Vogelweide (eBook)
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30718-4 (ISBN)
Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u.?a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020), »Alle meine Geister« (2023).
Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u. a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020), »Alle meine Geister« (2023).
Die Nase hatte ihn hier oft besucht, ließ sich nicht verscheuchen, stand in der Hütte herum, der ewige Streber, immer den Finger des Besserwissens in der Luft – ein falsches Bild, denn Eschenbach hatte ihn nie den Finger hebend, sondern immer nur drauflosredend erlebt. Er redete, redete über die geschäftlichen Strategien, aber mit Ausflügen ins Allgemeine, verbreitete seinen Meinungsmatsch, wenn er wieder einmal inbrünstig verlangte, alles in private Hände zu überführen, Wasser, Müllentsorgung, Schulen, über die Gewerkschaften redete, die er, weil so spießig und bürokratisch, hasste, tatsächlich war es ein Hass, der aus der eigenen Gefährdung entsprang. All das, was er sich erarbeitet hatte, Haus in Zehlendorf und Häuschen auf Sylt, könnte gefährdet sein.
Und dann lag, was Eschenbach besonders hasste, ein ständiges, mokantes Grinsen auf diesem breiten Mund. Jedes Mal wieder fragte er sich, ob dieses Grinsen auch dann anhielte, wenn er ihm eine aufs Maul hauen würde. Was Eschenbach in den Diskussionen der Nase entgegnete, war nie so schlagend wie das, was die Nase zuvor gesagt hatte. Hätte er sich wenigstens damit trösten können, dass der Mann unerträglich dumm sei. Aber das war er nicht. Er redete auf den Sitzungen in endlosen Schleifen, immer gut informiert, immer gut artikuliert. Ein strategisch denkender Mensch, der ihm, als er ihn erstmals traf, auf Anhieb unsympathisch war. Sie blickten sich an und wussten, dass sie einander nicht mochten, nein, es war eine tiefe Ablehnung, etwas, was sich gegen alles, gegen die ganze Existenz des anderen richtete. Ein Hass zunächst ohne genauen Anlass. Dieser ungezügelte Hass, der sich bei ihm gegen bestimmte Menschen einstellen konnte, war im Studium ein Grund seines Zweifels gewesen, ein guter Seelsorger werden zu können. Dieser Mann, die Nase, war ihm körperlich zuwider. Der Wunsch, der andere möge verschwinden. Sich auflösen. Ein Autounfall. Er sah den Salbadernden mit seinem Porsche, die Nase fuhr einen grässlich grünen Porsche, aus der Kurve fliegen. Er staunte über sich selbst, genoss aber das Bild. Den Wagen um eine solide Linde gewickelt. Nein, keine Linde, nicht der Baum des Lebens. Eine Pappel. Diese Bürstenbäume. Dennoch, die Pappel sollte nur leicht beschädigt sein und, obwohl sie die Nase beseitigt hatte, weiterwachsen. Er versuchte, sich zur Ordnung zu rufen, ganz wörtlich, er sagte zu sich, der Mann verhält sich dir gegenüber korrekt. Er mag dich so wenig wie du ihn. Du hast ihm nichts vorzuwerfen. Doch. Ich werfe ihm vor, dass er da ist. Dass ich ihn ertragen muss. Auch er muss dich ertragen. Vielleicht hat er ganz ähnliche Wünsche, sieht dich mit deinem roten Saab im Straßengraben. Der Gedanke beruhigte ihn jedes Mal. Er musste über sich selbst lachen. Über diesen kindlich albernen Zorn. Aber dann hatten sie eine ihrer Strategiebesprechungen, und die Nase versuchte wieder mit wortreicher Perfidie, ihre Interessen durchzusetzen. Bleib ruhig, sagte er sich, aber das machte ihn noch unruhiger, noch wütender. Nach solchen Sitzungen musste er manchmal das Hemd wechseln.
Kein Trost war, dass seine Abneigung von den meisten im Büro, was er buchstäblich im Vorbeigehen hören konnte, geteilt wurde. Das gab seiner Empfindung etwas von der Banalität der Meinungsmehrheit. Selbstverständlich hatte er nie mit anderen, abgesehen von Fred, seinem Partner, über die Nase gesprochen.
Eine Zeitlang schwankte er in der Anrede, sollte er ihn duzen, wie sich alle im Büro duzten? Er verbot es sich. Mit Vornamen ansprechen und ihn siezen? Auch das war ihm zuwider. Er hatte es ein paar Mal ausprobiert. Dann entschloss er sich, ihn mit Herr Schwalm anzureden. Der Name war wie die Hand, feucht klebrig, als habe sie eben gewichst. Er betonte Herr, machte eine Pause und betonte dann Schwalm auf dem L, was sich fast wie Schwall anhörte. Fred, so lange er noch in der Firma war, grinste.
Wäre Schwalm angestellt, hatte er zu Selma gesagt, ich würde ihn sofort rausschmeißen. Auch eine ordentliche Abfindung zahlen. Die Höhe wäre mir wurst. Zugleich machte er sich Vorwürfe, sich überhaupt derart mit diesem Mann zu beschäftigen. Aber es blieb nicht aus – er sah ihn fast jeden Tag.
Woran macht sich das Zuwidersein fest? Allein wie die Nase ging, auf großen Füßen, die leicht auswärts gestellt waren, ein Latschen wie bei einem dieser idiotischen Maskottchen, die als Bären bei Fußballspielen auftraten. Natürlich war die Nase unsportlich. Die Nase sagte auch, dass er in Sport nie gut war. Dafür aber in allen anderen Fächern. Mathematik, Physik, Deutsch, Latein. Einsen. Allein, wie er dastand mit hängenden Schultern. Es war dieses gänzliche Fehlen von Anmut, das Besserwissen, das ihn beim Reden den Kopf hin- und herwenden ließ, als rede er vor einem Auditorium. Wenn er dann einmal schwieg und sich ein Argument anhören musste, sah er gelangweilt auf seinen Ehering, der ihn mit der dürren, dummen, immer im Diskant sprechenden blonden Frau Schwalm verband.
Seine Abneigung fand Eschenbach später bestätigt, als Schwalm bei seinem Ausscheiden einen Kunden abwarb.
Ob man Menschen sympathisch oder abstoßend findet, dazu muss man die Leute doch nicht sehen, sagte Selma, die konzentriert an einem Silberstab feilte, der einmal ein Mokkalöffel werden sollte, es reicht davon zu hören, was jemand wie gemacht hat. Und sie, die gern ins Kino, aber nur selten ins Theater ging, erzählte ihm abermals von ihrem Erlebnis, als eine deutsche Theatergruppe in Wroctaw die Minna von Barnhelm gegeben hatte, auf Deutsch, und sie als Schülerin die Aufführung gesehen hatte! Die Minna sagt, sie würde diesen Mann, Major Tellheim, wegen seiner großherzigen Tat lieben, selbst wenn er schwarz wie ein Mohr wäre.
Das sei, sagte Eschenbach, tatsächlich die wunderschöne, wenn auch nicht ganz zeitgemäße Erklärung für das, was Liebe ist. Nicht aber für das Begehren. Begehren kann man nur das, was man durch die Sinne erfährt, sieht, hört, spürt, riecht. Minna hat ja Recht, der Mann ist durch seine Handlungen liebenswert, auch wenn er einen steifen Arm hat, also ein Krüppel ist, oder aus dem Mund riecht. Aber das ist doch nicht Liebe, sondern Achtung.
Ach, sagte Selma, Hephaistos’ Priesterin, die so oft ihre Sätze mit einem Ach einleitete, und blickte von ihrem Amboss auf und ihn, den Müden, erschöpft Dasitzenden an: Achtung ohne Liebe, das gibt’s, aber nicht Liebe ohne Achtung.
Wenn sie ihm hier erschien, brachte sie das Gefühl von Wärme, von Vertrautheit und Zuwendung mit. Sie war der einzige seiner Geister, der arbeitend kam. Handarbeit. Ein solides Wort. Der zierliche Schmiedehammer. Das Gasgebläse. Wie sie die Backen beim Löten aufblies. Das konzentrierte Hämmern, Feilen, Polieren. Das Silber in ihren Händen.
Und das vor allem, er sah sie, ihre Brüste, sehr deutlich, dort, wo sie sich über die Schalen des Büstenhalters, den sie stets eine Nummer zu klein kaufte, ein wenig wie ein Hefeteig wölbten. Ein Überquellen, so schien es ihm, von Lust. Und sie erschien ihm hier in ihrer sanften Ruhe, wie damals, als er sie nach einem Tag des Redens und Falschredens, der unterdrückten Zweifel, der versteckten Wut, der Mühe, sich keine Blößen zu geben, in ihrer Werkstatt besucht hatte. Cool bleiben, ein Wort, bei dem ihm aber ganz heiß war, ja er schwitzte, wechselte in dieser Zeit manchmal zwei-, vor wichtigen Gesprächen sogar dreimal das Hemd.
Er kam zu ihr, setzte sich an den Werktisch und sagte, die Fernliebe der Minna, die ohne den Anblick auskommt, sei heute, bei der Bilderflut, bei all den Schönen, Jungen, Makellosen, ganz unmöglich.
Nein, sagte die weichbrüstige Selma, das Theater zeigt doch die wunderbare Möglichkeit.
Es ist die verschlungene, unerklärbare Wirklichkeit.
Die Nase hatte bei dem Strategiegespräch wieder einmal das ausgeführt, was doch schon jedem klar war, ein Reden, das sich in argumentativen Girlanden durch den Nachmittag zog, eigentümlich unbildhaft, gesäubert von umgangssprachlichen Wendungen. Ein Reden, das schon durch seine Dauer Anmaßung war. Nie hätte dieser Kompagnon, wie Fred, sein erster Partner, der wunderbar fluchen konnte, gesagt, los, da rocken wir ab. Den ziehen wir an Land.
Ihm war schon das Wissen zuwider, der Nase morgens zu begegnen, ihm hin und wieder die Hand geben zu müssen.
Eschenbach musste sich jede nur erdenkliche Mühe geben, diesem Mann nicht grundsätzlich und auf abstruse Weise zu widersprechen, auch dann, wenn er vernünftige Vorschläge machte. Es war die gute Stube, die da sprach, die tückische Bravheit, allein wenn er die Nase sah, hätte er ein Messer ziehen können. Nicht wegen der Größe der Nase, sie war eher klein, nein, sie erschien ihm nur wie ein Ausrufungszeichen der Selbstgerechtigkeit.
Fred fand es immer wieder amüsant, wie er sich über den Träger dieser Nase ärgern konnte. Aber nach Freds Ausscheiden war der Einfluss Schwalms gewachsen. Absprachen und Abstimmungen wurden kompliziert und langwierig. Es war ja nicht nur dieses Dröhnen seines Partners, sondern das Dröhnen der gewachsenen Macht. Und dann, plötzlich, kam er und bot seinen Anteil an. Eschenbach sagte sofort zu.
Natürlich hatte er sich immer wieder gefragt, warum er sich auf diesen Mann eingelassen hatte, aber das war sieben Jahre nach der Gründung in Abstimmung mit seinem Partner geschehen, um die Kapitaleinlage zu erhöhen. Damals hatte er gedacht, seine Abneigung könne sich, wenn nicht in Zuneigung, so doch in ein sachliches Miteinander verwandeln.
Der englische Freund, dem er bei dessen Besuchen in Berlin gelegentlich von diesem Schwalm erzählte,...
Erscheint lt. Verlag | 15.8.2013 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Affäre • Begehren • Beziehung • Einsamkeit • Elbe • emotionale Selbstfindung • Erinnerungen • Liebe • Moderne Literatur • Rückzug in der Natur • Selbstreflexion • Selbst-Reflexion • Trennung • Unerwiderte Liebe • Uwe Timm • Verbotene Affäre • Verlust • Vogelwart • Wiederentdeckung der Liebe |
ISBN-10 | 3-462-30718-5 / 3462307185 |
ISBN-13 | 978-3-462-30718-4 / 9783462307184 |
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