In einer anderen Welt (eBook)
300 Seiten
GOLKONDA VERLAG
978-3-942396-76-9 (ISBN)
Jo Walton wurde in Wales geboren, lebte viele Jahre in England und hat sich 2002 in Kanada niedergelassen. Ihr erster großer Erfolg war der Roman 'Tooth and Claw' (2003), der mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Für ihren Roman 'Lifelode' (2010) erhielt sie den Mythopoeic Award. Sie führt ein regelmäßiges Blog und schreibt für die Internetseite tor.com eine regelmäßige Kolumne.
Jo Walton wurde in Wales geboren, lebte viele Jahre in England und hat sich 2002 in Kanada niedergelassen. Ihr erster großer Erfolg war der Roman "Tooth and Claw" (2003), der mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Für ihren Roman "Lifelode" (2010) erhielt sie den Mythopoeic Award. Sie führt ein regelmäßiges Blog und schreibt für die Internetseite tor.com eine regelmäßige Kolumne.
Mittwoch, 5. September 1979
»Du wirst sehen«, sagten sie, »auf dem Land fühlst du dich ganz bestimmt schrecklich wohl. Wo es doch bei euch so ... so viele Fabriken hat. Die Schule liegt mitten im Grünen – da gibt es Kühe und Gras und gesunde Luft.« Sie wollten mich loswerden. Und was war dafür besser geeignet als ein Internat? Dann konnten sie so tun, als gäbe es mich überhaupt nicht. Sie schauten mich nie direkt an. Sie schauten an mir vorbei oder kniffen die Augen zusammen. Ich gehörte nicht zu der Sorte Verwandtschaft, mit der sie sich, wenn es nach ihnen gegangen wäre, abgegeben hätten. Er sah mich vielleicht manchmal an, ich weiß es nicht. Ich konnte ihm nicht in die Augen blicken. Ich schaute immer mal wieder kurz zu ihm hinüber, aber mehr als sein Bart und seine Haarfarbe ist mir nicht im Gedächtnis geblieben. Sieht er mir ähnlich? Keine Ahnung.
Er hat drei ältere Schwestern. Drei! Bisher hatte ich nur Fotografien von ihnen gekannt. Da waren sie noch viel jünger gewesen, aber mit denselben Gesichtern wie heute; sie waren als Brautjungfern herausgeputzt gewesen, und meine Tante hatte neben ihnen so braun wie ein Ahornblatt ausgesehen. Auch meine Mutter war auf dem Bild gewesen, in ihrem grässlichen pinkfarbenen Hochzeitskleid (pink, weil es Dezember war und wir im Juni darauf geboren wurden – ganz schamlos war sie nicht), aber er nicht. Sie hatte ihn rausgerissen. Ich hatte noch nie ein Bild von ihm gesehen, nicht ein einziges. In dem Roman Jane of Lantern Hill von L. M. Montgomery erkennt ein Mädchen, dessen Eltern geschieden waren, ihren Vater auf einem Bild in der Zeitung, ohne ihn jemals vorher gesehen zu haben. Nachdem wir das gelesen hatten, schauten wir uns einige Bilder an, aber sie sagten uns nichts. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass wir meistens nicht groß an ihn dachten.
Selbst als ich in seinem Haus stand, war ich fast überrascht, dass es ihn gab, ihn und seine drei herrischen Halbschwestern, die von mir verlangten, dass ich Tante zu ihnen sagte. »Nicht Tantchen«, erklärten sie mir, »Tantchen klingt so gewöhnlich.« Also sagte ich Tante zu ihnen. Ich weiß, dass sie Anthea, Dorothy und Frederica heißen, wie ich überhaupt viele Dinge weiß, auch wenn manches davon gelogen ist. Nichts von dem, was meine Mutter mir erzählt hat, glaube ich wirklich, solange ich es nicht überprüft habe. Manche Dinge kann man jedoch nicht in Büchern nachschlagen. Außerdem nützt es mir nichts, dass ich ihre Namen kenne, denn ich kann sie nicht auseinanderhalten, also sage ich einfach nur Tante zu ihnen. Sie sagen äußerst förmlich »Morwenna« zu mir.
»Arlinghurst ist eine der besten Mädchenschulen im ganzen Land«, erklärte eine von ihnen.
»Wir waren alle dort«, pflichtete eine andere bei.
»Und es war wirklich prima«, schloss die dritte. Es scheint eine Angewohnheit von ihnen zu sein, abwechselnd zu sprechen.
Und ich? Ich stand einfach nur vor dem kalten Kamin, schaute unter meinen Ponyfransen hervor und stützte mich auf meinen Stock. Der ebenfalls zu den Dingen gehörte, die sie nicht sehen wollten. Als ich aus dem Wagen ausgestiegen war, hatten sie mich mitleidig gemustert. Das kann ich nicht ausstehen. Ich hätte mich gerne hingesetzt, aber ich wollte nicht darum bitten. Inzwischen kann ich auch viel besser stehen. Ich werde wieder gesund, ganz gleich, was die Ärzte sagen. Manchmal sehne ich mich so sehr danach zu rennen, dass mir alles wehtut, nicht nur das Bein.
Ich wandte mich um und betrachtete den Kamin – irgendwie musste ich mich ja ablenken. Er war aus Marmor, mit zahlreichen Ornamenten geschmückt, und einige herbstliche Birkenzweige waren kunstvoll darin arrangiert. Alles war sehr sauber, aber nicht besonders gemütlich. »Deine Uniformen besorgen wir dir gleich heute in Shrewsbury, und morgen fahren wir dich hin«, sagten sie. Morgen. Sie konnten es wirklich nicht erwarten, mich loszuwerden, mich und meinen hässlichen walisischen Akzent und mein Hinken. Schlimm genug, dass es mich überhaupt gab! Ich wollte auch ganz bestimmt nicht hier sein. Das Problem ist nur, dass ich nirgendwo anders hin kann. Bevor du sechzehn bist, erlauben sie dir nicht, alleine zu wohnen. Das habe ich im Heim herausgefunden. Außerdem ist er wirklich mein Vater, obwohl ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Und in gewisser Hinsicht sind diese Frauen auch meine Tanten. Wenn ich daran denke, fühle ich mich gleich noch viel einsamer. Ich bin so weit weg von zu Hause, und ich vermisse meine richtige Familie – meine Familie, die mich im Stich gelassen hat.
Und dann sind wir einkaufen gegangen, den lieben langen Tag. Die drei Tanten und ich, aber ohne meinen Vater. Ich wusste nicht, ob ich deswegen froh oder traurig sein sollte. Die Arlinghurst-Uniform musste man in einem speziellen Laden kaufen, wie damals meine Uniform fürs Gymnasium. Was waren wir stolz gewesen, als wir die Aufnahmeprüfung bestanden. »Die Elite der Valleys« haben sie uns genannt. Das ist jetzt alles vorbei, und stattdessen werde ich gezwungen, auf dieses piekfeine Internat zu gehen, wo sie die merkwürdigsten Dinge von einem verlangen. Eine der Tanten hatte eine Liste dabei, und wir kauften alles, was darauf stand. Am Geld sparten sie jedenfalls nicht. So viel hatte noch nie jemand für mich ausgegeben. Schade, dass alles so scheußlich ist. Auch jede Menge Sportausrüstung war dabei. Ich wies sie nicht darauf hin, dass ich davon so bald nichts anziehen würde. Wenn überhaupt. Diesen Gedanken verdrängte ich lieber. Wir waren meine ganze Kindheit hindurch gerannt. Wir hatten Wettläufe gewonnen. In der Schule waren wir meistens gegeneinander angetreten und hatten das übrige Feld weit hinter uns gelassen. Opa hatte von den Olympischen Spielen gesprochen, und auch wenn er nur geträumt hatte, hatte er sie doch immerhin erwähnt. Bei den Olympischen Spielen seien noch nie Zwillinge angetreten, hatte er gesagt.
Als die Schuhe an der Reihe waren, gab es ein Problem. Ich ließ sie Hockeyschuhe und Laufschuhe und Turnschuhe kaufen, denn die konnte ich anziehen oder auch nicht. Aber als die Uniformschuhe an der Reihe waren, für den Alltag, musste ich sie bremsen. »Ich habe spezielle Schuhe«, erklärte ich, ohne sie anzuschauen. »Mit Spezialsohlen. Sie müssen extra angefertigt werden, von einem Orthopädisten. Ich kann sie nicht einfach kaufen.«
Die Verkäuferin bestätigte, dass wir solche Schuhe nicht einfach passend zur Uniform kaufen konnten. Sie hielt einen der Schulschuhe in die Höhe. Er war hässlich und unterschied sich nicht allzu sehr von den klumpigen Schuhen, die ich trage. »Könntest du in diesen hier laufen?«, fragte mich eine der Tanten.
Ich nahm den Schuh in die Hand und betrachtete ihn eingehend. »Nein«, erwiderte ich dann und drehte ihn um. »Er hat einen Absatz.« Dagegen ließ sich nichts einwenden, auch wenn die Schule wahrscheinlich nicht glaubt, dass ein Mädchen, das etwas auf sich hält, einen Schuh mit einem niedrigeren Absatz tragen würde.
Es war nicht ihre Absicht, mich vollends zu demütigen, während sie sich wie die Glucken über die Schuhe und über mich und meine maßgefertigten Schuhsohlen beugten. Das musste ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, während ich wie ein Klotz dastand, ein gequältes Lächeln auf den Lippen. Sie hätten mich gerne gefragt, was mit meinem Bein nicht in Ordnung war, aber ich schaute sie stur an, und sie trauten sich nicht. Das munterte mich wieder ein wenig auf. Schließlich beließen sie es dabei und erklärten, dass die Schule das wohl oder übel würde verstehen müssen. »Meine Schuhe sind ja auch nicht gerade rot und glamourös«, sagte ich.
Das war ein Fehler, denn daraufhin starrten sie alle meine Schuhe an. Es sind Krüppelschuhe. Bei Krüppelschuhen für Damen gibt es keine große Auswahl – man kauft sie entweder in Braun oder in Schwarz. Meine sind schwarz. Mein Gehstock ist aus Holz. Früher hat er mal Opa gehört, der immer noch am Leben ist, im Krankenhaus liegt und sich bemüht, wieder gesund zu werden. Wenn er wieder gesund wird, darf ich vielleicht nach Hause zurück. Alles in allem ist das eher unwahrscheinlich, aber es ist meine einzige Hoffnung. Am Reißverschluss meiner Strickjacke baumelt mein hölzerner Schlüsselring. Er ist aus einer Baumscheibe geschnitzt, mit Rinde und allem. Er stammt aus Pembrokeshire. Ich hatte ihn schon ... na ja, vorher. Ich berührte ihn, in etwa so, wie wenn man auf Holz klopft, und sah, dass sie die Geste bemerkt hatten. Ich sah, was sie sahen – einen sonderbaren, launischen verkrüppelten Teenager mit einem schmutzigen Stück Holz. Was sie stattdessen hätten sehen sollen, sind zwei strahlend selbstbewusste Kinder. Ich weiß, was passiert ist, aber sie nicht, und sie würden es auch nie verstehen.
»Ihr seid sehr englisch«, sagte ich.
Sie lächelten. Wo ich herkomme, ist »Saes« eine Beleidigung, eine Provokation – das Schlimmste, was man zu jemandem sagen kann. Es bedeutet »englisch«. Aber jetzt bin ich in England.
Wir aßen an einem Tisch zu Abend, der für sechzehn Gäste klein gewesen wäre. Doch das fünfte Gedeck, das für mich aufgelegt worden war, wirkte irgendwie fehl am Platze. Alles passte zusammen, die Tischsets, die Servietten, die Teller. Ganz anders als bei uns daheim. Das Essen war erwartungsgemäß schauderhaft – zähes Fleisch, wässrige Kartoffeln und irgendso ein grünes, längliches Gemüse, das nach Gras schmeckt. Die Leute haben mir mein Leben lang erzählt, wie furchtbar englisches Essen ist, und es ist beruhigend, dass sie recht haben. Bei Tisch wurde über Internate gesprochen, denn sie sind alle auf eins gegangen. Mir war nichts davon neu....
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2013 |
---|---|
Übersetzer | Hannes Riffel |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction | |
Schlagworte | Bibliophil • British Fantasy Award • Hugo Award • KLP • Kurd Laßwitz • Kurd-Laßwitz-Preis • Magischer Realismus • Nebula • Nebula Award • Tagebuchroman |
ISBN-10 | 3-942396-76-9 / 3942396769 |
ISBN-13 | 978-3-942396-76-9 / 9783942396769 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 3,9 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich