Letzte Ernte (eBook)
320 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30707-8 (ISBN)
Tom Hillenbrand, studierte Europapolitik, volontierte an der Holtzbrinck-Journalistenschule und war Redakteur bei SPIEGEL ONLINE. Seine Bücher erscheinen in vielen Sprachen, wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Tom Hillenbrand, studierte Europapolitik, volontierte an der Holtzbrinck-Journalistenschule und war Redakteur bei SPIEGEL ONLINE. Seine Bücher erscheinen in vielen Sprachen, wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
2
Keuchend wuchtete Xavier Kieffer die letzte Kartoffelkiste auf das Laufband. Er stemmte die Hände auf die Oberschenkel und schaute schwer atmend zu, wie sie die Schräge hinunterruckelte und im Halbdunkel des Kellers verschwand. Der Koch richtete sich auf und klopfte eine Ducal aus der Schachtel. Fünfundzwanzig Kisten Kartoffeln hatte er beim Großhändler gekauft, aber er fühlte sich, als hätte er hundert davon auf das Transportband gewuchtet. Kieffer zündete die Zigarette an und wischte sich mit der Rechten die schweißverklebten Haare aus dem Gesicht. Es musste am Wetter liegen. Die Sonne stand bereits hoch über der Luxemburger Oberstadt, für heute Mittag hatte der Radiosprecher von RTL zweiunddreißig Grad angedroht. Vielleicht lag es aber auch an den zwei Flaschen Riesling, die er gestern Abend zusammen mit seinem finnischen Freund Pekka Vatanen geleert hatte. Oder an der Tatsache, dass er für derlei Knochenarbeit allmählich zu alt wurde. Kieffer schaute vom Parkplatz des »Deux Eglises« hinauf gen Oberstadt. Er musste seine Augen mit der Hand beschirmen, so hell war das Licht des über der Notre-Dame schwebenden Glutballs. Er spürte ein Stechen hinter seiner Stirn, das sich bis tief in die Schläfen zog. Es war das verdammte Wetter, kein Zweifel.
Nachdem er zu Ende geraucht hatte, trottete Kieffer die Kellertreppe hinunter. Das »Deux Eglises«, dessen Koch und Besitzer er war, lag am Hang des Kirchbergs und war in einem alten Garnisonsgebäude untergebracht. Das Untergeschoss hatten französische, deutsche oder österreichische Besatzer, so genau ließ sich das nicht mehr rekonstruieren, mit Sprengstoff in den Fels getrieben; weit über die Grundfläche des kleinen Gebäudes hinaus erstreckte es sich in den Berg hinein. Angenehme Kühle legte sich auf Kieffers feuchte Stirn, als er den Keller betrat. Er ging vorbei an den Regalen mit Schengener Riesling und Elsässer Gewürztraminer, bog nach links ab und betrat den Raum, in dem das Laufband endete, über das man vom Vorplatz aus Waren in den Keller befördern konnte. Einer seiner Leute hatte die Kartoffelkisten dort bereits säuberlich gestapelt, fast die gesamte Bodenfläche stand damit voll. Xavier Kieffer machte sich daran, sie durchzuzählen. Es waren exakt fünfundzwanzig Boxen à zwanzig Kilo, wie bestellt.
Normalerweise würde er einen ganzen Monat benötigen, um eine derart große Menge Gromperen zu verbrauchen, wie man Kartoffeln in Luxemburg nannte. Doch falls alles gut lief, würde er diese fünfhundert Kilogramm binnen einer Woche verkochen. Denn morgen begann die Schueberfouer, die luxemburgische Version des Oktoberfests. Auf der Place du Glacis gab es dann drei Wochen lang Liebesäpfel und Zuckerwatte, außerdem Fahrgeschäfte und Schießbuden. Vor allem aber galt die Schobermesse Kieffers Landsleuten als willkommener Anlass, sich endlich einmal wieder an Luxemburger Klassikern satt zu essen. Festdeeg si Friessdeeg, wie man im Großherzogtum sagte, und so stopfte man sich auf der Kirmes voll: mit Gebakene Fësch, Fierkel um Spiess und Gromperekichelcher, vor Fett triefenden Reibekuchen.
Kieffer liebte Gromperekichelcher. Schon seit vielen Jahren versuchte er, einen Stand auf der Schueberfouer zu bekommen – ein schwieriges Unterfangen, da der Glacis deutlich kleiner war als die Münchner Theresienwiese und die Luxemburger Kirmes aus allen Nähten platzte. Aber dieses Jahr hatte er endlich eine der heißbegehrten Lizenzen ergattern können. Wochenlang würde er nonstop Fisch und Kartoffelpuffer frittieren. Kieffer überlegte, wie viel Speiseöl er für dieses Unterfangen wohl brauchte. Besser er bestellte gleich noch ein paar Hundert Liter, dann war er auf der sicheren Seite.
Durch seine Kellerpartie erfreulich erfrischt stieg er die Treppe in den noch leeren Schankraum des »Deux Eglises« hinauf. Er ging in sein Büro im hinteren Teil des Restaurants und nahm die Rechnung des Trierer Großhändlers zur Hand, von dem die Gromperen stammten. Als Kieffers Blick auf die Gesamtsumme fiel, stutzte er. Der Koch griff zum Telefon und wählte die Nummer des Großhändlers.
»Gemüse Meinhardt, Guten Tag.«
»Guten Morgen, Wolfgang.«
»Hallo, Xavier. Was gibt’s?«
»Ich rufe wegen der Kartoffeln an. Mit deiner Rechnung stimmt was nicht.«
»Wieso?«
»Ich habe ›Rose de France‹ bestellt, biologischer Anbau, aus der Auvergne.« Kieffer hatte eine ganz bestimmte, vorwiegend festkochende Kartoffelsorte geordert. Er experimentierte für seine in der ganzen Stadt berühmten Gromperekichelchen seit Jahren mit verschiedenen Varianten, und »Rose« war für Reibekuchen am besten geeignet.
»Und? Hast du die falschen bekommen?«, fragte der Großhändler.
»Nein, das nicht. Aber auf der Rechnung steht, dass die Kiste 19,44 Euro kostet, und das kann ja wohl nicht stimmen.«
»Einen Moment.«
Kieffer hörte Tastaturklackern. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete. Nach etwa einer halben Minute meldete sich sein Lieferant zurück. »Das Problem ist, dass es sich bei dieser Sorte um einen Exoten handelt. Das Angebot ist sehr begrenzt.«
»Weiß ich, Wolfgang. Aber im Juni hat die Kiste noch die Hälfte gekostet. Und seitdem hat sich der Preis verdoppelt?«
»Leider ja. Irgendjemand muss viel ›Rose de France‹ gekauft haben. Deshalb ist der Preis durch die Decke gegangen. Wenn du es mir nicht glaubst, dann guck dir die Notierung an der Matif an.« Die Matif war die Pariser Rohstoffbörse, an der die Preise für Weizen, Schweinehälften oder Sojabohnen festgelegt wurden – und auch die für Kartoffeln. Alle Großhändler orientierten sich an den Kursen, die dort täglich festgelegt wurden.
»Ich zweifle nicht an deinen Worten, Wolfgang. Aber der doppelte Preis …«
»… vielleicht hätte ich dich nach Bestelleingang noch mal anrufen sollen, Xavier. Tut mir leid. Aber wenn du so große Mengen benötigst, solltest du dir vielleicht einen Future kaufen.«
»Einen was?«
»Eine Kaufoption, die dir garantiert, dass du die Ware zu einem vorher fixierten Preis geliefert bekommst. Kann man im Internet machen.«
Kieffer schnaufte ärgerlich. »Mensch, Wolfgang. Ich wollte Kartoffeln kaufen. Ich bin Koch, kein Börsenhändler.«
»Es tut mir leid, aber die Lebensmittelpreise schwanken in letzter Zeit wieder sehr stark. Keine Ahnung warum, ich habe mir den Mist nicht ausgedacht. Hör zu: Ich gebe dir zwanzig Prozent auf die Rechnung, weil du so ein guter Kunde bist. Oder meinetwegen nehme ich sie auch zurück. Aber nächstes Mal musst du mir einfach Bescheid sagen, wenn deine Order ein Limit hat, okay?«
Order? Limit? Nichts davon fand Kieffer okay. Wenn er sich mit derartigem Unsinn hätte herumschlagen wollen, hätte er einen Job bei einer Investmentbank auf dem Luxemburger Kirchberg angenommen, statt Gromperekichelcher zu frittieren. Aber es half ja nichts – keine Kartoffeln, keine Kirmes. Der Koch dankte dem Großhändler für dessen Entgegenkommen und legte auf. Es würden die unprofitabelsten Reibekuchen in der Geschichte der Schueberfouer werden, aber immerhin die besten.
Kieffer verließ sein Büro und stieg die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Das »Deux Eglises«, oder »Zwou Kierchen«, wie es die Einheimischen auch nannten, war nicht sehr groß, das Erdgeschoss bot lediglich dem Schankraum Platz. Die Küche befand sich im ersten Stock. Er und die anderen Köche mussten deshalb viele Male am Tag die dreiundvierzig steinernen Stufen der gewundenen Treppe hinauf- und hinunterklettern. Kieffer machte das nichts aus; Bewegung war schließlich gesund, und dieses Küchenstepping war in Wahrheit neben dem Schleppen von Kartoffelkisten oder Lammkeulen der einzige Sport, den er ausübte.
Oben instruierte er einen Vorbereitungskoch, für morgen früh einen Teil der Kartoffeln zu schälen und Teig für den Backfisch vorzubereiten. Die Küche seines Stands auf der Schueberfouer hatte eine Fläche von drei, höchstens vier Quadratmetern, und er war froh, sich die meisten Zutaten kochfertig anliefern lassen zu können. Dann ging Kieffer wieder auf den Parkplatz, zu seinem Lieferwagen. Er setzte sich hinein und kramte im Handschuhfach nach einem Album der B52s, das sich irgendwo zwischen Quittungsblöcken und zerknüllten Strafzetteln versteckte. Als er die Kassette gefunden hatte, steckte er sie ein und fuhr los.
Kieffers Restaurant befand sich in Clausen, einem der Luxemburger Unterstadtviertel. Im Westen und Süden umgeben vom Bockfelsen lag die ville basse im Alzette-Tal, weit unter der etwa fünfzig Meter darüber thronenden Oberstadt. Auf der Nordostseite Clausens erhob sich das Plateau de Kirchberg, auf das Kieffer nun zusteuerte. Sein Lokal lag direkt am Hang, und so musste man mit dem Auto zunächst im Schritttempo die schmale Rue Jules Wilhelm hinauffahren, bis zu einem mittelalterlichen Torbogen, der vor einer Haarnadelkurve die alte Stadtgrenze markierte. Dahinter schlängelte sich eine Milliounewee genannte Serpentine den Hang empor. Oberhalb der Straße konnte Kieffer bereits die Hochhäuser auf dem Plateau sehen. Jedes Jahr wurden es mehr, und eines Tages würde der Kirchberg vollständig von ihnen bedeckt sein. In seiner Jugend waren dort oben noch große Wiesen gewesen, außerdem Kühe. Dann kamen die Bagger. Zuerst hatte sich die Europäische Union auf dem Berg angesiedelt. In den Neunzigern hatte dann die Finanzbranche Luxemburg für sich entdeckt, Äcker und Wiesen hatten Glasbunker um Glasbunker Platz gemacht. Inzwischen stellten Investmentbanker und Steuerberater auf dem Kirchberg die Mehrheit...
Erscheint lt. Verlag | 20.6.2013 |
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Reihe/Serie | Die Xavier-Kieffer-Krimis |
Die Xavier-Kieffer-Krimis | |
Die Xavier-Kieffer-Krimis | |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 3. Fall • bittere Schokolade • Computercodes • Ermittler Koch • Gastroführer Guide Bleu • Gastrokritikerin • Gault Millau • Goldenes Gift • Julie Dubois • Kieffer Krimis • Koch • Krimi • Kriminalroman • Krimi-Reihe • Krimis für den Urlaub • Krimis über Essen • Kulinarisch • Kulinarische Krimis • Luxemburg • Luxemburg Krimis • Michelin • Nicole de Vert • Regionalkrimi • Reihe • Rotes Gold • Schlemmen • Schlemmerparadies • Sommerkirmes • Sterne-Koch • Sterne-Küche • Teufelsfrucht • Tödliche Oliven • Tom Hillenbrand • Urlaubs-Krimi • Urlaubs-Lektüre • Verschwörung • Ville de Luxembourg • Xavier Kieffer • Xavier Kieffer 3 • Xavier Kieffer Band 3 • Xavier Kieffers dritter Fall |
ISBN-10 | 3-462-30707-X / 346230707X |
ISBN-13 | 978-3-462-30707-8 / 9783462307078 |
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