Die Kinderfrau (eBook)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60323-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kinderfrau -  Petros Markaris
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Was in Istanbul geschah, ist nun viele Jahrzehnte her. Und doch findet die neunzigjährige Kinderfrau keine Ruhe sie hat noch alte Rechnungen zu begleichen. Kommissar Charitos folgt ihren Spuren: Sie führen nach Konstantinopel, in eine Vergangenheit mit zwei Gesichtern einem schönen und einem hässlichen.    Petros Markaris präsentiert mit Die Kinderfrau einen Roman voll Nostalgie  sein bisher persönlichstes Buch.'

Petros Markaris, geboren 1937 in Istanbul, ist Verfasser von Theaterstücken und Schöpfer einer Fernsehserie, er war Co-Autor von Theo Angelopoulos und hat deutsche Dramatiker wie Brecht und Goethe ins Griechische übertragen. Mit dem Schreiben von Kriminalromanen begann er erst Mitte der Neunzigerjahre und wurde damit international erfolgreich. Er hat zahlreiche europäische Preise gewonnen, darunter den Pepe-Carvalho-Preis sowie die Goethe-Medaille. Petros Markaris lebt in Athen.

Petros Markaris, geboren 1937 in Istanbul, ist Verfasser von Theaterstücken und Schöpfer einer Fernsehserie, er war Co-Autor von Theo Angelopoulos und hat deutsche Dramatiker wie Brecht und Goethe ins Griechische übertragen. Mit dem Schreiben von Kriminalromanen begann er erst Mitte der Neunzigerjahre und wurde damit international erfolgreich. Er hat zahlreiche europäische Preise gewonnen, darunter den Pepe-Carvalho-Preis sowie die Goethe-Medaille. Petros Markaris lebt in Athen.

[7] 1

Die Heilige Jungfrau schaut streng, fast tadelnd auf mich herab. So kommt es mir jedenfalls vor, doch es kann gut sein, dass es sich um reine Einbildung oder um einen griechisch-orthodoxen, auf Minderwertigkeitskomplexen beruhenden Dünkel handelt. Hat die Muttergottes nichts Besseres zu tun, als sich ausgerechnet mit mir zu beschäftigen? Sie blickt auf ihre Schäfchen, die sich im riesigen Narthex drängeln. Ganz zufällig bin auch ich darunter, zusammen mit meiner Ehefrau, inmitten einer Horde von Athener Touristen.

»Die Darstellung der Heiligen Jungfrau mit dem Jesuskind datiert aus dem Jahr 867 und ist somit das älteste erhaltene Mosaik.« Die Stimme der Fremdenführerin bringt mich wieder in die Gegenwart zurück. »Es wurde gegen Ende des Bilderstreits geschaffen.«

»Dank sei dir, Großmächtiger, dass du mich für würdig erachtest«, flüstert Adriani neben mir und bekreuzigt sich, während sie hinzufügt: »Heilige Jungfrau, Muttergottes, erhöre mein Gebet.« Ich weiß, wofür sie betet, ziehe es jedoch vor, das Thema nicht anzusprechen.

»Die Kuppel der Hagia Sophia ist fünfundfünfzig Meter und sechzig Zentimeter hoch«, höre ich wieder die Stimme der Fremdenführerin. »Was den Durchmesser betrifft, so ist die Nord-Süd-Achse der Kuppel etwas kürzer als die [8] Ost-West-Achse. Dort, wo Sie die arabischen Schriftzeichen sehen, befand sich einst das Mosaik des Pantokrators, die Darstellung Christi als Weltenherrscher. Die arabischen Schriftzeichen wurden im achtzehnten Jahrhundert hinzugefügt und stammen aus der ersten Sure des Korans.«

In der Hauptkuppel, wohin die Fremdenführerin unser Augenmerk lenkt, breiten sich die Mosaiken von der Mitte nach unten aus und enden bei den kleinen Fensteröffnungen, durch die das Sonnenlicht hereinfällt.

»Wenn man das Gekritzel entfernt, kommt also darunter das Jesuskind zum Vorschein? Schon krass«, meint Stelaras, und sein vorlautes Gelächter schallt durch den Raum, während ihm seine Mutter ein »Ruhe jetzt!« ins Ohr zischt.

»Es ist ungewiss, ob darunter der Pantokrator zum Vorschein käme«, erläutert die Fremdenführerin. »Die meisten Archäologen und Restauratoren sind der Meinung, dass der Großteil des Mosaiks zerstört wurde.«

»Irgendwann kommt der Tag, und Konstantinopel wird wieder unser sein, aber was bleibt dann davon für uns noch übrig?«, kommentiert Despotopoulos betrübt.

Ich tue so, als betrachte ich, von der Pracht überwältigt, hingebungsvoll den Innenraum, und entferne mich von der Reisegruppe, denn Despotopoulos, Brigadegeneral der Panzertruppe a. D., ist ein großer Verehrer der heiligen Allianz zwischen den Streit- und den Sicherheitskräften. Daher richtet er bei jedem Ausbruch von Vaterlandsliebe dieselbe Frage an mich: »Und was meinen Sie, Herr Kommissar?« Und ich halte mich eisern zurück. Sonst würde mir vielleicht noch die Bemerkung herausrutschen, dass es, nachdem die Albaner Athen erobert haben, an der Zeit ist, [9] Konstantinopel heimzuholen – das wäre ein Bevölkerungsaustausch der etwas anderen Art.

Ich ziehe mich aus dem Narthex zum Kaisertor zurück, um das Kirchenschiff in seiner ganzen Größe zu sehen. Es ist seltsam, doch die Hagia Sophia scheint so gebaut zu sein, dass man stets nach oben in den Himmel blickt und nie nach unten in die Hölle. Vergeblich versucht man, den Blick auf das Irdische und Niedrige zu richten, immer gleitet er in die Höhe, zu den Säulen, den Emporen, die den Frauen vorbehalten waren, hoch zu den Kuppeln und den Fensteröffnungen, die das Hauptschiff an ausgeklügelten Stellen, in einem Spiel von Licht und Schatten, erhellen. Das trägt sicherlich zu dem Ehrfurcht einflößenden Eindruck bei, den der Sakralbau hervorruft. Die schönsten Ornamente sind dementsprechend hoch oben angebracht, und man muss den Kopf demütig in den Nacken legen, um sie zu bewundern. Ich halte nach einem Besucher Ausschau, dessen Blick nach unten oder zur Seite gerichtet ist, doch ich kann keinen finden.

Ich mache einen Rundgang durch die Kirche, um ihre Ausmaße auf mich wirken zu lassen und die Lichteffekte zu ergründen. Ein wildes Sprachengewirr umtost mich: Englisch, Französisch, Deutsch, Griechisch, Italienisch, Türkisch. Ich schließe die Augen, geblendet vom Blitzlicht japanischer Touristen, die einander fröhlich ablichten, während neben mir einige Mönche in dunkelbraunen Kutten mit Kapuzen und mit riesigen Kreuzen um den Hals den Ausführungen eines Priesters in einer slawischen Sprache lauschen.

Adriani bedeutet mir von weitem, mich wieder der [10] Gruppe anzuschließen. Ich gehorche ohne große Begeisterung, da mir mein einsamer Spaziergang viel besser gefällt als das auswendig gelernte Geleier der Fremdenführerin, das die Tatsachen eher vernebelt als erhellt.

»Komm, wir gehen auf die Frauenempore«, erklärt mir Adriani und hängt sich feierlich bei mir ein, als schritten wir zur österlichen Auferstehungsfeier.

»Der Nordwestflügel, der zur Frauenempore und zum Versammlungssaal der heiligen Synode führt, wurde im sechsten Jahrhundert errichtet«, fährt die Fremdenführerin fort.

Wir laufen eine gewundene, gepflasterte Rampe hoch, die wie ein überdachtes Altstadtgässchen wirkt. An jeder Kurve befindet sich ein kleines, viereckiges Fenster, das die Rampe gerade so viel erleuchtet, dass man nicht auf die Nase fällt.

»Lass jetzt das Handy in Ruhe, Schatz, du brichst dir noch alle Knochen!«, maßregelt die Stefanakou ihren Sohn.

»Ich will nur testen, ob es in diesem Bunker überhaupt Empfang hat.«

»Jetzt reicht’s, spiel nicht damit rum, Stelaras, wir wollen weitergehen!«, greift sein Vater ein.

Stelaras ist der fünfzehnjährige verzogene Sohnemann des Ehepaars Stefanakos, in einem Alter also, in dem selbst Marlon Brando wenig anziehend wirkte. Seine Mutter ruft ihn naheliegenderweise ›Stelios‹, doch sein Vater zieht aus unerfindlichen Gründen dem niedlichen ›Stelakos‹ das grobe ›Stelaras‹ vor.

»Ist der byzantinische Kaiser hier hochgeritten?«, fragt die Pachatouridou die Fremdenführerin.

[11] »Nein, hier ist die Kaiserin auf die Frauenempore hochgeschritten, um an der heiligen Messe teilzunehmen«, verbessert die Fremdenführerin, die an der Spitze der Gruppe geht. »Der Kaiser ist unten geblieben, im Narthex.«

»Sind Sie da sicher?«

Die Fremdenführerin bleibt stehen und lächelt sie an: »In der Literatur ist das Zeremoniell gut dokumentiert. Nirgendwo wird erwähnt, dass sich der Kaiser zu Pferd auf die Frauenempore begeben hätte.«

Die Pachatouridou beugt sich zu Adriani und flüstert ihr ins Ohr. »Wo hat man die denn aufgetrieben? Die hat ja keine Ahnung. Konstantinos Paleologos, der letzte byzantinische Kaiser, ist hier hochgeritten, daran gibt’s nichts zu rütteln.«

Sobald wir das enge, schlecht erleuchtete Gässchen verlassen, empfängt uns eine breite Lichtschneise, die durch die großen Fenster der Frauenempore hereindringt. Rechts liegen die Fenster, links die Säulen und in der Mitte ein geräumiger Gang mit einem Marmorfußboden.

»Von hier aus hat die Kaiserin die heilige Messe verfolgt.« Die Fremdenführerin deutet nach links zu der Stelle, wo einst der Thron der Kaiserin stand.

Zum ersten Mal blicke ich in die entgegengesetzte Richtung, nämlich von oben nach unten, und ich frage mich, ob die Hagia Sophia jemals bis auf den letzten Platz gefüllt war. Wie viele Gläubige wären nötig gewesen, um jeden Sonn- und Feiertag ein anständiges Publikum für die Messe zu garantieren? Vielleicht sollte sie ja aber auch nur dem Hofstaat und der kirchlichen Hierarchie als offizieller Zeremonienraum dienen. Mein Verdacht erhärtet sich, als wir [12] den Saal betreten, in dem die heilige Synode tagte. Wenn sie hier zusammentrat, dann war das Gotteshaus logischerweise eine Art Regierungssitz und nicht so sehr für die Kirchengemeinde gedacht. All das reime ich mir freilich selbst zusammen, denn meine Beziehung zur Kirche besteht nur gerade im alljährlichen Besuch der Auferstehungsmesse zu Ostern. Früher schleppte mich meine Mutter noch ans Kirchweihfest zu Ehren eines Dorf- oder Stadtheiligen, und während meiner Ausbildung an der Polizeischule gehörte es dazu, am Sonntag die Messe zu besuchen.

Vor dem Mosaik, das die Gottesmutter mit dem Jesuskind im Arm zwischen Johannes Komnenos und Kaiserin Eirene zeigt, drängelt sich eine Gruppe Japaner, die wieder zwanghaft fotografiert. Eine kleine Japanerin baut sich genau vor der Gottesmutter auf, um zwischen Komnenos und Eirene abgelichtet zu werden, und dabei strahlt sie vor Begeisterung über ihre Eingebung. Wie sie so dasteht, sage ich mir, sieht es auf dem Foto bestimmt so aus, als würden zwei Köpfe, ihrer und der des Jesuskindes, aus ihrem Körper wachsen. Doch das scheint den Fotografen der Truppe überhaupt nicht zu stören, der den anderen bedeutet, von diesem Motiv ebenso Gebrauch zu machen.

»Die setzen sich an die Stelle der Heiligen Jungfrau? Jesus Maria!« Adriani ist empört und bekreuzigt sich.

»Liebe Frau Charitou«, wirft die Despotopoulou besänftigend ein, »darf man denn erwarten, dass sich Götzendiener respektvoll benehmen?«

»Buddhisten«, verbessert die Pachatouridou.

»Auch Buddhisten sind Götzendiener. Sie verehren ja die Buddhastatue.«

[13] Ich schicke mich gerade zum Weitergehen an, als mich Despotopoulos zurückhält. Auf mysteriöse Art und Weise taucht er immer in meiner Nähe auf. »All das ist zwar eindrucksvoll, aber Byzanz ist ein Fremdkörper und hat keinen Bezug zu...

Erscheint lt. Verlag 28.5.2013
Reihe/Serie Kostas Charitos
Übersetzer Michaela Prinzinger
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 20. Jahrhundert • Charitos • Charitos, Kostas • Familiengeheimnisse • Griechenland • Istanbul • Konflikt • Kostas • Krimi • Türkei • Vergangenheit
ISBN-10 3-257-60323-1 / 3257603231
ISBN-13 978-3-257-60323-1 / 9783257603231
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Psychothriller

von Sebastian Fitzek

eBook Download (2022)
Verlagsgruppe Droemer Knaur
9,99
Krimi

von Jens Waschke

eBook Download (2023)
Lehmanns Media (Verlag)
9,99
Psychothriller | SPIEGEL Bestseller | Der musikalische Psychothriller …

von Sebastian Fitzek

eBook Download (2021)
Verlagsgruppe Droemer Knaur
9,99