1. KAPITEL
Tief geduckt presste Distelpfote ihren Bauch fest an den Stein. Er war noch warm von der Sonne, die in der Ferne hinter den Hügeln versank. Ein kalter Wind aus den Bergen zauste ihr Fell. Von hier aus fiel ihr Blick auf grüne Felder, die sich bis zu einem Waldstreifen erstreckten. Irgendwo hinter diesen Bäumen lagen der See und ihr Zuhause.
Die Bäume hatten das Laub noch nicht abgeworfen, aber es war schmutzig grün und ein neuer, modriger Geruch lag in der Luft, den sie während ihrer Reise durch das Gebirge noch nicht bemerkt hatten. Blattfall steht bevor, dachte sie.
Sie konnte es kaum erwarten, zu Hause anzukommen. Es kam ihr vor, als hätten sie Monde bei den Stammeskatzen verbracht. Wenigstens hatten sie die Berge unbehelligt hinter sich gelassen. Von nun an würden sie wieder weicheren Boden unter den Pfoten spüren, die Jagd würde ihnen leichter fallen und das Territorium immer vertrauter werden, ohne Felsen, Wasserrauschen und verkrüppelte Bäume.
Sie blickte über ihre Schulter. Brombeerkralle und Eichhornschweif unterhielten sich leise mit Sturmpelz und Bach. Bernsteinpelz und Krähenfeder hatten sich zu ihnen gesellt. Nahmen sie Abschied?
Distelpfote war entsetzt, weil Sturmpelz und Bach nicht mit ihnen zurückkehrten. Gestern, beim Abschlussfest in der Höhle hinter dem Wasserfall, hatte Sturmpelz verkündet, dass er und Bach die Clan-Katzen bis zum Fuß der Berge begleiten würden, aber weiter nicht. Natürlich hatte Häherpfote mit gelassener Miene genickt, als ob er schon die ganze Zeit gewusst hätte, dass die beiden Katzen nicht zum DonnerClan zurückkehren würden. Distelpfote hingegen konnte nur vermuten, warum irgendeine Katze freiwillig in den Bergen bleiben würde, wenn sie auch am See leben konnte. Wahrscheinlich fühlt sich Bach in den Bergen so zu Hause wie ich am See. Und Sturmpelz liebt sie so sehr, dass er bei ihr bleibt, ganz gleich, wo sie ist.
Plötzlich schlugen braune Flügel und erregten ihre Aufmerksamkeit. Ein Adler kreiste unter ihr über dem Steilhang. Er folgte einem Hasen auf wilder Flucht, Erde und Gras stoben unter seinen langen, schwarzen Pfoten auf. Der Adler legte die Flügel an und stürzte sich auf den Hasen, der sich überschlug, bis der Adler ihn mit dornenscharfen Klauen am Boden festhielt.
Distelpfote beneidete den Adler um seine Schnelligkeit. Wenn sie doch auch so fliegen könnte! Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie über einer Wiese schweben würde, fast ohne den Boden mit den Pfoten zu berühren, leicht wie Luft, schneller als die schnellste Beute …
»Wann setzen wir unsere Reise bloß endlich fort!« Löwenpfotes ungeduldiges Miauen riss sie aus ihren Gedanken. Er kam zu ihr auf den Felsen getappt, blieb neben ihr stehen und folgte ihrem Blick bis zu dem Adler, der sich über seine Beute hermachte. »Mein Magen könnte auch etwas gebrauchen«, miaute er.
»Glaubst du, dass wir irgendwann auch fliegen lernen?«, flüsterte Distelpfote.
Löwenpfote drehte den Kopf und sah sie an, als ob sie verrückt geworden wäre.
»Wenn man bedenkt«, versuchte sie sich schnell herauszureden, »dass Häherpfote gesagt hat, wir hätten die Macht der Sterne in unseren Pfoten.« Es fühlte sich immer noch seltsam an, es laut auszusprechen. »Schließlich wissen wir nicht genau, was es bedeutet. Und wenn …«
»Fliegende Katzen!«, schnaubte Löwenpfote. »Wozu soll das gut sein?«
Distelpfotes Ohren wurden heiß vor Scham. »Du hast einfach keine Fantasie«, schnaubte sie. »Jetzt sind wir mächtiger, als jemals eine Katze gewesen ist, und du tust so, als wäre das gar nichts! Warum sollen wir nicht fliegen lernen oder einfach alles können, was wir wollen? Und hör auf, dich über mich lustig zu machen!«
»Ich mache mich doch gar nicht über dich lustig.« Löwenpfote versetzte Distelpfote einen Klaps mit dem Schwanz. »Ich finde bloß, wir würden mit Flügeln ziemlich albern aussehen.«
Enttäuschung schnürte Distelpfote die Kehle zu. Sie baute sich vor ihrem Bruder auf und funkelte ihn an. »Du nimmst das Ganze einfach nicht ernst! Wir müssen genau herausfinden, was diese Prophezeiung zu bedeuten hat!«
Löwenpfote blinzelte und trat einen Schritt zurück. »Halt deinen Pelz flach. Du kennst Häherpfote doch mit seinen Visionen. Sie können sich noch so großartig anhören, aber wir leben trotzdem in der wirklichen Welt.«
»Was kann uns die wirkliche Welt schon anhaben, wenn wir die Macht der Sterne in den Pfoten haben? Wir können tun und lassen, was wir wollen! Wenn ich mir vorstelle, was wir alles für unseren Clan tun könnten!«
Löwenpfote stöhnte. »Die Prophezeiung hat nichts davon gesagt, dass wir unserem Clan helfen sollen, es ging bloß um uns drei.«
Distelpfote starrte ihn an. »Aber das Gesetz der Krieger sagt, dass wir vor allem anderen unseren Clan beschützen müssen!«
Löwenpfote ließ den Blick über die Hügel in der Ferne schweifen. »Sind wir immer noch an das Gesetz der Krieger gebunden, wenn wir mächtiger sind als der SternenClan?«, überlegte er laut.
»Wie kannst du nur so was sagen?«, schimpfte Distelpfote, obwohl ihr dabei ein unheilvoller Schauder über den Rücken lief. Wenn die Prophezeiung bedeutete, dass sie sich nicht an das Gesetz der Krieger halten mussten, woher sollte sie dann wissen, was richtig war? Wie sollte sie herausfinden, was von ihr erwartet wurde, wenn sie zwischen ihrer eigenen Sicherheit und der des Clans wählen musste?
Häherpfote, der neben ihr aufsprang, streifte sie mit seinem Pelz. »Könntet ihr beiden vielleicht noch ein bisschen lauter miauen?«, fauchte er. »Ich glaube, es haben euch noch nicht alle gehört.« Seine blauen Augen funkelten vor Zorn. Obwohl sie blind waren, konnten sie seine Gefühle sehr gut ausdrücken.
Distelpfote wirbelte herum, um herauszufinden, ob die anderen Katzen mitgehört hatten, aber die Krieger waren nach wie vor in ihr eigenes Gespräch vertieft. »Niemand achtet auf uns«, versicherte sie ihm.
»Es gibt Katzen, die nicht so gut hören«, fügte Löwenpfote hinzu.
»Ich sage ja bloß, dass ihr vorsichtig sein sollt!«, miaute Häherpfote. »Dieses Geheimnis muss unter uns bleiben.«
»Das wissen wir doch«, erklärte Löwenpfote.
»Da bin ich mir nicht so sicher«, widersprach Häherpfote. »Was glaubst du, wie die anderen Katzen reagieren würden, wenn sie wüssten, dass wir mächtiger als der SternenClan geboren wurden?«
Löwenpfotes Blick wanderte zu Eichhornschweif und Brombeerkralle. »Das würden sie niemals glauben.«
»Ich kann es ja selbst kaum glauben«, gab Distelpfote zu.
»Sie würden es ganz bestimmt glauben.« Häherpfote klang eisig. »Aber gefallen würde es ihnen wahrscheinlich nicht.«
»Und warum nicht?« Distelpfote erschrak. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, was ihre Clan-Gefährten von der Nachricht halten würden. Warum sollten sie sich nicht freuen? Sie mussten doch wissen, dass sie ihre Macht nur zum Besten des Clans einsetzen würden!
Löwenpfote schien ihre Ansicht zu teilen. »Warum sollten sie dagegen sein, dass wir die besten Krieger werden?«
»In der Prophezeiung geht es nicht um gute Krieger!«, mahnte Häherpfote. Seine Krallen kratzten zornig auf dem blanken Fels. »Es geht darum, dass wir mächtiger sind als der SternenClan. Könnt ihr euch nicht vorstellen, dass normale Katzen so etwas ein bisschen beängstigend finden würden?«
»Aber wir haben doch gar nicht vor, etwas Böses damit anzustellen«, insistierte Distelpfote. »Diese Prophezeiung dient dem ganzen Clan und nicht nur uns allein.« Was glaubte Häherpfote bloß, wofür sie ihre Macht benutzen würden?
»Pst!«, unterbrach Häherpfote, weil Eichhornschweif angesprungen kam.
An der Felskante blieb sie stehen. »Worüber streitet ihr euch denn?«
»Distelpfote und Löwenpfote können sich nicht einigen, wer der bessere Jäger ist«, miaute Häherpfote ohne zu zögern.
Distelpfote öffnete den Mund, um zu widersprechen, ließ es dann aber bleiben. Sie hasste Lügen, doch sie durfte ihr Geheimnis nicht preisgeben, nicht hier.
»Warum steht ihr hier noch herum und plappert?«, schimpfte Eichhornschweif. »Gerade hat euch Brombeerkralle aufgetragen, Frischbeute zu besorgen. Er wünscht, dass Sturmpelz und Bach den Stammeskatzen etwas mitbringen.«
Sie waren so in ihren Streit vertieft gewesen, dass sie den Befehl gar nicht gehört hatten.
»Seit wann muss man euch etwas zwei Mal sagen?«, wollte Eichhornschweif wissen.
Distelpfote ließ den Kopf hängen. »Tut mir leid.«
Eichhornschweif deutete mit der Schwanzspitze auf eine Baumgruppe am Rand der Böschung. »Versucht es dort drüben und trödelt nicht herum!« Die Bäume warfen lange Schatten auf den Bergrücken. Bald würde die Sonne untergehen.
Löwenpfote leckte sich das Maul. »Da hinten gibt es bestimmt reichlich Beute.«
»Genug für alle«, stimmte Eichhornschweif zu. Sie wandte sich an Häherpfote. »Würdest du dir Bernsteinpelz’ Ballen ansehen? Sie ist auf einen spitzen Stein getreten und hat sich verletzt.« Während des Abstiegs aus dem Gebirge hatte es so viele spitze Steine gegeben, dass sich jede Katze verletzt haben musste. Distelpfote vermutete, dass Eichhornschweif nach einer sinnvollen Beschäftigung für Häherpfote suchte, weil er nicht jagen konnte. Wohl wissend, wie empfindlich ihr Wurfgefährte sein konnte, blieb sie stehen. Aber Häherpfote nickte bloß und folgte Eichhornschweif zu den Kriegern. Selbst als sich seine...