Das mohnrote Meer (eBook)
656 Seiten
Blessing (Verlag)
978-3-641-11362-9 (ISBN)
Historienepos, Gesellschafts- und Abenteuerroman zugleich.
Amitav Ghosh wurde 1956 in Kalkutta geboren und studierte Geschichte und Sozialanthropologie in Neu-Delhi. Nach seiner Promotion in Oxford unterrichtete er an verschiedenen Universitäten. Mit »Der Glaspalast« gelang dem schon vielfach ausgezeichneten Autor weltweit der große Durchbruch. Zuletzt erschien seine Romantrilogie »Das mohnrote Meer«, »Der rauchblaue Fluss« und »Die Flut des Feuers« (2016) bei Heyne. Ghosh lebt in Indien und den USA.
ERSTES KAPITEL
Das Bild eines stolzen Schiffes unter vollen Segeln auf hoher See trat Diti an einem ganz gewöhnlichen Tag vor Augen, aber sie wusste sofort, dass die Vision ein Fingerzeig des Schicksals war, denn sie hatte ein solches Schiff noch nie zuvor gesehen, nicht einmal im Traum. Wie auch, da sie doch im nördlichen Bihar lebte, vierhundert Meilen von der Küste entfernt? Ihr Dorf lag so weit im Landesinneren, dass das Meer so fern schien wie die Unterwelt: Es war der Abgrund der Finsternis, wo der heilige Ganges im kālā-pānī verschwand, im »Schwarzen Wasser«.
Es geschah am Ende des Winters, in einem Jahr, in dem die Mohnpflanzen merkwürdig lange zögerten, ihre Blütenblätter abzuwerfen: Meilenweit schien der Ganges, von Benares abwärts, zwischen zwei Gletschern dahinzufließen, denn seine Ufer waren mit dicken Teppichen weiß blühender Blumen bedeckt. Es war, als hätten sich die Schneemassen des Himalaja über die Ebenen gebreitet, um auf das Holi-Fest mit seinen üppigen Frühlingsfarben zu warten.
Das Dorf, in dem Diti lebte, lag unweit der Stadt Ghazipur, ungefähr fünfzig Meilen östlich von Benares. Wie alle ihre Nachbarn war Diti besorgt wegen der verspäteten Mohnernte. An dem bewussten Tag stand sie früh auf und erledigte mechanisch ihre täglichen Pflichten, legte für Hukam Singh, ihren Mann, frisch gewaschene Kleidung zurecht, einen Dhoti und eine kamīz, und stellte das eingelegte Gemüse und die rotīs bereit, die er zu Mittag essen würde. Als sie sein Essen eingepackt hatte, legte sie eine Pause ein, um rasch in ihren Schrein zu gehen. Später, wenn sie gebadet und sich umgezogen hatte, würde sie ihre pūjā verrichten, mit Blumen und Opfergaben; jetzt aber, noch im Nachtsari, trat sie nur unter die Tür und legte kurz die Hände aneinander.
Schon bald kündigte ein quietschendes Rad den Ochsenkarren an, der Hukam Singh in die Fabrik im drei Meilen entfernten Ghazipur bringen würde. Kein weiter Weg, aber doch so weit, dass Hukam Singh ihn nicht zu Fuß zurücklegen konnte, denn er war als Sepoy in einem britischen Regiment am Bein verwundet worden. Die Behinderung war jedoch nicht so schwer, dass er Krücken gebraucht hätte – er konnte ohne Hilfe bis zu dem Karren gehen. Diti, die ihm mit einem Schritt Abstand folgte, trug ihm in einem Tuch sein Essen und sein Wasser nach und händigte ihm das Päckchen aus, als er auf den Karren gestiegen war.
Kalua, der Fahrer des Ochsenkarrens, war ein Hüne, machte aber keine Anstalten, seinem Fahrgast zu helfen, und achtete darauf, sein Gesicht vor ihm zu verbergen: Er war Chamar, und für Hukam Singh als Angehörigem der hohen Rajput-Kaste wäre der Anblick seines Gesichts ein böses Omen für den bevorstehenden Tag gewesen. Nachdem er auf den Karren geklettert war, saß der frühere Sepoy nun mit dem Rücken zu Kalua und hielt sein Bündel auf dem Schoß, damit es nicht mit irgendwelchen Gegenständen des Fahrers in Berührung kam. So saßen sie, Fahrer und Fahrgast, während der Karren über die Straße nach Ghazipur rumpelte – in freundschaftlichem Gespräch zwar, doch ohne sich auch nur einmal anzusehen.
Auch Diti verbarg sorgsam ihr Gesicht vor Kalua; erst als sie wieder ins Haus ging, um Kabutri, ihre sechsjährige Tochter, zu wecken, ließ sie es zu, dass der ghūngat ihres Saris ihr vom Kopf rutschte. Kabutri lag zusammengerollt auf ihrer Matte, und Diti erkannte an ihrem rasch wechselnden Gesichtsausdruck – bald schmollte, bald lächelte sie –, dass sie tief in einem Traum befangen war. Sie wollte sie schon wecken, doch dann hielt sie inne und trat zurück. Im Gesicht ihrer schlafenden Tochter entdeckte sie die Konturen ihrer eigenen Züge – die gleichen vollen Lippen, die gleiche rundliche Nase, das gleiche vorspringende Kinn –, nur waren die Linien bei dem Kind noch klar und scharf, während sie bei ihr mit der Zeit undeutlich geworden waren, gleichsam verwischt. Nach sieben Jahren Ehe war Diti selbst noch kaum mehr als ein Kind, auch wenn sich in ihrem dichten schwarzen Haar schon ein paar weiße Fäden zeigten. Ihre Gesichtshaut, von der Sonne ausgedörrt und gedunkelt, wurde um Mundwinkel und Augen herum bereits schuppig und rissig. Doch bei allen Sorgenfalten und aller Unscheinbarkeit ihres Äußeren hob sie sich doch in einem vom Alltäglichen ab: Sie hatte hellgraue Augen, was in diesem Teil des Landes ungewöhnlich war. Die Farbe – oder die Farblosigkeit – ihrer Augen bewirkte, dass man sie zugleich für eine Blinde und eine Seherin halten konnte. Das verunsicherte die Kinder und verstärkte ihre Vorurteile und abergläubischen Ansichten so sehr, dass sie ihr manchmal Schimpfwörter nachriefen – churail, dāiniyā –, als wäre sie eine Hexe. Doch ein einziger Blick aus ihren Augen genügte, und sie stoben davon. Obwohl Diti durchaus ein wenig stolz darauf war, dass sie diese Macht besaß, war sie um ihrer Tochter willen froh, ihr diesen Aspekt ihres Aussehens nicht vererbt zu haben – sie erfreute sich an Kabutris dunklen Augen, die so schwarz waren wie ihr glänzendes Haar. Als sie so auf das träumende Gesicht ihrer Tochter hinabsah, lächelte Diti und beschloss, sie doch nicht zu wecken: In drei bis vier Jahren würde das Mädchen heiraten und fortgehen; sie würde noch genug arbeiten müssen, wenn sie erst im Haus ihres Mannes lebte; die wenigen Jahre, die sie noch daheim war, konnte sie sich genauso gut ausruhen.
Diti aß rasch einen Bissen rotī und trat dann auf den flachen Vorplatz aus gestampfter Erde hinaus, der ihre Lehmhütte von den Mohnfeldern trennte. Im Licht der Morgensonne sah sie mit großer Erleichterung, dass einige der Blüten endlich begonnen hatten, ihre Blätter abzuwerfen. Auf dem Nachbarfeld war Chandan Singh, der jüngere Bruder ihres Mannes, bereits bei der Arbeit. Mit seinem Opiummesser ritzte er einige der kahlen Kapseln an; trat über Nacht genügend Saft aus, würde er morgen mit seiner Familie das ganze Feld bearbeiten. Der Zeitpunkt musste genau stimmen, denn die kostbare Milch floss nur während einer kurzen Spanne im Lebenszyklus der Pflanze: ein, zwei Tage zu früh oder zu spät, und die Mohnkapseln waren so wertlos wie Unkrautblüten.
Chandan Singh hatte Diti auch gesehen, und er war einer, der niemanden vorbeigehen lassen konnte, ohne ihn anzusprechen. Ein lüstern blickender, weichlicher junger Mann mit einer Brut von fünf Kindern, ließ er keine Gelegenheit aus, Diti ihre geringe Nachkommenschaft vorzuhalten. »Was ist los?«, rief er und leckte einen Tropfen frischen Saft von der Spitze seines Messers. »Wieder allein bei der Arbeit? Wie lange willst du noch so weitermachen? Du brauchst einen Sohn, der dir zur Hand gehen kann. Schließlich bist du nicht unfruchtbar …«
Diti kannte die Art ihres Schwagers zur Genüge, und es fiel ihr nicht schwer, seine anzüglichen Reden zu ignorieren: Sie kehrte ihm den Rücken und ging, einen großen Korb auf der Hüfte, zu ihrem eigenen Feld. Zwischen den Reihen der Mohnblumen war die Erde mit seidigen Blütenblättern bedeckt, und sie scharrte sie mit beiden Händen zusammen und legte sie in ihren Korb. Noch vor ein, zwei Wochen hätte sie sich seitwärts bewegt, um die Blüten nicht zu berühren, doch nun schritt sie munter aus und beachtete es kaum, wenn ihr wehender Sari die Blütenblätter büschelweise von den reifenden Kapseln streifte. Als der Korb voll war, trug sie ihn zurück und entleerte ihn neben dem chūlhā, dem Herd vor dem Haus, auf dem sie meist das Essen kochte. Dieser Teil des Eingangs lag im Schatten eines riesigen Mangobaums, an dem sich gerade erst die Grübchen zeigten, aus denen die ersten Knospen des Frühlings entspringen würden. Froh, der Sonne entronnen zu sein, ging Diti vor dem Herd in die Hocke und warf einen Armvoll Feuerholz in die Asche, unter der noch die Glut vom Abend zuvor glomm.
Kabutri war aufgewacht, und als sie in der Tür erschien, war Ditis nachsichtige Stimmung verflogen. »So spät?«, schalt sie. »Wo bleibst du denn? Denkst du, es gibt nichts zu tun?«
Diti trug ihrer Tochter auf, die Mohnblütenblätter zu einem Häufchen zusammenzufegen, während sie damit beschäftigt war, das Feuer anzufachen und eine schwere eiserne Pfanne zu erhitzen. Als die Pfanne heiß genug war, streute sie eine Handvoll Blütenblätter hinein und drückte sie mit einem Lumpen an. Durch das Rösten verfärbten sie sich dunkel und klebten zusammen, sodass sie schon bald genauso aussahen wie die runden rotīs aus Weizenmehl, die Diti ihrem Mann zum Mittagsmahl mitgegeben hatte. Und »rotī« war auch der Name dieser Mohnblütenhüllen, obwohl sie einem ganz anderen Zweck dienten als ihre Namensvettern: Sie wurden an die Sudder Opium Factory verkauft, die Opiumfabrik in Ghazipur, wo man mit ihnen die irdenen Behälter auskleidete, in denen das Opium verpackt wurde.
Kabutri hatte unterdessen etwas Teig geknetet und ein paar rotīs gerollt, und Diti buk sie noch rasch, bevor sie das Feuer löschte: Die rotīs wurden beiseitegelegt, um später zu den Resten vom Vortag gegessen zu werden – abgestandenem alūposta , in Mohnsamenpaste gegarten Kartoffeln. Nun wandten sich ihre Gedanken wieder ihrem Schrein zu: Da die Stunde der mittäglichen pūjā nahte, wurde es Zeit für ein Bad im Fluss. Nachdem sie in Kabutris und ihr eigenes Haar Mohnsamenöl einmassiert hatte, legte sie sich ihren zweiten Sari über die Schulter und ging mit ihrer Tochter über das Feld zum Wasser hinunter.
Die Mohnpflanzen endeten an einem sandigen Ufer, das sanft zum Ganges hin abfiel; von der Sonne aufgeheizt, war der Sand so heiß, dass er...
Erscheint lt. Verlag | 23.4.2013 |
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Reihe/Serie | Ibis-Trilogie |
Ibis-Trilogie | |
Übersetzer | Barbara Heller |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Sea of Poppies |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 19.Jahrhundert • 19. Jahrhundert • 19. Jahrhundert, Indien • Abenteuer • Abenteuerroman • Ausbeutung • eBooks • England • Geschichte • Gesellschaft • Historische Romane • HistorischerRoman • Hoffnung • Indien • Opium • Roman • Schicksal • Sklavenschiff |
ISBN-10 | 3-641-11362-8 / 3641113628 |
ISBN-13 | 978-3-641-11362-9 / 9783641113629 |
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