Leichtmatrosen (eBook)

Roman

(Autor)

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2013 | 2. Auflage
352 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-0569-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leichtmatrosen -  Tom Liehr
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Das Leben ist eine Schleuse.

'Im Flur drückte ich zum x-ten Mal die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters. Patrick, ich bin morgen in Düsseldorf, danach im Allgäu. Ich freue mich auf die Pause bei meiner Familie. Hab dich lieb. - Hab dich lieb. Das sagt man zur eigenen Mutter, aber doch nicht zu dem Mann, mit dem man sechzig Stellungen aus dem Kamasutra ausprobiert hat.'

Patrick ist sich sicher, dass Cora ihn betrügt, und ausgerechnet jetzt hat er sich mit drei - sogenannten - Freunden verabredet, mit einem Hausboot die Havel hinaufzuschippern. Eine Idee, die ihm nun so klug vorkommt wie ein Landkauf auf dem Jupiter. Die Chaos-Crew: Henner, ein evangelischer Pfarrer, Mark, ein Verlierer, wie er im Buche steht, und Simon, der gerne die Welt erklärt, unzuverlässig ist und fünfundzwanzig Handys besitzt. Mit dem Schiff 'Dahme' stechen sie in See. Zehn absurde, chaotische und doch wunderschöne Tage auf dem Wasser, die bei den vier Männern etwas zum Vorschein bringen, das sie alle eigentlich längst wissen: So kann es nicht weitergehen ...

Vier Männer und ein Boot - ein Roman, der Lust auf den nächsten Sommer macht und auf ganz viel mehr.



Tom Liehr war Redakteur, Rundfunkproduzent und DJ. Seit 1998 Besitzer eines Software-Unternehmens. Er lebt in Berlin.

Im Aufbau Taschenbuch sind seine Romane 'Radio Nights', 'Idiotentest', 'Stellungswechsel', 'Geisterfahrer', 'Pauschaltourist', 'Sommerhit', 'Leichtmatrosen' und 'Freitags bei Paolo' lieferbar.

Tag 1:
Fieren


Fieren – eine Kette
oder ein Tau nach-, auslassen.

Curt lümmelt sich auf der Rückbank von Lauries Auto, vorn sitzen Laurie und Steve dicht beieinander; der Wagen verfügt dort über eine durchgehende Sitzreihe, und Steve fährt, obwohl das Auto Laurie – Curts Schwester – gehört. Die drei haben sich über das unterhalten, was jetzt kommen wird – nach der Highschool –, inzwischen aber amüsieren sie sich über Wolfman Jacks Radioscherze. Der Song »Why Do Fools Fall In Love« von Frankie Lymon & The Teenagers beginnt. Steve stoppt den Wagen an einer Ampel, Curt schaut aus dem Fenster. Direkt neben ihnen hält ein weißer 1956er Ford Thunderbird Convertible, an dessen Steuer eine hinreißende junge, blonde Frau sitzt. Sie lächelt; Curt lächelt zurück. Dann formt sie mit den Lippen den Satz »I love you«. Die Ampel wird grün, beide Autos fahren an, aber der T-Bird biegt nach rechts ab. Curt reißt das Fenster auf, ruft der Frau hinterher; er ist fassungslos, hingerissen, euphorisiert. Er bittet Steve, anzuhalten, dem weißen Wagen zu folgen, denn er meint, eine Vision gehabt, eine – seine persönliche – Gottheit gesehen zu haben. Aber Steve fährt unbeirrt weiter. Den Rest der Nacht wird Curt damit verbringen, dieser Vision nachzujagen, und mehr als einmal wird er einen kurzen Blick auf den weißen Schlitten erhaschen. Aber die blonde Frau sieht er nicht wieder.

Ich wischte mit dem Rücken des rechten Zeigefingers die Tränen von meinen Wangen. Diese Szene in der elften Minute hatte ich schon viele dutzend Mal gesehen; ich kannte sie auswendig, konnte jede mimische Veränderung in Curts Gesicht – gespielt vom damals noch taufrischen Richard Dreyfuss – antizipieren. Es schmerzte mich dennoch immer wieder, wenn der weiße Thunderbird abbog, und ich hoffte absurderweise darauf, dass Curt irgendwann die weiße Fee träfe, doch der Film endete jedes Mal gleich. Der Moment der Katharsis blieb ein metaphorischer, aber gleichzeitig drückte er all das aus, woran ich glaubte, wenn es um Liebe ging.

Oder, besser: geglaubt hatte.

Ich ging in den Flur und vermied den Abstecher zum Kühlschrank; es wäre zu einfach gewesen, mich jetzt zu besaufen, und auch zu klischeehaft. Männer müssen sich nicht betrinken, wenn in ihrem Leben etwas schiefläuft, aber, zugegeben, meistens tun sie es. Bei mir bewirkte höher dosierter Alkohol lediglich, dass ich noch trübsinniger, noch melancholischer, noch selbstzerstörerischer wurde; das Ungemach wuchs zu einem emotionalen Sauron an, dessen böses, feuriges Auge mich nicht mehr losließ. Kiffen hatte dieselbe Wirkung. Ich beneidete Leute, die der Konsum weicher Drogen in fröhliche Partytiere verwandelte.

Im Flur drückte ich zum x-ten Mal die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters.

Patrick, ich bin in Köln und morgen in Düsseldorf, danach dann im Allgäu. Die Tour macht Spaß, aber ich freue mich auf die Pause bei meiner Familie. Wir hören uns. Hab dich lieb.

Hab dich lieb. Das sagt drei Jahre altes Brüllfleisch zum Papa, das sagt man zur eigenen, inzwischen sechzigjährigen Mutter, die altersbedingt für so etwas empfänglich ist. Aber doch nicht zu dem Mann, mit dem man sechzig Stellungen aus dem Kamasutra ausprobiert, dessen Sperma man geschluckt, dessen feuchte, fleckig-dunkelgraue Socken man in die Waschmaschine gesteckt hat. Hab dich lieb. Diese Wendung hatte ich von Cora noch nie gehört. Aber sie war nur ein Symptom. Eines von vielen.

Ein heftiges Symptom, eigentlich ein Indiz, nein, ein Beweis war die Tatsache, dass sie überhaupt nicht ins Allgäu fahren würde. Sie hatte sich mit diesem Alibi ein bisschen zu sicher gefühlt, weil ich ihre Eltern – nichtswürdige Spießer, die mich für einen Verlierer hielten – hasste, aber Cora hatte leider vergessen, ihre Mutter über die Tour und den vermeintlichen Besuch zu informieren, so dass ich Rosa (Rosa!) plötzlich am Telefon hatte, obwohl die nur anrief, wenn sie todsicher war, meine Freundin direkt an den Apparat zu bekommen. In der Regel mied sie das Festnetz und wählte Coras Handynummer. Das Gespräch, das wir führten, war kurz, aber erhellend.

»Patrick. Ach.« Dieses Ach war ein Filtrat aller Achs, eine Beleidigung und Feststellung, ein Urteil, ein zutiefst ablehnendes Geräusch, eine Zusammenfassung all dessen, was sie von mir dachte und hielt – was nicht viel war. Ich interessierte sie weniger als ein Ameisenpopel, und sie hätte gerne mit mir gemacht, was man mit Ameisenpopeln tun würde, wenn man dazu in der Lage wäre.

»Rosa.« Ich versuchte, Neutralität in meine Stimme zu legen, aber das war eigentlich unmöglich, wenn ich mit Coras Mutter sprach – was glücklicherweise äußerst selten geschah.

»Ich würde gerne mit meiner Tochter sprechen.«

»Die ist nicht da.«

»Oh.« Schweigen.

»Ich sehe sie auch erst, nachdem sie bei euch war.«

»Bei uns?« Kurz überrascht, dann erkennbar begreifend, in eine Falle getappt zu sein, die ich ohne Absicht aufgestellt hatte. Ich wurde hellhörig.

»Ach so«, ergänzte sie rasch, aber Rosa war keine gute Schauspielerin. »Stimmt ja.«

»Holt ihr sie vom Bahnhof ab?«, fragte ich, dem Impuls folgend, soeben eine Lüge aufzudecken.

Rosa schwieg für einen Moment. »Sicher«, sagte sie.

Aber Cora würde nicht mit dem Zug kommen. Vom Auftritt in Memmingen wollte sie ein Taxi nehmen; das Kuhkaff, in dem ihre Eltern lebten, war nur eine Ameisenpopellänge davon entfernt.

»So, so.«

»Ja. Äh. Morgen?«, riet Rosa. Ich hätte sie gerne in diesem Augenblick gesehen, zugleich triumphierend – schließlich musste sie auch begriffen haben, dass hier ein Lügengebäude einstürzte, das mich auf unselige Weise betraf – und stark verunsichert, denn ausgerechnet von mir, dem nichtswürdigen Verlierer (»Lektor? Was tun diese Leute? Bücher lesen?«), beim Lügen ertappt zu werden, passte nicht in ihr Wertgefüge. Ich antwortete nicht.

»Oder doch übermorgen? Ich habe meinen Kalender nicht hier.«

»Ich auch nicht«, sagte ich schnippisch, aber ich war am Boden zerstört. In diesem Augenblick wurde mir nämlich klar, was all die kleinen Zeichen bedeuteten, die ich seit jenem verhängnisvollen Nachmittag geflissentlich ignoriert oder heruntergespielt hatte. Cora betrog mich, sie hatte nicht viel Federlesen veranstaltet, sondern einfach die nächstbeste Option gewählt: ein neuer Kerl. Sie würde nicht zu ihren Eltern fahren, sondern etwas anderes tun, mit jemand anderem. Sehr wahrscheinlich mit einem männlichen Jemand. Ich hatte ein oder zwei Typen im Verdacht, ihren Bassisten und diesen glatten Gesellen von der Booking-Agentur, mit der sie zusammenarbeitete, aber diese Verdächtigungen waren ziemlich beliebig, denn Cora hielt mich aus ihrem Musikerdasein weitgehend heraus. Es spielte auch keine Rolle, wer es war. Entscheidend war, dass es jemanden gab.

Ich ging doch zum Kühlschrank, aber nicht, um die Wodkaflasche aus dem Eisfach zu nehmen, die dort seit unserem Einzug lag. Im Gemüsefach lagerte mein Mousse-Vorrat, das gute von »Merl«, nach dem ich süchtig war. Ich nahm fünf Becher.

Vier Stunden später klingelte mein Wecker. Es war kurz nach sieben, ich hatte noch nicht gepackt, und in zwei Stunden würde ich die anderen drei treffen, um sechzig Kilometer ins brandenburgische Fürstenberg an der Havel zu fahren, auf ein Hausboot zu steigen und zehn Tage auf dem Wasser zu verbringen. Die Idee kam mir in diesem Moment so idiotisch vor wie Landkauf auf dem Jupiter, und sie war auch definitiv idiotisch, aber ich hatte sowieso nichts Besseres vor, der Trip war nicht stornierbar, und vielleicht würde es lustig werden, wenigstens interessant – aber daran glaubte ich nicht wirklich. Ich glaubte eigentlich überhaupt nichts mehr, nur an die vorübergehend heilende Kraft von Mousse-au-chocolat aus dem Hause »Merl«, Telefonjoker im Allgäu und die vernichtende Energie des Drei-Worte-Satzes »Hab dich lieb«. Ach ja und an Richard Dreyfuss alias Curt Henderson in »American Graffiti«.

Henner stand neben seinem Discovery wie jemand, der nur neben seinem Auto steht, um zu zeigen, dass es sein Auto ist. Henners linker Ellbogen lag auf dem Dach, was nicht ganz einfach war, denn der teure Geländebockel war nicht nur eine Schrankwand auf Rädern, sondern eine hohe Schrankwand auf Rädern – und obwohl Henner sehr groß gewachsen war, überschritt diese Position seine Körperreichweite. Deshalb befand sich der Ellbogen über seinem eigenen, redlich ausgedünnten Scheitel. Das sah lächerlich aus, und eigentlich passte diese Geste nicht zu ihm. Aber was wusste ich schon? Wenig. Henner, eigentlich Jan-Hendrik, war Pfarrer, ein unglaublicher, zuweilen allerdings kluger Schwätzer und ein mittelmäßig guter Badmintonspieler, der sein oft ungeschicktes Taktieren auf dem Spielfeld und seine bauartbedingte Unsportlichkeit mit Zitaten aus dem Regelwerk zu kaschieren versuchte. Jan-Hendrik alias Henner glaubte – mehr als alles andere, wie ich meinte – an das geschriebene, gedruckte Wort, und seine Allzweckwaffe war diejenige, gedruckte Worte zu zitieren.

»Patrick«, begrüßte er mich lächelnd und hielt mir die linke Hand entgegen, weil die rechte haltungsbedingt (sie gehörte zum Ellbogen auf dem Dach) zu weit von mir entfernt war. »Fehlt nur noch Simon.«

Ich schüttelte nickend die...

Erscheint lt. Verlag 10.4.2013
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Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Auslfug • Beziehungen • Boot • Bootsfahrt • Buchverfilmung • Chaos • Film • Freundschaft • Hausboot • Havel • Katastrophen • Konflikte • Männer • Müritz • Redewendung • Roman • Sommer • Sommerbuch • Sommerlektüre • Spielfilm • Unterhaltung • Urlaubslektüre • Verfilmung
ISBN-10 3-8412-0569-0 / 3841205690
ISBN-13 978-3-8412-0569-8 / 9783841205698
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