1 Das poetische Leben
Lange bevor sich der Begriff der Kunsttherapie etablierte, setzten sich bildende Künstler wie Francisco de Goya und Edvard Munch – um nur zwei von zahlreichen Repräsentanten zu nennen – mit inneren Bildern und ihrem Bezug zu äußeren Bildern und der Wirklichkeit auseinander. Auch deutsche Philosophen wie Friedrich Schlegel und Friedrich Freiherr von Hardenberg – bekannt als Novalis – beschäftigten sich bereits in der Romantik mit dem Verhältnis zwischen Kunst und Leben und vertraten die Meinung, dass jede Lebenstätigkeit mit poetischer Bedeutsamkeit aufgeladen sei und eine eigentümliche Schönheit und Gestaltungskraft offenbare, die einen ebenso eigenen Stil habe wie jedes explizite Kunstwerk. Kunst galt ihnen nicht als Produkt, sondern als Ereignis, das immer und überall stattfinden könne, wo Menschen Tätigkeiten mit gestalterischer Energie und vitalem Schwung verrichten.
Schlegel plädierte dafür, das Leben mit Poesie zu durchdringen. Der Geist der Poesie solle alles mit allem verbinden, Grenzen und Spezialisierungen überwinden und die Trennung zwischen der Logik des alltäglichen Lebens und des Arbeitens beseitigen (Safranski 2007). Im 116. Fragment der von Schlegel herausgegebenen Zeitschrift Athenäum formulierte er die von ihm geforderte Durchdringung des Lebens mit Poesie in der progressiven Universalpoesie: »Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie|28◄ ►29| bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfasst alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuss, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang.«
1.1 Kunst und Therapie
Eine definitive und explizite Annäherung zwischen Kunst und Therapie fand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt. In den 30er Jahren erhielt das bildnerische Gestalten – unter anderem durch Veröffentlichungen des deutschen Psychiaters und Kunsthistorikers Hans Prinzhorn und des Schweizer Psychiaters und Psychotherapeuten Walter Morgenthaler – im Bereich der Psychiatrie zunehmend Beachtung. Die Ausstellung psychiatrischer Kunst durch Prinzhorn in der berühmten gleichnamigen Sammlung war ein wichtiger Schritt, Kunst und Therapie in den öffentlichen Diskurs zu bringen und die Bedingungen in den Psychiatrien zu hinterfragen.
Auch die 1981 erfolgte Gründung des Hauses der Künstler als Zentrum für Kunst- und Psychotherapie auf dem Gelände des Gugginger Krankenhauses bei Wien durch den österreichischen Psychiater Leo Navratil war ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des künstlerischen Ausdrucks in psychischen Krisen. Navratil glaubte, anhand der kreativen Gestaltung eines Patienten den Krankheitsverlauf von der akuten Dekompensation bis zur Phase der Restitution ablesen zu können. 1965 gründete er gemeinsam mit dem österreichischen Kunstmäzen Alfred Bader und dem deutschen Psychiater Ottokar Graf Wittgenstein die Deutschsprachige Gesellschaft für Kunst und Psychopathologie des Ausdrucks (DGPA). Die Mitglieder der DGPA vertraten die Ansicht, dass der Zugang zum Oeuvre eines Künstlers über Parallelen zwischen Werk und psychischer Verfassung gesucht werden und die stilistische Entwicklung des Werkes in Bezug zur psychischen Struktur gesetzt werden müsse.
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Natürlich kann eine Differenz zwischen bildnerischem Betätigungsdrang und künstlerischer Kompetenz bestehen und nicht jeder künstlerische Ausdruck ist als Kunst zu verstehen, wie auch die Künstlerischen Therapien nicht den Anspruch erheben, Kunst zu produzieren. Dies schließt jedoch nicht aus, dass aus einem kunsttherapeutischen Prozess heraus Kunstwerke entstehen können, die etwas über die Verfasstheit ihres Schöpfers aussagen. Dennoch dürfen die Bestrebungen, Kunstwerke psychisch leidender Menschen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, nicht damit verwechselt werden, sie als Kunst präsentieren zu wollen. Kunstwerke, gleich welchen Ursprungs, müssen für sich bestehen. Auch Selbstzeugnisse renommierter Künstler, die von ihren heilsamen Erfahrungen während des Schaffens berichten, dürfen nicht mit einer primären Therapiebedürftigkeit der Künstler gleichgesetzt werden. Sowohl in der Kunst als auch in den Künstlerischen Therapien gilt: Was Kunst an heilsamen Wirkungen zu entfalten vermag, muss getrennt vom Werk betrachtet werden.
Die Auseinandersetzungen zwischen Kunst und Therapie ebneten aber nicht nur den Weg für die Kunsttherapie, sondern hatten zugleich nachhaltige Wirkung auf die bildenden Künste. Es kam zur Art brut und Outsider Art. Der Begriff der Art brut geht auf den französischen Künstler Jean Dubuffet zurück, der 1947 in Paris die Compagnie de l’Art brut gründete und damit die Grenzen des exklusiven Kunstbetriebs für die Außenseiterkunst öffnete, nicht ohne zu betonen, dass es ihm um die Wirkung der Kunst und nicht um die Etablierung einer Kunst von Geisteskranken gehe. Seine Idee, dass Kinder, Wilde, Geisteskranke und Genies sich in einem originalen, zivilisatorisch unverstellten und unbeeinflussten Gefühlsdrang unmittelbar-kreativ auszudrücken vermögen, wurde aber nicht nur von Dubuffet propagiert, sondern ebenso von Künstlern des Surrealismus wie Max Ernst, Paul Klee, André Breton und Alfred Kubin (Menzen 2001).
1.2 Man malt, was man ist
Parallel zu dem genannten Transport der Künste in die Psychiatrie ist es den Entwicklungen in den Künsten selbst zu verdanken, dass sich die Künstlerischen Therapien zu dem entwickelten, was sie heute sind. |30◄ ►31| Der deutsche Aktionskünstler und Pädagoge Joseph Beuys beispielsweise erklärte sein Leben zum Kunstwerk und sprach von der Kunst als einer existenziellen Notwendigkeit, bei der biographische Lebensstationen zu Ausstellungsobjekten würden. Für ihn waren Kunst und Leben gleichbedeutend; er vertrat die Meinung, dass prinzipiell jeder Mensch in der Lage sei, sich authentisch, expressiv und originell auszudrücken und dadurch eine Verbesserung seiner Lebenssituation zu bewirken. Kunst fungiert in diesem Sinne als Möglichkeit, erstarrte Bedeutungen erfahrbar zu machen, zu verflüssigen und neu zu gestalten.
Auch der amerikanische Maler Jackson Pollock, der mittels des von ihm praktizierten action painting das Augenmerk auf formalästhetische Aspekte lenkte, verstand die Malerei als eine ganz eigene Art, Zeichen zu setzen. In Kunstwerken sah er das Unbewusste ebenso zum Ausdruck kommen wie Vorbewusstes und Bewusstes. Was sich auf der Leinwand ereigne, sei nicht Bild, sondern Handlung: »Malen ist Entdeckung des eigenen Ich. Jeder gute Maler malt, was er ist.« (Pollock im Gespräch mit Rodman, 1956)
Eine ähnliche Idee entwickelte der deutsche Maler Willi Baumeister, der die Malfläche als Schrifttafel verstand, auf der sich Zeichen und Formen bilden, die eine aufklingende innere Bewegung in eine bildnerische Spur verwandeln. Was im Diktat innerer Bewegung aufgezeichnet werde, so Baumeister, trete aus dem Unbekannten hervor und werde durch bildnerische Konkretisierung zum Bekannten im menschlichen Sehraum (Baumeister 1947).
2 Die Wurzeln der Kunsttherapie
Sowohl in England als auch in den Vereinigten Staaten liegen die Wurzeln der Kunsttherapie in der Kunsterziehung, der künstlerischen Praxis und der Entwicklungspsychologie. Kunsttherapie und Kunsterziehung, respektive Kunstpädagogik, wurden in Großbritannien erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts getrennt betrachtet. In England geht der Begriff der art therapy auf den Maler Adrian Hill zurück, der in einem Sanatorium, in dem er selbst Patient war, seine Mitpatienten zu künstlerischen Tätigkeiten anregte. Etwa zur gleichen Zeit entwickelten in den Vereinigten Staaten die amerikanische Pädagogin und |31◄ ►32| Therapeutin Margaret Naumburg und die österreichische Künstlerin und Handwerkslehrerin Edith Kramer kunsttherapeutische Ansätze.
Im deutschsprachigen Raum stehen kunsttherapeutische Ansätze in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der anthroposophischen Medizin. 1921 eröffnete die niederländische Ärztin Ita Wegman, die zusammen mit Rudolph Steiner die anthroposophische Medizin begründete, in Arlesheim in der Schweiz eine anthroposophische Klinik, in der sie ab 1927, in Kooperation mit der deutschen Ärztin Margarethe Hauschka und der englischen Malerin Liane Collot d’Herbois, die Künstlerischen Therapien in die klinische Behandlung integrierte.
2.1 Der Begriff der Kunsttherapie
Der Begriff der Kunsttherapie sorgt seit seinem Bestehen für Verwirrung und Polarisierung. Zu sehr vermische sich in ihm der Begriff der Kunst mit dem der Therapie, erklingen die Stimmen der Kritiker; der Begriff wecke Hoffnung und generiere positive Assoziationen, lautet die Meinung der Befürworter, zudem könne der kränkende Aspekt der Hilfs- oder Therapiebedürftigkeit durch das positiv konnotierte Wort der Kunst gemildert werden. Zwar gibt es auch Bedenken, dass auf diese Weise die magische Wirkung der Kunst in den Dienst der Therapie gestellt, die...