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Picknick auf dem Eis (eBook)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
288 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60319-4 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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Als Tagträumer hat es Viktor schwer im Kiew der Neureichen und der Mafia: Ohne Geld und ohne Freundin lebt er mit dem Pinguin Mischa und schreibt unvollendete Romane für die Schublade. Zum Überleben verfasst er für eine große Tageszeitung Nekrologe über Berühmtheiten, die allerdings noch gar nicht gestorben sind. Wie jeder Autor möchte Viktor seine Texte auch veröffentlicht sehen. Ein Wunsch, der beängstigend schnell in Erfüllung geht.

Andrej Kurkow, geboren 1961 in St. Petersburg, lebt seit seiner Kindheit in Kiew und schreibt in russischer Sprache. Er studierte Fremdsprachen, war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach schrieb er zahlreiche Drehbücher. Seit seinem Roman ?Picknick auf dem Eis? gilt er als einer der wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Autoren. Sein Werk erscheint in 45 Sprachen. Kurkow lebt als freier Schriftsteller mit seiner Familie in der Ukraine. 2023 wurde er als Ehrenmitglied in die American Academy of Arts and Letters aufgenommen.

[5] 1

Zuerst landete einen Meter vor seinen Füßen ein Stein. Viktor sah sich um – zwei Männer beobachteten ihn grinsend. Sie standen auf der Straße neben einer Baustelle, das Kopfsteinpflaster war aufgerissen. Einer bückte sich, nahm noch einen Pflasterstein in die Hand und schleuderte ihn schräg wie auf einer Kegelbahn in Viktors Richtung. Nach dem ersten Schrecken machte er, daß er wegkam – sein Gang ähnelte dem eines Wettkampfgehers. ›Nur nicht rennen!‹ sagte er sich. Erst vor seinem Haus blieb er stehen und warf einen Blick auf die große Uhr an der Ecke – 21.00 Uhr. Alles still und menschenleer. Als er bei der Haustür ankam, war seine Angst verschwunden. Die einfachen Leute langweilen sich heutzutage, Vergnügen können sie sich nicht mehr leisten. Da kegeln sie eben mit Pflastersteinen.

In der Küche war es dunkel. Wieder mal gab es keinen Strom und damit kein Licht. Im Finstern hörte man die watschelnden Schritte des Pinguins Mischa. Der war im Herbst vor einem Jahr in Viktors Leben aufgetaucht, als der Zoo hungrige Tiere an alle Leute verschenkte, die in der Lage waren, sie zu füttern. Viktor holte sich damals einen Königspinguin. Eine Woche vorher hatte ihn seine Freundin verlassen. Er hatte sich einsam gefühlt. Aber der Pinguin Mischa brachte seine eigene Einsamkeit mit, jetzt ergänzten [6] sich die beiden Einsamkeiten, was eher den Eindruck einer gegenseitigen Abhängigkeit als den einer Freundschaft erweckte.

Viktor suchte sich eine Kerze, zündete sie an und stellte sie in einem leeren Mayonnaisegläschen auf den Tisch. Im diffusen, aber poetischen Kerzenlicht suchte er im Halbdunkel Papier und Füller. Er setzte sich mit dem Blatt Papier vor der Kerze an den Tisch. Diese weiße Seite galt es zu füllen. Wäre Viktor ein Dichter gewesen, würden jetzt gereimte Zeilen über das leere Blatt fließen, aber er war kein Dichter, sondern ein Schriftsteller, der zwischen journalistischen Versuchen und kleinen Prosaarbeiten steckengeblieben war. Das Beste, was er zustandegebracht hatte, waren kurze Geschichten. Sehr kurze. So kurze, daß er, selbst wenn man ihm etwas dafür bezahlte, davon nicht leben konnte.

Draußen krachte ein Schuß. Viktor zuckte zusammen, duckte sich, schlich vorsichtig ans Fenster, aber es war nichts zu sehen. Dann kehrte er zu seinem Blatt Papier zurück. Seine Phantasie arbeitete schon an einer Geschichte um diesen Schuß herum. Diese Geschichte reichte genau für eine Seite – nicht mehr und nicht weniger. Bei den letzten tragischen Worten der neuen kurzen Erzählung ging das Licht wieder an. Die Deckenlampe flammte auf. Viktor pustete die Kerze aus, nahm gefrorene Fische aus dem Tiefkühlfach und warf sie in Mischas Schüssel.

[7] 2

Am nächsten Morgen, als er seine neue Geschichte noch einmal getippt und sich von dem Pinguin verabschiedet hatte, ging Viktor zur Redaktion einer neuen, großen Zeitung. Sie druckten alles mögliche ab, von kulinarischen Rezepten bis zu Neuigkeiten der postsowjetischen Kleinkunstbühne. Den Redakteur der Zeitung kannte er ziemlich gut – sie hatten einige Male fröhlich zusammen gepichelt, und danach hatte ihn der Chauffeur der Zeitung stets nach Hause gefahren.

Der Redakteur begrüßte ihn lächelnd und klopfte ihm auf die Schulter. Er bat die Sekretärin, einen Kaffee zu kochen, und überflog professionell mit einem Blick das mitgebrachte Werk.

»Nein, Alter«, sagte er schließlich. »Sei nicht sauer. Das geht nicht. Hier muß entweder mehr Blut her oder überhaupt was anderes, eine fulminante oder skandalöse Liebesgeschichte. Versteh doch, von einer Zeitungserzählung erwarten die Leute eine Sensation.«

Viktor verabschiedete sich, ohne auf den Kaffee zu warten.

Ganz in der Nähe befand sich die Redaktion der ›Hauptstadtnachrichten‹. Viktor gelang es nicht, zum Chefredakteur vorzudringen, also klopfte er bei der Kulturabteilung an.

»Eigentlich drucken wir überhaupt keine Literatur«, informierte ihn ein alter Kulturredakteur sehr freundlich und höflich. »Aber lassen Sie es mal da. Möglich ist alles. Vielleicht in irgendeiner Freitagsausgabe. Wissen Sie, aus [8] Gründen der Ausgewogenheit. Wenn es zu viele schlechte Nachrichten gibt, wollen die Leser gern was Neutrales. Ich werde mir Ihre Geschichte mal ansehen!«

Er befreite sich von seinem Besucher mit einer Visitenkarte und wandte sich wieder seinem mit Papieren überhäuften Schreibtisch zu. Erst da begriff Viktor, daß er nicht einmal ins Büro gebeten worden war. Das ganze Gespräch hatte zwischen Tür und Angel stattgefunden.

3

Zwei Tage später klingelte das Telefon.

»Hier sind die ›Hauptstadtnachrichten‹«, ertönte eine helle, resolute Frauenstimme. »Der Chefredakteur möchte Sie sprechen.«

Der Hörer wanderte von einer Hand in die andere.

»Viktor Aleksejewitsch?« fragte eine Männerstimme.

»Ja.«

»Könnten Sie heute zu uns kommen? Oder sind Sie beschäftigt?«

»Ja – das heißt nein«, antwortete Viktor. »Ich habe Zeit.«

»Dann schicke ich Ihnen einen Wagen vorbei. Einen blauen Shiguli. Wo wohnen Sie?«

Viktor diktierte seine Adresse. Der Chefredakteur, der sich nicht einmal vorgestellt hatte, verabschiedete sich und sagte: »Bis gleich.«

›Ob das wegen der Erzählung ist‹, dachte Viktor, als er sich ein Hemd aus dem Schrank suchte. – ›Nein, wohl kaum wegen der Erzählung… Was brauchen die meine [9] Erzählung? Obwohl, man kann nie wissen, ach, hol’s der Teufel!‹

In dem blauen Shiguli vor dem Hauseingang wartete ein sehr höflicher Chauffeur, der Viktor in die Redaktion brachte.

»Igor Lwowitsch«, stellte sich der Redakteur vor und streckte die Hand aus. »Schön, Sie kennenzulernen.«

Der Chefredakteur sah eher wie ein gealterter Sportler als wie ein Journalist aus. Vielleicht war dem ja auch so, aber in seinen Augen schimmerte jene merkwürdige Ironie, die eher von Verstand und Bildung kommt als vom Konditionstraining in der Sporthalle.

»Setzen Sie sich doch! Einen Kognak?« Er unterstrich seine Worte mit einer herrschaftlichen Geste.

»Nein danke. Vielleicht einen Kaffee…«, bat Viktor, während er sich in dem Ledersessel vor einem imponierend großen Schreibtisch niederließ.

Der Chefredakteur nickte. Dann nahm er den Telefonhörer und sagte: »Zwei Kaffee.«

»Wissen Sie«, begann er und maß Viktor mit einem wohlwollenden Blick, »vor kurzem haben wir noch über Sie gesprochen, und gestern kommt unser Boris Leonidowitsch, unser Kulturredakteur, zu mir und sagt: ›Werfen Sie da mal einen Blick drauf‹ und schiebt mir Ihre kleine Erzählung hin. Eine hervorragende Erzählung… Da fiel mir wieder ein, daß wir neulich schon mal von Ihnen gesprochen hatten, und ich wollte Sie gern kennenlernen…«

Viktor hörte zu und nickte höflich. Igor Lwowitsch machte eine Pause, lächelte und fuhr fort.

»Viktor Aleksejewitsch, möchten Sie für uns arbeiten?«

[10] »Was soll ich denn schreiben?« fragte Viktor, dem sich schon bei der bloßen Vorstellung einer neuen journalistischen Zwangsarbeit das Herz zusammenkrampfte.

Igor Lwowitsch wollte antworten, aber gerade in dem Augenblick kam die Sekretärin mit dem Tablett herein, stellte die Tassen, Kaffee und Zuckerdose auf den Tisch. Der Chefredakteur brach mitten im Wort ab, als hielte er den Atem an, und wartete, bis die Sekretärin wieder draußen war.

»Es ist streng vertraulich«, sagte er. »Wir brauchen einen talentierten Autor für Nekrologe, einen Meister des kurzen Genres. Kompetent, kurz und ziemlich außergewöhnlich. Verstehen Sie?« Er sah Viktor hoffnungsvoll an.

»Das heißt, ich soll in der Redaktion sitzen und warten, bis jemand stirbt?« fragte Viktor leise und vorsichtig, als ob er eine bestätigende Antwort befürchtete.

»Natürlich nicht! Die Arbeit ist viel interessanter und verantwortungsvoller. Sie müßten eine Kartei von ›Kreuzchen‹ anlegen – so nennen wir hier die Nekrologe – von noch lebenden Menschen, angefangen bei bekannten Politikern über Gangster bis hin zu Prominenten in Kultur und Kunst. Ich möchte, daß Sie so schreiben, wie noch nie jemand über Tote geschrieben hat. Ihrer Erzählung nach zu urteilen, glaube ich, Sie können das!«

»Und wie sieht das mit dem Honorar aus?« fragte Viktor.

»Fangen wir mal mit 300 Dollar an. Was die Arbeitszeit betrifft, haben Sie völlig freie Hand. Ich muß natürlich auf dem laufenden sein, wer sich in Ihrer Kartei befindet. Kein noch so zufälliger Unfall sollte uns unvorbereitet überraschen! Und noch eine Bedingung. Sie müßten unter Pseudonym schreiben. Das ist übrigens auch in Ihrem Interesse.«

[11] »Was für ein Pseudonym?« fragte Viktor, eher sich selber als den Chefredakteur.

»Denken Sie sich eins aus, und wenn Ihnen keins einfällt, können Sie erst einmal mit ›Der engste Freundeskreis‹ unterschreiben.

Viktor nickte.

4

Zu Hause trank Viktor vor dem Schlafengehen einen Tee und dachte über das Thema Tod nach. Es fiel ihm leicht. Er fühlte sich ausgezeichnet, hätte lieber einen Wodka als einen Tee getrunken. Aber Wodka war keiner da.

Man hatte ihm ein tolles Spiel angetragen. Und obwohl Viktor noch nicht wußte, wie er seine neuen Verpflichtungen erfüllen sollte, spürte er den wunderbaren Vorgeschmack von etwas Neuem und Außergewöhnlichem. Der Pinguin Mischa watschelte auf dem Korridor herum und stupste von Zeit zu Zeit an die geschlossene Küchentür. Schließlich fühlte sich...

Erscheint lt. Verlag 23.4.2013
Übersetzer Christa Vogel
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Smert' postoronnego (Death and the Penguin)
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Journalist • Kiew • Mafia • Pinguin • Schriftsteller • TAGTRÄUMER
ISBN-10 3-257-60319-3 / 3257603193
ISBN-13 978-3-257-60319-4 / 9783257603194
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