Einblick in die Hölle (eBook)

Roman
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2013 | 1. Auflage
288 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-11142-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Einblick in die Hölle -  António Lobo Antunes
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In diesem autobiographischen Roman erzählt António Lobo Antunes, wie es ihm nach der Rückkehr aus dem Krieg in Angola erging. Dort hatte er als Militärarzt über zwei Jahre lang schlimmstes Leid und Elend gesehen, junge Männer, die inmitten von Schlamm, Gestank und Dreck dem Tod und der Hoffnungslosigkeit ausgeliefert waren - und doch hat ihn nichts darauf vorbereitet, was er nun als Psychiater in der Lissabonner Nervenheilanstalt Miguel Bombarda erlebt. Erst hier bietet sich ihm ein »Einblick in die Hölle«.

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.

1


Das Meer des Algarve ist aus Pappe gemacht wie die Kulissen im Theater, und die Engländer merken es nicht: Sie breiten gewissenhaft die Handtücher auf dem Sägespänesand aus, schützen sich mit dunklen Brillen gegen die Papiersonne, spazieren begeistert über die Bühne von Albufeira, auf der ihnen als Karnevalshippies verkleidete Beamte, auf dem Boden hockend, heimlich vom Tourismusbüro hergestellte marokkanische Ketten aufdrängen, und gehen schließlich am Spätnachmittag in künstlichen Straßencafés vor Anker, wo ihnen in nicht existenten Gläsern erfundene Getränke serviert werden, die im Mund den faden Geschmack der Whiskys zurücklassen, die Komparsen während der Fernsehdramen erhalten. Hinter dem auf der horizontalen Landschaft wie Butter auf einer verbrannten Scheibe Brot verflüchtigten Alentejo gaben ihm die Schornsteine, die so aussehen, als hätten geschickte Altersheimbewohner sie aus Klebstoff und Streichhölzern gebaut, und die Wellen, die sich in zahmer Häkelspitzengischt lautlos am Strand auflösen, das Gefühl, eine dieser Puppen auf Hochzeitstorten zu sein, ein verstörter Bewohner einer Welt aus Eiergebäck und auf Zahnstocher gespießten Kroketten, die Häuser und Straßen nachahmten. Er war einmal mit Luísa in Armação de Pera gewesen und hatte das Hotel fast nicht verlassen können, so verblüfft war er über diese ungewöhnliche Kulissenmystifikation gewesen, die die Leute ernst zu nehmen schienen, während sie sich unter dem orangefarbenen Scheinwerfer der Sonne, die von einem unsichtbaren Elektriker durch ein Wolkenloch bewegt wurde, mit imaginären Cremes einschmierten: Von einer Absurdität, die ihn erschreckte, auf dem Balkon des Zimmers festgesetzt, begnügte er sich damit, in einen Bademantel gewickelt, der ihn wie einen besiegten Boxer aussehen ließ, bei dem Schnitte mit dem Rasierapparat die Spuren der Faustschläge ersetzten, die Gruppe der Familie dort unten zu beobachten, die um einen Berg aus Sandalen und Pantoffeln wie disziplinierte Pfadfinder um ihr rituelles Feuer versammelt war. Nachts stieß ein rostiger Ventilator den süßen, lauwarmen Atem eines diabetischen Inspizienten in seine Richtung, eine Konstellation von Lichtern hing an Drähten von Blechschiffen, die nur noch die gewichtslose Geometrie von Umrissen hatten. Auf dem Bett liegend, an Luίsa geklammert, sah er, wie sich die Gardinen in der phosphoreszierenden Helligkeit einer Zellophanaurora bewegten, und fragte sich verwirrt, ob die Liebe, die er gerade machte, nur eine frenetische Übung war, die er einem nicht existenten Publikum darbot, für das er seine gestöhnten Texteinsätze mit der pathetischen Überzeugung eines Schauspielers artikulierte. Und jetzt, so viele Jahre später, als ich allein von Balaia nach Lissabon aufbrach, hoffte ich fast ungewollt, dir im Garten inmitten von blonden Ausländerinnen zu begegnen, die tragisch und reglos wie Phädren dastanden, in deren leerem Blick die resignierte Einsamkeit von Statuen und Hunden wohnt. Ich würde mich auf eine Bank zwischen die zärtlichkeitsfernen Krampfadern einer alten Deutschen und die ineinander verschränkten Schenkel von zwei Heranwachsenden setzen, die auf einem Haschischfloß dahintrieben und mit der Fröhlichkeit einer unbekannten Dimension niemand Bestimmten anlächelten, bis ich dich plötzlich auf der anderen Seite des Platzes sähe, einen Weidenkorb auf der Schulter, das Haar in der Mitte von einer Squawfrisur geteilt, kommst du wie das Mädchen von der Repimpa-Matratzen-Reklame auf mich zu, das die Greta-Garbo-Brille recycelt hat.

Die eintönige Unpersönlichkeit der Hotels verschaffte ihm ein erhebendes Freiheitsgefühl: Keiner seiner Gegenstände markierte die Möbel wie Hundeurin die Rinde der Bäume. Die langen Flure voller numerierter Türen ließen ihn von teuren Bordellen phantasieren, wie auch die kleinen Krämerläden seiner Kindheit sich in riesigen Raumstationen gleichende Supermärkte verwandelt hatten, und während er über den Teppichläufer von Zimmer zu Zimmer trabte, gefiel es ihm, sich vorzustellen, wie Männer bäuchlings eingetaucht zwischen mit Hölzern des Orients parfümierten Knien keuchten, bevor sie sich in den einander ins Gehege kommenden Wasserstrahlen der Duschkabine mit Ach-Brito-Seife wuschen. Die Angestellten am Empfang meßdienerten zwischen Büchern und Schlüsseln würdig wie Priester. Typen mit Pfeife verdösten, die Plaids der ausländischen Zeitungen auf den mageren Schößen vergessend, die Filets vom Mittagessen. Und er fühlte sich, wenn er durch die Drehtür eintrat, wie eine Roulettekugel, ebenso in der Lage, eine Norwegerin zu gewinnen, wie als Verlierer im Strandcafé zu sitzen und vor der Kohlensäure eines Ginger-ales Verbitterung wiederzukäuen.

Am Ende des Tages leckte ich deine Haut wie die Kühe die Höhlungen der Felsen, dieses weißliche Spinnennetz, das die Sonne in konzentrischen Zeichnungen über den Bauch legt wie Teer im Ebbesand und das sich bis zu den Haaren der Scham mit ihrem unerwarteten Geschmack nach Meeresfrüchten hinzieht. Das Pappmeer veränderte beim Herannahen der Nacht ganz allmählich seine Farbe, wurde von einem lila Filter illuminiert, der dem geschmacklosen Mobiliar die Melancholie von Terzetten am Meeresufer verlieh. Die letzten Leute verließen, unter Körben, Sonnenschirmen und Hockern schwankend, den Strand in einem Exodus von Kriegsflüchtlingen, den Kopf gesenkt, verfolgt von den lila, wie zufriedene Kekse strahlenden Wolken der Abenddämmerung. Die Laternen enthüllten Plastikbüsche, in denen Aufziehgrillen monoton das Weißblech ihrer Flügel zum Zirpen brachten. Und ich hörte langsam auf, dich in der Dunkelheit zu sehen, die in unwiderstehlichen Knoblauchdünsten stoßweise zum Fenster hereinkam und dich auflöste, mich zwang, dich, wie jemand, der nach dem Lichtschalter sucht, zu ertasten, voller Hoffnung, dein Lächeln würde einen hellen Spalt auf der Finsternis des Kopfkissens auftun und deine zittrigen Oktopusgesten sich zärtlich scheu an meine heranschlängeln.

Ich verließ die Quinta da Balaia auf dem Weg nach Lissabon, Balaia, dieses Touristendorf aus Mandeln und Eiweiß, in dem Plastikmenschen mit der Plastiklangeweile der Reichen Plastikferien unter Bäumen verbrachten, die Seidenpapiergirlanden glichen und von der grünen Pupille des Schwimmbades im Methylenblau des Wassers widergespiegelt wurden. Er war schon ein paarmal in diesen Marzipanhäusern aufgewacht, bei denen die Eye-Liner-Sonne die Lider der Rolläden betonte und den zerwühlten Bettlaken den grauen Farbton von Weihnachtskrippenbergen verlieh, und dann barfuß auf den Terrakottafliesen wie im Inneren eines Lichterkuchens in die Küche gegangen auf der Suche nach Weintrauben, die schwer waren wie die auf den Bildern spanischer Maler und deren weißes Fleisch im Mund den dichten Geschmack nach Blut hinterließ. Am Himmel, der wie ein Fluß aus geöffneten Händen aussah, schaukelten sanft runde Wolken von Nylonfäden herab, an den durchsichtigen Haken der Luft aufgehängt wie Zimmerschlüssel in der Eingangshalle eines Hotels. Auf dem gelackten Rasen las ein Onkel in kurzen Hosen die Zeitung, urplötzlich ohne die Würde des Anzugs, den Pomp der Krawatte, den kompetenten Winterhusten, die mageren Beine wie Besteck auf einem Teller übereinandergelegt, starrte auf die kalligraphischen Vögel, die in das zwei Linien zählende Heft der Zweige gezeichnet waren. Er war schon ein paarmal in der Stille eines reglosen Hauses aufgewacht, zwischen den körperlosen Schatten der Nacht liegend wie ein toter Schmetterling, und hatte, auf dem Bett sitzend, die undeutlichen Umrisse der Schränke angeschaut, die Wäsche, die wahllos über den Stühlen hing wie müdes Spinnengewebe, das Rechteck des Spiegels, der Blumen trank wie die Ufer der Hölle die ängstlichen Profile der Verstorbenen. Er war hinausgegangen, um in der Stille des Sommers wie in einem geheimen Bauch die Insekten rings um die Laternen zu beobachten, im warmen, heimlichen Frauenleib des Sommers, hatte den süßen, fauligen Duft des Ostwinds auf der Haut gespürt, das ungeordnete Rauschen der Akazien gehört und gedacht, Ich bin in einem Sonnenblumenfeld in der Ebene von Cassanje zwischen den Hügeln von Dala Samba und Chiquita, Ich stehe auf der durchscheinenden Ebene von Cassanje, zum fernen Meer von Luanda gewandt, dem dicken Meer von Luanda, das die Farbe vom Öl der Fischkutter und dem freien Lachen der Schwarzen hatte, hatte gedacht, Ich bin auf dem Landgut meines Großvaters, nah bei den Bänken aus bemalten Fliesen und den ruhenden Hühnerställen, wenn ich die Augen schließe, werden weiße Federn, lose, leicht wie Schnee, in meinen Schädel herniedergehen, und er hatte sich ungläubig unter das Vordach unter die Glassterne des Algarve gehockt, die, einer geheimnisvollen Geometrie folgend, an die Decke des Bühnenbilds geklebt worden waren. Und wie immer, wenn er nicht schlafen konnte, hatten die Verrückten aus seiner Kindheit, die zärtlichen, demütigen, aufgebrachten, mit den Armen wedelnden Verrückten seiner Kindheit, begonnen, einer nach dem anderen in einer elenden und zugleich prächtigen Prozession von Clowns aus der Dunkelheit herunterzusteigen, schräg angestrahlt durch den diagonalen Scheinwerfer der Erinnerung, zur alten Musik eines Dachbodengrammophons, das einen rheumatischen Walzer über die vom stumpfen Schmutz des Staubes bedeckten Holzpferde hinweggreinte.

Da war Monsieur Anatole, der französische Kupferstecher, von dem ihm der Vater erzählt hatte, Monsieur Anatole, dem er, ohne zu wissen, wieso, den weißen Haarschopf und die bleifarbene Iris von Marc Chagall verlieh, der Uhren mit Flügeln und blinde Geiger und sich umarmende Liebende aquarellierte, Monsieur Anatole, der an dem Roman Livre Plus Que Social schrieb und, wenn er gefragt wurde, ob er Kinder habe, mit angewiderter Verachtung...

Erscheint lt. Verlag 29.3.2013
Übersetzer Maralde Meyer-Minnemann
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Conhecimento do inferno
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20.Jahrhundert • Afrika • Angola • Autobiografie • eBooks • Elend • Erfahrung • Erinnerung • Erlebnis • Hoffnungslosigkeit • Hölle • Kolonie • Krieg • Leid • LoboAntunes • Nervenheilanstalt • Portugal • Psychiatrie • Roman • Romane • Rückkehr • Tod
ISBN-10 3-641-11142-0 / 3641111420
ISBN-13 978-3-641-11142-7 / 9783641111427
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