Kulturen der Empathie (eBook)
204 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73277-9 (ISBN)
Fritz Breithaupt ist Professor für Kognitionswissenschaften und Germanistik an der Indiana University in Bloomington. Dort leitet er das in seiner Form einzigartige Experimental Humanities Lab, an dem er narrative Ereignisse, Empathie, moralisches Denken, Emotionen, Parteilichkeit, Ausreden, Gewalt und Überraschung mit seinem Team empirisch erforscht. Er schreibt regelmäßig für <em>Die Zeit</em> und das <em>Philosophie Magazin</em>.
Cover 1
Informationen zum Buch / zum Autor 2
Impressum 4
Inhalt 5
Einleitung 7
Die Geschichte mit der Maus 7
These 8
Gliederung des Buches 15
Gebrauchsanweisung 17
Kapitel 1
18
1. Ähnlichkeit als Bedingung von Empathie 18
2. Landschaften der Ähnlichkeit 22
3. Fehlbefunde von Ähnlichkeit 25
4. Emotionale Ansteckung und der Schutz gegen dieselbe 30
5. Spiegelneuronen: Die Architektur der Ähnlichkeit 36
6. Können Spiegelneuronen blockiert und gesteuert werden? 43
7. Kurze Klärung eines scheinbaren Widerspruchs 52
8. Exkurs: Das Ich als Blockade gegen Empathie (Lessing) 54
9. Rück- und Ausblick: Von der Ähnlichkeit zur Unähnlichkeit 64
Kapitel 2
66
1. Smarties oder Bleistifte (False-Belief-Aufgaben) 66
2. Die Konstruktion des anderen 68
3. Ich in deiner Haut: Empathie-Situationen 76
4. Die Ein-Punkt-Konstruktion des anderen 80
5. Narrativierung und Traumatisierung (E.T.A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi) 82
6. Grenzen der Kultur der Konstruktion 87
Kapitel 3 Der unsichtbare Dritte. Stockholm, Macht, Reziprozität 89
1. 1973 89
2. Affen-Tratsch 96
3. Der unsichtbare Dritte 105
4. Empathie als Gabe (Exkurs zu Liebe und Kooperation) 109
Kapitel 4 Narrative Empathie 114
1. Narration und Bewusstsein (narrative intelligence hypothesis) 117
2. Der Zwang zur Narration: Legitimationsdruck und Handlungsselektion 125
3. Narration: Was ist das? 130
4. Die Schere des Aristoteles 139
5. Theorie der Narration 145
6. Empathie als Parteinahme in Dreierszenen 152
7. Parteinahme versus »Identifikation« 165
8. Narrative Empathie 170
9. Die Perversion der Empathie (Theodor Fontanes Effi Briest) 175
10. Rückblick 185
Nachwort zum Verhältnis von Empathie und Moral 190
Danksagung 194
Bibliographie 195
7Einleitung
Die Geschichte mit der Maus
Vor ein paar Jahren saß ich mit Kollegen nach einer Lesegruppe noch ein wenig zusammen. Die konzentrierte Arbeit am Text war getan und nun konnten wir unsere Gedanken frei wandern lassen. Wir kamen auf das Thema Empathie zu sprechen, zu dem ich, wie meine Kollegen wussten, einen Kurs unterrichten wollte. Eine einfache Frage kam auf: Wird Empathie von den meisten Menschen anhand ähnlicher Muster empfunden oder nicht? Gibt es eine Urszene der Einfühlung, die wir teilen? Wir entschieden, die Probe zu machen. Jeder sollte seine deutlichste Erinnerung erzählen, wann er oder sie in die Haut eines anderen geschlüpft war. Die erste damals vorgetragene Geschichte lautete wie folgt:
In meiner ersten eigenen Wohnung als Student gab es eine Maus. Ich konnte sie nachts bisweilen hören und ihre Spuren sehen, aber es gelang mir nicht, sie zu fangen. Als ich eines Morgens in die Küche kam, hörte ich ein sonderbares, kratzendes Geräusch aus dem Waschbecken. Ich trat näher heran und sah, dass die Maus in das Becken gefallen war. An den glatten Wänden konnte sie keinen Halt finden und war gefangen. Ich starrte die Maus an und sie blickte zurück. Dann machte ich den Wasserhahn an, so dass die Maus von dem Wasser in den garbage disposal (einen elektrischen Müllzerkleinerer) gespült wurde. Dann drückte ich den Knopf …[1]
Diese Geschichte ist bemerkenswert in vielerlei Hinsicht. Einfühlung ist hier nicht das positive Mitgefühl mit einem ähnlichen Menschen in Not. Vielmehr ist das Mitgefühl hier unmittelbar an ein Täterbewusstsein, ein schlechtes Gewissen, gebunden. Und auch die Ähnlichkeit zwischen dem empathisierenden Menschen und der Maus dürften relativ gering sein. Stattdessen gibt es eine Vorgeschichte, die Maus und Mensch gegeneinander stellt. Trotzdem ist diese Geschichte, zumindest für den Erzähler, eine Darstellung des Erlebens von Empathie, die ein Band zwischen ihm und der Maus knüpft.
8Ob diese Geschichte von der armen Maus nun in der Tat die Charakeristika einer Urszene der Einfühlung hat, sei erst einmal dahingestellt (im vierten Kapitel dieses Buches wird ein Vorschlag gemacht, wie eine solche Urszene aussehen könnte). Wichtig ist hier, dass dem Erzähler das Mitleid und Mitgefühl mit der Maus vor der Episode mit dem Müllzerkleinerer fern lag. Offensichtlich gab es etwas in dieser Situation, das ihn dazu bewegte, seine neutrale oder negative Haltung aufzugeben. Empathie kann also, vielleicht, aus- und eingeschaltet werden. Diese Vermutung, so einfach sie klingt, gab diesem Buch den Startschuss.
These
Empathie ist seit einigen Jahren zu einem der Kernthemen der Kognitionswissenschaften aufgestiegen. Der Begriff soll hier zunächst im weitesten Sinne verstanden werden als Einfühlung oder das In-die-Haut-des-anderen-Schlüpfen. Dies umfasst etwa das kalkulierende Gedankenlesen, das Mitgefühl, das unwillkürliche oder willkürliche Miterleben und das Einnehmen der Perspektive eines anderen. Dabei ist zu betonen, dass Empathie keineswegs nur eine Angelegenheit des Wohlwollens und der positiven Akzeptanz der anderen ist. Vielmehr erlaubt Empathie auch, die Konkurrenten besser zu verstehen und daher auszuschalten. Schadenfreude ist kein Randphänomen der Empathie.
Die Entdeckung der sogenannten Spiegelneuronen, die Diskussionen um die »Theory of Mind« und Überlegungen von Evolutionsbiologen zur sozialen Intelligenz des Menschen haben eine Reihe von Mechanismen zu Tage gefördert, die es uns erlauben, in die Haut der anderen schlüpfen. Die Kognitionswissenschaften geben uns nicht nur erstaunliche Aufschlüsse über die Mechanismen von Empathie, sondern zeigen auch, dass Menschen wohl gar nicht anders können, als mit anderen mitzufühlen. Die Fähigkeit des intellektuellen und emotionalen Verstehens von anderen beruht offenbar zu einem nicht unerheblichen Teil auf angeborenen Fähigkeiten zur Mimikri und auf basalen neuronalen Möglichkeiten, die uns das bei anderen beobachtete Verhalten wie das eigene Handeln erleben lassen. Soziale Wesen wie die Menschen leben in einer Welt voll empathischen Lärms, so dass sie fast unwillkürlich fortwährend 9die Perspektive der anderen einnehmen. Wenn wir etwa ein Gespräch in einer Gruppe von Menschen beobachten, springt unsere empathische Aufmerksamkeit oft in rasanter Geschwindigkeit von einem zum nächsten.
Die Frage meiner Kollegen in der Lesegruppe, die fast alle Geistes- und Kulturwissenschaftler sind, zielte nun darauf, ob die individuelle Steuerung dann eigentlich eine Rolle im Prozess der Empathie spielt, denn die Einsichten der Kognitionswissenschaftler in die Mechanismen der Empathie lassen wenig Raum für individuelle Entscheidungen. Menschen und manche Primaten deuten die Handlungen, Emotionen und Intentionen anderer anscheinend quasi automatisch, prä-reflexiv und prä-rational, einfach deshalb, weil sie eine ähnliche Gerhirnaktivität vollziehen, wie diejenigen, deren Handlung sie beobachten. Trotzdem gibt es hier eine Funktion für individuelle Steuerung. Wenn Empathie quasi automatisch stattfindet, genügt es nicht zu fragen, wie Empathie zustandekommt. Vielmehr muss zugleich untersucht werden, wie Empathie und der mit ihr verbundene Selbstverlust unterbunden wird. Wie wird Empathie gelenkt, kanalisiert, abgezogen, gefiltert und das heißt in einem Wort: blockiert?
Worin bestehen derartige Blockade-Mechanismen von Empathie und von wem oder was werden sie gesteuert? Vom Bewusstsein?[2] Von Kultur-Techniken? Wenn ja – welchen? Und unter welchen Umständen wird Empathie dennoch zugelassen? Vermutlich wird die Aktivität der Spiegelneuronen durch die Blockade-Mechanismen wohl nicht unterbunden (obwohl auch hier offene Fragen bestehen, siehe Kapitel 1). Dennoch wird nicht jede Aktivität der Spiegelneuronen in Mitleid, Mitgefühl und Verständnis übersetzt. Wie werden von anderen aufgenommene Emotionen und die Aktivität der Spiegelneuronen interpretiert, gefiltert und fokussiert? Warum kann eine Maus in meinem Freund Empathie auslösen, während mancher Mensch daran scheitert? Und warum haben wir mit einer Maus erst Empathie, wenn es zu spät ist?
Diese und verwandte Fragen markieren den Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung. Untersucht und aufgetan werden soll der Raum zwischen der neuronalen Aktivität und dem Ausbilden von 10Verstehen, Mitgefühl und Mitleid, das heißt der Raum der Kulturen der Empathie.[3]
Die Antwort, die das Buch auf diese Fragen entfalten wird, lautet, dass wir andere Menschen (und uns selbst) verstehen, indem wir sie in kleine gedankliche Erzählungen verwickeln. Wir verstehen, indem wir erzählen. Es kann dabei durchaus möglich sein, dass bereits das sehr schnelle Hin- und Herspringen der Empathie zwischen diversen Kommunikationspartnern Fragmente von Erzählungen involviert, insofern auch hier regelmäßig eine zeitliche Dimension des von den Personen Intendierten, aber noch nicht Ausgeführten eine Rolle spielt. Indem wir in unseren Gedanken, bewusst oder nicht-bewusst, das zeitliche Nacheinander der Handlungen und Situationen eines anderen ausspinnen, sind wir ihm verbunden.
Was ist das Besondere an zeitlichen Prozessen? Zeitliche Prozesse entziehen sich der Sichtbarkeit in einem Augenblick. In jedem gegebenen Augenblick fehlt etwas. Ebendieses Fehlen nötigt oder ermächtigt den Beobachter dazu, spekulativ die fehlenden Momente hinzuzudenken und dadurch die bloße Beschreibung zu überschreiten. Durch ein solches narratives Hinzudenken, welches Autisten etwa schwer fällt, wird der Beobachter impliziert. Er selbst spannt die zeitliche Brücke zu den anderen Ereignissen, und beginnt dabei, die Perspektive des oder der Handelnden einzunehmen. Narration wird in diesem Sinne definiert als das Spannen einer Brücke zwischen zwei nicht zwingend miteinander verknüpften Ereignissen (vgl. dazu Kapitel 4, Abschnitt 1-5). Der Beobachter schlüpft also nicht direkt in die Haut des anderen, sondern kalkuliert oder erträumt die Handlungsmöglichkeiten des anderen. Dies hat den Effekt, dass er aus dessen Augen zu schauen scheint. In gewisser 11Hinsicht überlistet der Beobachter sich selbst, wenn dabei aus dem narrativen Kalkül Mitgefühl und Mitleid werden.
Daraus folgt, dass diejenigen zeitlichen Prozesse am geeignetsten für Empathie sind, in denen der Beobachter selbst aktiv die zeitliche Abfolge errichtet und die Ziele und die Intentionen der Handelnden errät oder erahnt. Damit der Beobachter aktiv wird, darf die Vorhersage oder Rekonstruktion nicht vorab gegeben oder zu offensichtlich sein. Es muss ein Rest an Arbeit für den Beobachter bleiben, ein Spielraum, in dem der Beobachter gebraucht wird. In vielen literarisch-narrativen Medien führt dies zur Bevorzugung von tendenziell kontra-intuitiven und überraschenden Verknüpfungen. Im Medium des Films oder in Computerspielen ebenso wie in vielen Alltagssituationen und dem Sport kann die Leistung des Beobachters auch darin bestehen, sich der großen Geschwindigkeit der Ereignisse anzupassen und mit nur sehr kurzer Reaktionszeit Vorhersagen und Entscheidungen zu treffen.
Diese These einer narrativen Empathie gewinnt Schärfe, wenn wir uns fragen, wann es nicht zu Empathie kommt. Die Narrationsmuster stellen nämlich zugleich einen Blockade-Apparat bereit, der Empathie auf einige wenige besondere Fälle reduziert. Zugelassen wird Empathie nur dort, wo zeitliche Prozesse des Vorher und Nachher entscheidend sind. Dort, wo es nichts vorherzusagen oder rückwirkend zu rekonstruieren gibt, also in stagnierenden Situationen, ebenso wie in vollkommen abrupten, wilkürlichen oder...
Erscheint lt. Verlag | 15.4.2013 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Einfühlung • Kulturforschung • Mitgefühl • STW 1906 • STW1906 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1906 • Wissenschaftsbuch des Jahres 2023 |
ISBN-10 | 3-518-73277-3 / 3518732773 |
ISBN-13 | 978-3-518-73277-9 / 9783518732779 |
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