Der dritte Zustand (eBook)

Roman

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
366 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73175-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der dritte Zustand -  AMOS OZ
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Mit dem ironischen Porträt des sich selbst quälenden Intellektuellen Fima ist Amos Oz nicht nur eine Diagnose der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft gelungen, sondern zugleich ein äußerst humor- und liebevolles Porträt der täglich mit den Fragen von Leben und Tod konfrontierten einzelnen Israelis. Denn hier werden die Hoffnungen wie Ängste der Israelis auf das genaueste dargestellt: Jerusalem erscheint als völlig verrottet, nichts funktioniert, jeder »zweite Typ ein halber Prophet und ein halber Ministerpräsident«, kurz: »ein Irrenhaus«.



<p>Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren und starb am 28. Dezember 2018 in Tel Aviv. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf Hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Amos Oz war Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now) und befürwortete eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992, dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 2005 und dem Siegfried Lenz Preis 2014. Sein bekanntestes Werk <em>Eine Geschichte von Liebe und Finsternis</em> wurde in alle Weltsprachen übersetzt und 2016 als Film adaptiert.</p>

Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren und starb am 28. Dezember 2018 in Tel Aviv. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf Hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Amos Oz war Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now) und befürwortete eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992, dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 2005 und dem Siegfried Lenz Preis 2014. Sein bekanntestes Werk Eine Geschichte von Liebe und Finsternis wurde in alle Weltsprachen übersetzt und 2016 als Film adaptiert. Ruth Achlama, geboren 1945 in Quedlinburg, studierte Rechtswissenschaft in Heidelberg und Bibliothekswissenschaft in Jerusalem. Heute ist sie hauptberuflich als freie Übersetzerin tätig und lebt in Tel Aviv.

2.
Fima steht zur Arbeit auf


Efraim kletterte in verschwitzter Unterwäsche aus dem Bett, sperrte die Jalousielamellen ein wenig und blickte aus dem Fenster auf den Beginn eines Jerusalemer Wintertags. Die nahen Häuser erschienen ihm nicht nah, eher fern von ihm und voneinander, und niedrige Nebelfetzen trieben zwischen ihnen hindurch. Kein Lebenszeichen regte sich draußen. Als dauere der Traum an. Aber jetzt war das keine Kopfsteingasse mehr, sondern ein schäbiges Sträßchen am Südwestende von Kiriat Jovel – zwei Reihen breiter, plumper Siedlungsbauten, Ende der fünfziger Jahre schnell und billig hochgezogen. Die Bewohner hatten die meisten Balkons mit Zementblöcken, Asbestplatten, Glas und Aluminium zugebaut. Hier und da hingen leere Blumenkästen und vertrocknete Topfpflanzen an einem rostigen Geländer. Im Süden sah er die Bethlehemer Berge, die mit einer grauen Wolke verschmolzen und an diesem Morgen häßlich, ja richtig dreckig wirkten, als türmten sich dort an Stelle von Bergen riesige Haufen Industriemüll. Ein Nachbar hatte wegen der Kälte und Feuchtigkeit Mühe, seinen Wagen in Gang zu bekommen: Der Motor röchelte und verstummte und röchelte erneut lange und heiser wie ein Sterbenskranker, der trotz seiner bereits zerfressenen Lungen pausenlos weiterraucht. Wieder überkam Fima das Gefühl, er befinde sich irrtümlich hier und müsse eigentlich an einem gänzlich anderen Ort sein.

Aber was der Irrtum war und wo dieser andere Ort lag, wußte er diesen Morgen nicht, ja, hatte es eigentlich noch nie gewußt.

Das Ächzen des Motors weckte seinen Morgenhusten, worauf er sich vom Fenster löste, da er den Tag nicht in Müßigkeit und Trauer beginnen wollte. Aus eben diesem Grund sagte er sich: Faulpelz!, wandte sich um und begann mit einfachen Streck- und Beugeübungen vor dem Spiegel, dessen Fläche von schwarzen Inseln und Kontinenten übersät war, deren gewundene Küstenlinien vor Buchten und Fjorden wimmelten. Dieser Spiegel prangte außen an einer Tür des uralten braunen Kleiderschranks, den ihm sein Vater vor rund dreißig Jahren gekauft hatte. Vielleicht hätte er die Frau fragen sollen, zwischen was er zu trennen hatte, aber dazu war es nun zu spät.

Für gewöhnlich verabscheute Fima das Herumhängen am Fenster. Und vor allem konnte er den Anblick einer am Fenster stehenden Frau – Rücken zum Zimmer, Gesicht nach draußen – nicht ertragen. Vor der Scheidung hatte er Jael dauernd in Rage gebracht, weil er sie jedesmal anbrüllte, wenn sie so dastand und auf die Straße oder das Gebirge hinausschaute.

»Was, verstoße ich schon wieder gegen die Hausordnung?«

»Du weißt doch, daß mich das nervös macht.«

»Dein Problem, Effi.«

Aber an diesem Morgen machten ihn auch die Gymnastikübungen vor dem Spiegel nervös und schlapp, so daß er zwei, drei Minuten später damit aufhörte – nicht ehe er sich noch einmal als Faulpelz betitelt und verächtlich schnaufend hinzugefügt hatte: »Ihr Problem, mein Herr.«

Vierundfünfzig Jahre war er alt. Und in den Jahren des Alleinseins hatte er sich angewöhnt, gelegentlich mit sich selber zu reden. Diese Angewohnheit zählte er zu seinen Hagestolzticks – zusammen mit dem Verlieren des Marmeladenglasdeckels, dem Stutzen der Haare in nur einem Nasenloch unter Vergessen des zweiten, dem Öffnen des Hosenreißverschlusses aus Zeitersparnisgründen schon auf dem Weg zur Toilette, dem Danebenzielen zu Beginn des Pinkelns und dem Betätigen der Wasserspülung mittendrin, um durch das laute Plätschern der stotternden Blase auf die Sprünge zu helfen, bemüht, noch bei laufendem Wasserstrom fertig zu werden, so daß stets ein Wettlauf zwischen der Klosettspülung und seinem eigenen Wasser einsetzte. Als ewiger Verlierer bei diesem Rennen blieben ihm dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder er nahm – das Glied in der Hand – die ärgerliche Warterei in Kauf, bis der Behälter wieder vollgelaufen war und die Schüssel erneut gespült werden konnte, oder er fand sich damit ab, den Urin bis zum nächstenmal auf dem Wasser schwimmen zu lassen. Da er jedoch weder nachgeben noch seine Zeit mit Warten vergeuden wollte, pflegte er den Hebel vor der gänzlichen Auffüllung des Behälters zu betätigen. Damit löste er ein verfrühtes Rinnsal aus, das zwar nicht zur Säuberung des Beckens ausreichte, ihm aber erneut die ärgerliche Alternative zwischen Abwarten und ergebenem Rückzug aufzwang. Dabei gab es doch so einige Liebschaften und Ideen in seinem Leben, auch ein paar Gedichte, die seinerzeit Erwartungen geweckt hatten, Gedanken über den Sinn der Welt, klare Auffassungen über das gegenwärtig ziellose Treiben des Staates, detaillierte Vorstellungen für die Gründung einer neuen politischen Bewegung, diese und jene Sehnsüchte und das ständige Verlangen, ein neues Kapitel anzufangen. Und da stand er hier nun allein in seiner verschlampten Wohnung an einem trüben, regnerischen Morgen, in den erniedrigenden Kampf versunken, den Hemdenzipfel aus den Zähnen des Hosenreißverschlusses freizukriegen. Und währenddessen leierte ihm ein nasser Vogel draußen unablässig einen Satz von drei Noten vor, als sei er zu dem Schluß gelangt, Fima sei geistig zurückgeblieben und werde nie verstehen.

Durch das Aufspüren und genaue, detaillierte Aufzählen seiner Altherrengewohnheiten hoffte Fima von sich selbst wegzukommen, eine spöttische Distanz herzustellen und so seine Sehnsüchte oder seine Ehre zu schützen. Doch gelegentlich offenbarte sich ihm, wie durch Erleuchtung, dieses gründliche Nachspüren nach lächerlichen oder zwanghaften Angewohnheiten nicht als Befestigungslinie, die ihn von dem alten Hagestolz trennte, sondern gerade als eine List des alternden Junggesellen mit dem Ziel, ihn, Fima, wegzudrängen und abzuschütteln, um seinen Platz einzunehmen.

Er beschloß, zum Kleiderschrank zurückzukehren und sich im Spiegel zu betrachten. Wobei er es als seine Pflicht ansah, beim Anblick seines Körpers weder Verächtlichkeit noch Verzweiflung oder Selbstmitleid zu empfinden, sondern sich mit den Gegebenheiten abzufinden. Im Spiegel blickte ihm ein blasser, leicht übergewichtiger Angestellter mit Speckfalten um die Taille entgegen, ein Büromensch in nicht sehr frischer Wäsche, mit spärlich schwarzbehaarten weißen Beinen, die im Verhältnis zum Bauch zu mager wirkten, ergrauendem Haar, hängenden Schultern und schlaffen Männerbrüsten am keineswegs sonnengebräunten Oberkörper, dessen Haut hie und da von Fettpickeln befallen war, unter denen einer sich rötlich entzündet hatte. Diese Pickel begann er nun vor dem Spiegel mit Daumen und Zeigefinger auszudrücken. Das Platzen der kleinen Abszesse und das Herausquellen des gelblichen Fetts bereiteten ihm leichten Genuß, ein hämisch vages Vergnügen. Fünfzig Jahre, eine wahre Elefantenschwangerschaft lang, war dieser abgetakelte Schreibtischmensch im Schoß des Kindes, des Jünglings und des Mannes angeschwollen. Und nun, nach Ablauf von fünfzig Jahren, war die Schwangerschaft beendet, die Gebärmutter aufgeplatzt, und der Schmetterling hatte eine plumpe Larve geboren. In dieser Larve – Golem auf gut hebräisch – erkannte Fima sich selbst.

Und doch entdeckte er dabei, daß die Dinge sich eben jetzt verkehrten, daß im tiefsten Innern der Larve von nun an und für immer das Kind mit den staunenden Augen und den zarten langen Gliedmaßen verborgen lag.

Das von einem leisen Grinsen begleitete Sichabfinden vermengte sich manchmal mit seinem Gegenteil – der innigen Sehnsucht des Kindes, des Jünglings und des Mannes, aus deren Schoß die Larve hervorgekrochen war. Dann kam es ihm momentan vor, als werde ihm das unwiederbringlich Verlorene in destilliertem, reinem, korrosionsgeschütztem, gegen Sehnsucht und Schmerz gefeitem Aggregatzustand zurückgegeben. Wie im Vakuum einer Glasblase wurde ihm einen Augenblick lang auch Jaels Liebe wieder zuteil – mit einer Berührung ihrer Lippen und Zunge hinter seinem Ohr und dem gewisperten »faß mich da an, da«.

Als Fima dann im Bad entdeckte, daß sein Rasierschaum aufgebraucht war, stand er ein Weilchen unentschlossen herum, bis ihm der Geistesblitz kam, es mit einer dicken Schicht gewöhnlicher Handseife zu versuchen. Nur verströmte dieses Stück anstelle von normalem Seifengeruch den säuerlichen Hauch einer Achselhöhle an einem heißen Tag. Er schabte sich mit der Rasierklinge über die Wangen, bis sie rot wurden, vergaß aber die Bartstoppeln unterm Kinn. Danach duschte er warm, beendete die Prozedur beherzt mit drei Sekunden kaltem Guß und fühlte sich nun einen Moment frisch und energiegeladen, bereit, ein neues Lebenskapitel anzufangen, bis das von gestern, vorgestern und vorvorgestern feuchte Handtuch ihn wieder mit dem eigenen Nachtdunst umhüllte – als sei er gezwungen, ein angeschmuddeltes Hemd wiederanzuziehen.

Vom Bad begab er sich in die Küche, stellte Kaffeewasser auf, spülte eine der schmutzigen Henkeltassen im Ausguß, gab zwei Süßstofftabletten nebst zwei Teelöffeln Pulverkaffee hinein und ging sein Bett machen. Der Kampf mit der Tagesdecke zog sich drei, vier Minuten hin, und als er in die Küche zurückkehrte, merkte er, daß er den Kühlschrank über Nacht aufgelassen hatte. Er holte Margarine, Marmelade und ein gestern angefangenes Joghurt heraus, wobei offenbar wurde, daß ein dummes Insekt sich ausgerechnet diesen offenen Joghurtbecher zum Ort seines Freitods erkoren hatte. Mittels eines Teelöffels versuchte Fima den Leichnam herauszufischen, versenkte ihn dabei aber nur um so tiefer. So warf er den Becher in den Müll und begnügte sich im übrigen mit schwarzem Kaffee, da er, ohne nachzuprüfen, annahm, die Milch sei im offenen Kühlschrank gewiß auch sauer geworden. Er hatte vor,...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2013
Übersetzer Ruth Achlama
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Ha mazaw ha schlischi
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Geschichte 1989 • Jerusalem • ST 2331 • ST2331 • suhrkamp taschenbuch 2331
ISBN-10 3-518-73175-0 / 3518731750
ISBN-13 978-3-518-73175-8 / 9783518731758
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