Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller (eBook)
352 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402242-0 (ISBN)
Horst-Jürgen Gerigk, geboren 1937 in Berlin, starb am 09. Februar 2024 in Heidelberg, wo er seit 1974 als Professor für Russische Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg lehrte. Mit »Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller« hat er die Summe seines über fünfzigjährigen Nachdenkens über das Werk und das Leben Dostojewskijs vorgelegt. Von 1998 bis 2004 war Horst-Jürgen Gerigk Präsident der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft, die er 1971 mitbegründet hat, und war lange Jahre Herausgeber der »Dostoevsky Studies. The Journal of the International Dostoevsky Society«. Seit 2008 war er korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Wichtige Veröffentlichungen: »Die Russen in Amerika. Dostojewskij, Tolstoj, Turgenjew und Tschechow in ihrer Bedeutung für die Literatur der USA« (1995), »Lesen und Interpretieren« (2. Aufl. 2006), »Die Spur der Endlichkeit. Meine akademischen Lehrer. Vier Porträts: Dmitrij Tschi?ewskij, Hans-Georg Gadamer, René Wellek, Paul Fussell« (2007).
Horst-Jürgen Gerigk, geboren 1937 in Berlin, starb am 09. Februar 2024 in Heidelberg, wo er seit 1974 als Professor für Russische Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg lehrte. Mit »Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller« hat er die Summe seines über fünfzigjährigen Nachdenkens über das Werk und das Leben Dostojewskijs vorgelegt. Von 1998 bis 2004 war Horst-Jürgen Gerigk Präsident der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft, die er 1971 mitbegründet hat, und war lange Jahre Herausgeber der »Dostoevsky Studies. The Journal of the International Dostoevsky Society«. Seit 2008 war er korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Wichtige Veröffentlichungen: »Die Russen in Amerika. Dostojewskij, Tolstoj, Turgenjew und Tschechow in ihrer Bedeutung für die Literatur der USA« (1995), »Lesen und Interpretieren« (2. Aufl. 2006), »Die Spur der Endlichkeit. Meine akademischen Lehrer. Vier Porträts: Dmitrij Tschižewskij, Hans-Georg Gadamer, René Wellek, Paul Fussell« (2007).
der flott und spannend verfaßte […] Band vermittelt nach Aussage des Autors ›einer neuen Generation von Dostojewski-Lesern auf unterhaltsame Weise‹ eigenwillige und detaillierte Sachanalysen
Seine Monografie ist ein Muss für alle Fans.
das bewunderungswürdiges Resümee dieser jahrzehntelangen Arbeit […] ein Buch, das die Grenzen der akademischen Literaturwissenschaft sprengt und für jeden Dostojewskij-Leser zum spannenden Lektüreabenteuer wird
Horst-Jürgen Gerigk legt ein wichtiges Buch über ›Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller‹ vor.
Erstes Kapitel
Unter Verbrechern in Sibirien
Aufzeichnungen aus einem toten Haus
Dostojewskij lebte von 1821 bis 1881. Er wurde in Moskau geboren, starb in Petersburg und ist 59 Jahre alt geworden. Vier Jahre verbrachte er als politischer Sträfling im sibirischen Zuchthaus: zunächst in Tobolsk (zwölf Tage), dann in Omsk. Das waren die Jahre 1850 bis 1854. In diesen vier Jahren durchlebte er die Hölle. Herausgerissen aus der bürgerlichen Existenzform eines professionellen Schriftstellers in Petersburg, befindet er sich plötzlich unter Verbrechern in Sibirien.
Er hat über diese Erfahrung einen Bericht geschrieben: Die Aufzeichnungen aus einem toten Haus, die 1860 bis 1862 zum ersten Mal, wenn auch noch unvollständig, in der Zeitschrift »Der russische Bote« (Russkij vestnik) veröffentlicht wurden. Vollständig erschienen diese »Aufzeichnungen« aber erst 1865. Die Niederschrift begann 1859, nachdem Dostojewskij im März, aufgrund seiner Epilepsie, aus der Verbannung in Sibirien entlassen worden war und ab August in der Stadt Twer eine Wohnung nahm.
Keimzelle des Werks war sein sogenanntes »Sibirisches Heft« (35 Manuskriptseiten), worin Dostojewskij sich in 486 durchnummerierten Einträgen Wörter, besondere Redewendungen lokaler, meist folkloristischer Eigenart und Anekdoten aus dem Zuchthaus in Omsk notiert hatte sowie kurze Kommentare aus seiner anschließenden Zeit als Soldat im Siebenten Sibirischen Linienbataillon in Semipalatinsk.[3] Mehr als 200 dieser Einträge fanden Eingang in den Text der Aufzeichnungen aus einem toten Haus. Auch die darin eingeschobene Erzählung Akulkas Mann, auf die sogleich näher einzugehen ist, wird in den Einträgen skizziert, Dostojewskij hatte sie offensichtlich tatsächlich von jemandem gehört. Übernommen werden auch Namen von Sträflingen. Schon im Zuchthaus war Dostojewskij also entschlossen, seine hier gemachten Erfahrungen literarisch zu verarbeiten. Es war ihm aber an Ort und Stelle in Omsk nicht erlaubt zu schreiben (und wenn, dann nur unter bestimmten Bedingungen im Gefängnishospital). Das »Sibirische Heft« hatte ein Arzt des Gefängnishospitals (genau gesagt dessen ältester Feldscher) für ihn in seine Obhut genommen, so dass es von ihm noch in Semipalatinsk fortgesetzt werden konnte. Erst nach seiner Entlassung aus der sibirischen Verbannung im März 1859 konnte Dostojewskij wieder aktiv am literarischen Leben seiner Zeit teilnehmen.
Die Veröffentlichung der Aufzeichnungen aus einem toten Haus ab 1860 wurde für Dostojewskij ein großer Erfolg, und das in gleicher Weise bei Publikum und Kritik. Am 31. März 1865 schreibt der glückliche Autor aus Petersburg an Alexander Wrangel: »Mein ›Totes Haus‹ hat richtig Furore gemacht, und ich habe mit ihm meinen literarischen Ruf wiederhergestellt.«[4] Dem ist hinzuzufügen: mit einer völlig neuen Thematik, einer Thematik, für die offenbar allein Dostojewskij wirklich zuständig war. Später wird Tolstoj in einem Brief vom 26. September 1880 aus Jasnaja Poljana an Nikolaj Strachow bemerken: »Habe kürzlich, als ich mich schlecht fühlte, das ›Tote Haus‹ gelesen. Hatte vieles vergessen, las es jetzt wieder und kenne kein besseres Buch in der gesamten neuen Literatur, Puschkin eingeschlossen.«[5] Um dieses erstaunliche Urteil richtig einzuschätzen, muss man wissen, dass Tolstoj dem übrigen Œuvre Dostojewskijs skeptisch gegenüberstand.
Wenden wir uns nun dem Toten Haus zu. Mit protokollarischer Genauigkeit schildert das Werk das Leben in einem sibirischen Zuchthaus. In der »Einführung« umreißt ein anonymer Herausgeber die Persönlichkeit des im vergangenen Herbst mit etwa fünfunddreißig Jahren verstorbenen Alexander Gorjantschikow (von russ. gore = »Leid«), der wegen Ermordung seiner Frau zehn Jahre Zuchthaus verbüßt hat und nach seiner Freilassung vor drei Jahren über diese Zeit eine »zusammenhanglose Beschreibung« hinterlassen hatte. Er war nach Abbüßung seiner Strafe in Sibirien geblieben, als Ansiedler in einem Dorf nahe der Stadt. Von der Wirtin des Verstorbenen, der in völliger Vereinsamung gelebt hatte und ganze Nächte in seinem Zimmer auf und ab gegangen sei und vor sich hingesprochen habe, erwirbt der Herausgeber »für ein Zwanzigkopekenstück« einen ganzen Korb voller Papiere. Darunter auch das Heft mit den Aufzeichnungen über die Zuchthausjahre. Weil der Verfasser diese Aufzeichnungen an einer Stelle Szenen aus einem toten Haus nennt, hat der fiktive Herausgeber unter diesem Titel nun »zur Probe« einige Kapitel zusammengestellt.
Man sieht: Dostojewskij legt Wert auf eine völlig unpolitische Einkleidung seines eigenen Sträflingsreports. Die Manuskriptfiktion wird auf animierende Weise umständlich präsentiert. So heißt es, dass sich in diesem ziemlich umfangreichen, eng vollgeschriebenen und unvollendeten Heft mit den Aufzeichnungen über das Leben im Zuchthaus auch noch »seltsame, schreckliche Erinnerungen« eingestreut fanden, hastig und krampfhaft wie unter einem Zwang hingeworfen. Aus diesen Bruchstücken gewann der Herausgeber fast die Überzeugung, dass sie »im Wahnsinn« geschrieben worden seien. Sofort möchte der Leser mehr wissen, aber der Herausgeber gibt über diese Erinnerungen des Verstorbenen keine weitere Auskunft, hält lediglich fest: »Er war ein sehr blasser, hagerer Mann, noch nicht alt, von etwa fünfunddreißig Jahren, klein und schwächlich«, habe sich immer sehr sauber und nach europäischer Art gekleidet und ein tadelloses tugendhaftes Leben geführt. Er galt als extrem menschenscheu, es hieß, er lese viel, spreche aber wenig und unterrichte Kinder, die man ihm aus angesehenen Familien ohne weiteres anvertraue. Und er habe seit seiner Verbannung alle Beziehungen zu seinen Verwandten in Russland abgebrochen.
Dostojewskij hat nun die Aufmerksamkeit des Lesers voll im Griff und lässt seinen Herausgeber einschieben: »Außerdem kannten bei uns alle seine Geschichte, wussten, dass er seine Frau im ersten Jahr der Ehe aus Eifersucht ermordete und sich dann selber anzeigte (was das Strafmaß bedeutend milderte). Solche Verbrechen werden aber stets als Unglücksfälle angesehen und erregen Mitleid. Trotz alledem ging aber der Sonderling allen hartnäckig aus dem Wege und erschien nur, um Stunden zu geben.«[6] Der Leser erwartet jetzt von den ja sofort anschließenden Szenen aus einem toten Haus Auskunft über den Hergang des Verbrechens. Solche Auskunft erfolgt aber nicht. Alexander Gorjantschikow behält das Rätsel seines Verbrechens für sich, bleibt auch mit seinen Aufzeichnungen genau der, der er in der Einführung des Herausgebers für uns ist: ein verschlossener Sonderling. Darüber aber dürfen wir nicht vergessen, dass es Dostojewskij ist, der hier Regie führt über das, was gesagt wird, und das, was ungesagt bleibt. Und Dostojewskij ist es, der uns mit der Erzählung von Akulkas Mann (Teil II, Kap. 4), die Gorjantschikow nachts im Hospital aus einem der Nachbarbetten mithört, wissen lässt, wie es in Gorjantschikow ausgesehen hat, als er seine Frau ermordete. Gorjantschikow, und der Leser mit ihm, hört zwar mit besonderem Interesse zu, vertritt aber uns gegenüber nicht die künstlerischen Intentionen des Autors Dostojewskij, der uns mit Akulkas Mann eine Ahnung davon vermittelt, wie es im Innern seines Erzählers aussieht, ohne dass dieser sein Schweigen gegenüber seiner eigenen Tat, das ihn kennzeichnet, zu brechen hätte.
Kurzum: Die »Einführung« ist ein literarisches Kunstwerk eigener Art: vorgestellt wird ein in sich widersprüchlicher Charakter, der, nach Abbüßung einer zehnjährigen Zuchthausstrafe wegen Ermordung seiner Ehefrau, Sibirien nicht verlässt und ein diszipliniert ungeselliges Leben als Ansiedler führt, offensichtlich von Erinnerungen heimgesucht, die er niemandem mitteilt. Seine Hinterlassenschaft enthält ein Manuskript über seine Zuchthausjahre, das er als Szenen aus einem toten Haus verstanden hat. Wäre Dostojewskijs Text hier zu Ende, so hätten wir eine durchaus in sich geschlossene Skizze eines rätselhaften Charakters vorliegen.
Dostojewskijs Text ist aber hier nicht zu Ende, und es stellt sich die Frage: Wozu diese Einführung? Offensichtlich will Dostojewskij die Einsicht vermitteln, dass der Mord dem Mörder selbst ein Rätsel bleibt. Aklexander Gorjantschikow hat seine Strafe verbüßt, ist in die menschliche Gemeinschaft zurückgekehrt, die er durch sein Verbrechen verlassen hat, wird von dieser Gemeinschaft wieder akzeptiert und kommt doch nicht zur Ruhe. Was ihn aber beunruhigt, das wird uns nicht gesagt, wir erfahren nur, dass er nächtelang in seinem Zimmer auf und ab geht und Selbstgespräche führt. Der Leser ist auf das gespannt, was ihn in den »Aufzeichnungen« dieses Menschen erwartet.
Eine mögliche Antwort auf das Rätsel des Verbrechens findet sich denn auch in Kapitel 5 des Ersten Teils. Es heißt dort mit Bezug auf gewisse merkwürdige und scheinbar sinnlose Gewalttaten der Sträflinge im Zuchthaus: »Die Vorgesetzten wundern sich manchmal, dass ein Arrestant, der einige Jahre so friedlich und mustergültig gelebt hat und dem man wegen seines guten Betragens sogar eine Aufseherfunktion einräumte, plötzlich, als sei irgendein Teufel in ihn gefahren, wild wird, Radau macht, ja sogar eine kriminelle Handlung riskiert: sei es, dass er sich seinem...
Erscheint lt. Verlag | 25.4.2013 |
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Reihe/Serie | Fischer Klassik Plus | Fischer Klassik Plus |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Böse Geister • Der Idiot • Die Brüder Karamasow • Einführung • Ein grüner Junge • Erläuterung • Essay • Literaturgeschichte • Literaturkritik • Petersburg • Roman • Russland • Schweiz • Sibirien • Verbrechen und Strafe |
ISBN-10 | 3-10-402242-9 / 3104022429 |
ISBN-13 | 978-3-10-402242-0 / 9783104022420 |
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