe. Emotional war ich schon immer eine Null. In der Arbeit fand ich eine Zuflucht. Dort war es von Vorteil, dass ich nie verliebt und abgelenkt war. Ich war immer der Meinung, mein Leben und meine Gefühle absolut unter Kontrolle zu haben, und so gedachte ich es auch weiter zu halten.

Auch im Ausland habe ich gearbeitet. Hauptsächlich als ich jung war. In London habe ich gelernt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren.

Die tägliche Begegnung mit der Frau in der Straßenbahn war das aufregendste Ereignis in meinem Alltag. Ansonsten lief es wie immer. Aber diese paar Minuten in der Bahn stachen heraus, waren klar wie ein Fenster zu einer anderen Welt. Eine Verabredung voller Farben.

Niemand, den ich kannte oder der auch nur im Telefonverzeichnis meines Handys stand, vermochte mich so aufzuwühlen wie die geheimnisvolle Unbekannte. Sie zog mich magisch an. Doch trotz meiner unbändigen Neugier sprach ich sie nie an.

Wenn ich in jenem Winter morgens in die Straßenbahn einstieg, saß sie immer schon da. Sie war wie eine Wolke. Sie musste um die fünfunddreißig sein. Wenn die Bahn kam, stellte ich mich auf Zehenspitzen und reckte den Hals, um zu sehen, ob sie drin saß. Wenn ich sie nicht entdeckte, wartete ich auf die nächste. Doch trotz dieser kleinen Vorsichtsmaßnahme kam es manchmal vor, dass ich ohne sie fuhr.

[17] Zu der Zeit begann ich vor dem Wecker aufzuwachen. Wenn ich sie nicht in der Straßenbahn sah, wollte ich nicht den Zweifel hegen müssen, dass sie vielleicht schon eine Bahn vorher gefahren war, und deshalb ging ich früher als üblich zur Haltestelle.

Oft träumte ich tagsüber mit offenen Augen von ihr, meist von uns beiden. Es ist schön, wenn es einen Menschen gibt, von dem man träumen kann. Selbst wenn es eine Unbekannte ist. Ich weiß nicht warum, aber wenn ich an sie dachte, kannten meine Gedanken keinen Punkt. Nur Kommas. Eine Lawine aus Worten und Bildern ohne Interpunktion.

Sie leistete mir Gesellschaft. Dabei bestand unsere Beziehung doch nur aus einem kaum angedeuteten Lächeln hier und da und kurzen, stummen Blicken.

Sie stieg zwei Haltestellen vor mir aus. Oft war ich versucht, ihr zu folgen, um etwas mehr über sie herauszufinden, aber ich hab’s nie getan. Ich habe nicht mal den Mut aufgebracht, mich neben sie zu setzen. Ich hielt den gebührenden Abstand ein, bemessen an freien Plätzen und einer guten Sicht. Tag für Tag trainierte sie meinen Blick, er wurde immer unauffälliger. Manchmal, wenn sie weit weg saß und ich ihr nicht den Kopf zuwenden wollte, schielte ich, bis mir irgendwann die Augen weh taten. Manchmal war die Bahn zu voll, und jemand stellte sich ausgerechnet zwischen uns, so dass ich sie nicht sehen konnte. Ich starrte sie nicht die ganze Fahrt über an, mir gefiel es, sie eine Weile zu beobachten, woanders hinzuschauen und den Blick dann wieder zu ihr wandern zu lassen. Zu wissen, dass sie da war, beruhigte mich. Der beste Sitzplatz war gleich neben der Tür. Wenn dieser Platz frei war, war das mein Glückstag, weil sie [18] auf mich zugehen musste, um auszusteigen, und dann lächelte sie mich zum Abschied immer an. Noch besser war es, wenn ich mich nicht setzte und an der Tür stehen blieb: Dann standen wir ein paar Sekunden lang nebeneinander, sie neben mir. Ich atmete sie ein. Sie war wie die frische Luft, wenn man morgens in den Bergen das Fenster aufmacht. Von ganz nah atmete ich sie ein, ohne sie zu berühren. Eines Tages vielleicht, sagte ich mir. Eine kurze Berührung gab es aber doch einmal. Eines Morgens, während sie darauf wartete, dass die Tür aufging, bremste die Straßenbahn scharf, und es warf sie in meine Richtung. Eine Sekunde lang hielt ich ihren Mantel in der Hand, nur ganz kurz. Am liebsten hätte ich die Hand nie mehr geöffnet, sie nie mehr losgelassen. Auch sie sah mich manchmal an, wenn sie so dasaß.

Häufig begegneten sich unsere Blicke, als wären wir heimliche Komplizen. Manchmal hatte ich Angst, sie schenkte mir ihre Blicke und ihr Lächeln nur aus Anstand.

Oft schrieb sie in ein orangefarbenes Heft mit Pappeinband.

Was schreibt sie da bloß? Ob sie schon mal über mich geschrieben hat?, fragte ich mich.

Ich sah ihr gern beim Schreiben zu. Vor allem weil sie dazu die Handschuhe auszog und weil sie dann völlig entrückt war. So sehr, dass es mich sogar ein bisschen eifersüchtig machte. Wenn sie schrieb, hob sie zwar die ganze Fahrt über den Blick nicht von ihrem Heft, aber mit anzusehen, wie sie so ganz in dem, was sie schrieb, aufging, machte sie noch faszinierender. Ich wäre gern in ihrer Welt vorgekommen.

Auch wenn sie las, ließ sie sich nicht ablenken. Sie setzte dazu eine Brille auf. Stand ihr gut. Ich fand es schön, wie sie [19] einen Finger unter die rechte Seite schob, ihn nach unten gleiten ließ und die Seite anhob. Eine natürliche Geste, doch mich schlug sie in Bann, denn ihre ganze Zartheit spiegelte sich darin.

An anderen Tagen wickelte sie eine Haarsträhne auf, ebenfalls mit dem rechten Finger.

Die Frau aus der Straßenbahn war schön. Mir gefiel ihr Gesicht, mir gefiel ihr Haar, das glatt, dunkel und voll war. Ihr Hals, ihre Handgelenke und ihre Hände. Am Ringfinger trug sie nur einen schmalen Trauring. Keine weiteren Ringe oder Armreife. Nur diesen schmalen Trauring. Am meisten hatten es mir aber ihre Augen angetan und was man darin sah, selbst wenn man ihrem Blick nur für einen kurzen Moment begegnete. Dunkel, tief, unausweichlich.

Kann man sich in einen Menschen verlieben, den man nicht kennt, den man nur Tag für Tag bei der Fahrt zur Arbeit in der Straßenbahn sieht?, fragte ich mich damals. Ich weiß es nicht. Ich weiß es noch immer nicht. Ich war nicht verliebt. Sie zog mich an. Was ich allerdings mit absoluter Gewissheit sagen kann, ist, dass ich mich irgendwie mit ihr verbunden fühlte und dass ich mir immer wieder dachte, dass das Schicksal ein Spiel mit mir spielte. Oder mit uns.

Einmal waren keine Sitzplätze mehr frei, und ich stellte mich genau vor sie. Allerdings mit dem Rücken zu ihr. Im Fenster sah ich ihren Blick. Sie schaute mich an. Wir trafen uns dort, auf jener Scheibe, die uns als durchsichtige Bilder zeigte. Und da, in der Begegnung unserer gespiegelten Gesichter, fand ich heraus, dass solche Blicke über Bande viel intimer sind als direkte. Als würde man beim Stehlen ertappt. Als machte diese Fläche auch einen heimlichen Wunsch [20] transparent. Als sie diesmal ausstieg und die Straßenbahn wieder anfuhr, drehte ich mich um und sah sie an. Sie tat dasselbe.

Zweimal wöchentlich hatte sie eine Sporttasche dabei, meist montags und donnerstags. Das sollte ich auch so machen, dachte ich. Also die Tasche mit ins Büro nehmen und nach der Arbeit direkt hingehen, obwohl das Fitnessstudio gleich bei mir um die Ecke ist. Dann würde ich bestimmt öfter trainieren. So aber ging ich nach Feierabend erst nach Hause, um die Tasche zu packen, und dann konnte ich mich nicht mehr aufraffen. Wenn ich nach einem anstrengenden Tag in die Wohnung komme, ist die Vorstellung, noch mal rauszugehen, alles andere als verlockend. Abgesehen davon, dass ich Hunger habe, wenn ich heimkomme, und mir immer erst mal etwas reinschieben muss. Dann sage ich mir jeweils: Ins Fitnessstudio gehe ich morgen.

Meine Beziehung zur Sporttasche ist eigenartig. Wenn ich sie abends packe, bekomme ich Lust, mich hineinzulegen und auf dem zusammengefalteten Bademantel zu schlafen. Außerdem müsste ich mir echt mal angewöhnen, sie gleich zu leeren, wenn ich nach Hause komme. Oft vergesse ich es, und es fällt mir erst wieder ein, wenn ich schon im Bett liege. Ich stelle mir das verschwitzte T-Shirt und den nassen Bademantel und die Badehose vor, die ich anhabe, wenn ich hinterher noch in die Sauna gehe. Dann muss ich wieder aufstehen und die Sachen aufhängen, weil ich sonst nicht ruhig schlafen kann. Ich möchte keine Champignonzucht vorfinden, wenn ich es erst am nächsten Tag mache.

Die Frau aus der Straßenbahn machte es richtig. Sie nahm die Tasche immer mit zur Arbeit.

An einem anderen...

Erscheint lt. Verlag 28.8.2013
Übersetzer Peter Klöss
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Il giorno in più
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristik • Gegenwartsliteratur • Italien • Liebesgeschichte • Manhattan • Naher Osten • New York • Rendezvous • Roman • Sabotage • Straßenbahn
ISBN-10 3-257-60371-1 / 3257603711
ISBN-13 978-3-257-60371-2 / 9783257603712
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Wolf Haas

eBook Download (2025)
Carl Hanser Verlag München
18,99
Roman

von Percival Everett

eBook Download (2024)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
19,99