Das Haus der Stufen (eBook)

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
448 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60120-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Haus der Stufen -  BARBARA VINE
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Als Cosettes Ehemann stirbt, wagt sie im vorgerückten Alter einen Neuanfang, verlässt ihren Landsitz und erwirbt das ?Haus der Stufen?. In diesem offenen Haus in einem Londoner Vorort gehen Alt und Jung ein und aus. Ja, sie leben in einer gemischten WG zusammen, in der entspannten Atmosphäre der 60er Jahre. Bis Bell Sager, eine ebenso schöne wie bodenlos abgründige Frau, die Bühne betritt.

Barbara Vine (alias Ruth Rendell), geboren 1930, lebte in London. Ihre Bücher erhielten zahlreiche Auszeichnungen. 1996 erhielt sie von der Queen den Ehrentitel Commander of the British Empire und 1997 schließlich den Grand Master Award der Mystery Writers of America für das Gesamtwerk. Sie wurde auf Vorschlag von Tony Blair geadelt und ins House of Lords berufen. Barbara Vine starb 2015 in London.

Barbara Vine (alias Ruth Rendell), geboren 1930, lebte in London. Ihre Bücher erhielten zahlreiche Auszeichnungen. 1996 erhielt sie von der Queen den Ehrentitel Commander of the British Empire und 1997 schließlich den Grand Master Award der Mystery Writers of America für das Gesamtwerk. Sie wurde auf Vorschlag von Tony Blair geadelt und ins House of Lords berufen. Barbara Vine starb 2015 in London.

[5] 1

Der Taxifahrer dachte, er hätte mich beleidigt, weil ich eine Fünf-Pfund-Note durch den Spalt in der Trennscheibe schob und sagte, er solle anhalten und mich absetzen. Die Ampel sprang gerade auf Grün um, und während er links heranfuhr, sagte er mit streitbarer Stimme:

»Man darf ja wohl noch seine eigene Meinung haben.«

Er hatte sich über die Zwangssterilisierung Behinderter ausgelassen – irgendein Zeitungsartikel hatte ihn wohl darauf gebracht –, für die er sich rückhaltlos und mit großer Leidenschaft einsetzte. Ich, jawohl, gerade ich hätte sehr wohl beleidigt sein können – wenn ich überhaupt erfaßt hätte, was er sagte, wenn nicht das meiste an mir vorbeigerauscht wäre.

»Ich habe gar nicht hingehört«, sagte ich, begriff, sobald es heraus war, daß ich damit alles nur noch schlimmer machte, und versuchte es mit der Wahrheit, obwohl ich wußte, daß es nichts nützen würde. »Ich habe eine Bekannte gesehen, eine Bekannte von früher. Auf der Kreuzung. Ich muß unbedingt mit ihr sprechen.« Draußen auf dem Gehsteig rief ich ihm zu: »Behalten Sie den Rest!«

»Rest? Ist ja wohl ’n Witz«, sagte er, obgleich es ein durchaus anständiges Trinkgeld war. Er gehörte zu jenen Männern, die der Ansicht sind, alle Frauen seien verrückt, oder die sich das zumindest einreden, weil sie sich nur so ansonsten unerklärliche Verhaltensweisen erklären, nur [6] so drohende Dominanz abwehren können. »Sie kann man ja nicht frei rumlaufen lassen«, brüllte er, womit er womöglich wieder bei seinem ursprünglichen Thema war.

Er hatte mich nicht aus Bosheit auf der Südseite des Greens abgesetzt. Es schien mir nur so in diesem Augenblick, als ich, abgeschnitten durch den brandenden Verkehr, dort stand und wartete und gleichzeitig das Gefühl hatte, als schlüge mir jemand ständig eine Tür vor der Nase zu. Während der Grünphase entfernte sich Bell immer weiter von mir. Auf der blechernen Flut vollzog sich der große Exodus aus der Wood Lane und der Uxbridge Road, vom West End über die Holland Park Avenue und die West Cross Route, und das smaragdene Leuchten zog die Flut an, trieb sie zu immer schnellerem Vorwärtsdrängen, immer lauterem Dröhnen. Sie versperrte mir die Sicht auf das Green, das Bell jetzt überqueren mußte – aber in welche Richtung?

Durch die Windschutzscheibe des Taxis hatte ich sie auf der Kreuzung gesehen. Mit unverändert gleitendem Gang, kerzengeradem Rücken, hocherhobenen Hauptes, als balanciere sie eine Amphore auf dem Kopf, schritt Bell von der Hammersmith-Seite nach Norden. Ich hatte hörbar nach Luft geschnappt, vielleicht sogar einen Schrei ausgestoßen, was wohl mein Taxifahrer als Widerspruch zu seinen Äußerungen gedeutet hatte. Sie verschwand so rasch in Richtung Holland Park, daß es auch eine Halluzination gewesen sein konnte. Aber ich wußte es besser. So eigenartig es sein mochte, sie ausgerechnet hier zu entdecken – ich wußte, daß es Bell gewesen war, [7] die ich gesehen hatte, und daß ich ihr folgen mußte, ungeachtet all der Jahre, die vergangen, ungeachtet all der schlimmen Dinge, die geschehen waren.

Warten zu müssen, wenn man vor Eile fiebert, gehört unter den kleineren Heimsuchungen unseres Lebens zu den schlimmsten – nur empfand ich sie in diesem Augenblick als gar nicht so klein. Ich trat von einem Fuß auf den anderen, ich wippte auf den Fußsohlen, ich flehte die Ampel an, endlich umzuspringen. Und dann sah ich sie wieder. Die rote Mauer der Busse rückte weiter und gab mir den Blick frei. Sie überquerte das Green, eine rasch entschwindende Gestalt, groß und aufrecht, unbeirrt geradeausblickend. Sie trug Schwarz, nur Schwarz, irgendwelche bauschig-flattrigen Gewänder, wie sie nur sehr große, schlanke Frauen tragen können, die zerbrechlich wirkende Taille hielt ein breiter schwarzer Gürtel zusammen, als solle er verhindern, daß sie in der Mitte durchbrach. Schon bei meinem allerersten Blick hatte ich eine erschreckende Veränderung an ihr bemerkt. Das früher ganz hellblonde Haar hatte die Farbe gewechselt. Inzwischen konnte ich jenseits der breiten, von Wegen durchzogenen Grünfläche die kleiner werdende Gestalt nicht mehr deutlich erkennen, aber ich begriff bestürzt, mit einer Art von hohlem Schmerz, daß ihr Haar grau geworden war.

Die Ampel sprang um, und wir ergossen uns vor den ungeduldigen, kaum im Zaum zu haltenden Wagen über die Fahrbahn, das heißt, ich stürmte los, stürmte über das Green und Bell nach, die ich nicht mehr sah, die von der Bildfläche verschwunden war. Ich wußte natürlich, wohin sie verschwunden war, sie war zur U-Bahn [8] hinuntergefahren. Ein Fünfzig-Pence-Fahrschein aus dem Automaten, dann stand ich auf der Rolltreppe, konfrontiert mit Alternativen, gezwungen, eine Entscheidung zu treffen. Die alte, immer neue Wahl am Scheideweg… Die Frage in diesem Fall war: nach Westen oder nach Osten? Bell war früher, ehe sie aus unser aller Leben in die Jahre des Vergessens abgetaucht war, ins Niemandsland, hinter Klostermauern kalt und streng, Londonerin gewesen. Trotz etlicher Aufenthalte im Exil hatte sie sich immer damit gebrüstet, daß sie sich westlich von Ladbroke Grove oder östlich von Aldgate nie zurechtfinden würde. Heute abend war sie westlich von Ladbroke Grove gewesen (der Grove, wie wir damals alle sagten), aber sicher nur zu Besuch, dachte ich. Irgendwie wußte ich, daß sie auf dem Heimweg war.

Ich entschied mich deshalb für den Bahnsteig in Richtung Osten. In diesem Moment kam der Zug, und vor dem Einsteigen sah ich sie wieder. Sie stand weit weg von mir und ging auf die sich öffnenden Türen zu, und ihr Haar war aschgrau. Aschgrau und locker aufgesteckt, wie einst Cosette es getragen hatte, genau so, hoch und rund wie ein Laib Landbrot, mit einem Knoten in der Mitte, der aussah wie ein Klumpen Teig, genau die gleiche Frisur hatte Cosette gehabt, als sie ins Haus der Stufen gezogen war.

Der Anblick hatte etwas zutiefst Bestürzendes, Verstörendes, so daß ich das dringende Bedürfnis verspürte, mich hinzusetzen, um mich davon zu erholen, die Augen zu schließen, vielleicht tief durchzuatmen. Natürlich ging das nicht an. Ich mußte in der Nähe der Tür stehenbleiben, damit ich Bell sehen konnte, wenn sie ausstieg und auf dem Weg zum Ausgang an meinem Wagen vorbeikam. Oder [9] besser noch, ich mußte an jeder Station kurz aussteigen für den Fall, daß sie einen anderen Ausgang benutzte, weil sie dann ja nicht an mir vorbeikommen würde. Trotz meiner Angst, sie zu verlieren, konnte ich inzwischen wieder einigermaßen klar denken. Erst jetzt kam ich dazu, mir zu überlegen, ob Bell mich überhaupt würde sehen wollen, und ich fragte mich, was wir einander sagen, wie wir anfangen würden. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Bell mir einen Vorwurf machen würde, wie es etwa Cosette getan hatte. Aber würde sie vielleicht von mir Vorwürfe erwarten?

In diese Richtung gingen meine Gedanken, als der Zug in Holland Park hielt. Die Türen öffneten sich, und ich beugte mich vor und sah am Zug entlang, aber Bell tauchte nicht auf. Inzwischen war es halb acht geworden, es war zwar noch belebt, aber das große Gedränge war vorbei. Was ich hier trieb, wäre während des Berufsverkehrs unmöglich gewesen. Die nächste Station war Notting Hill Gate, und ich hätte fast wetten mögen, daß Bell dort nicht aussteigen würde, denn das war die Station, die wir damals alle benutzt hatten – bis auf Cosette, die immer mit dem eigenen Wagen oder mit dem Taxi gefahren war. Bell wäre, so sehr sie an diesem Teil Westlondons hängen mochte, nicht so unsensibel gewesen, aus freien Stücken in diese Straßen, zu dieser U-Bahnstation zurückzukehren, nachdem sie aus dem Gefängnis gekommen war.

So, jetzt hatte ich es ausgesprochen, lautlos und nur für mich, aber das Wort war gefallen: Gefängnis. Nichts da von Klostermauern kalt und streng, von Jahren des Vergessens, von Niemandsland. Ein Gefühl der Schwäche, fast des Schwindels überkam mich. Und schon folgte, fast ebenso [10] verstörend, die nächste Überlegung. Ich habe nicht mit ihrer Freilassung gerechnet, noch mindestens ein Jahr, habe ich gedacht, ich bin nicht vorbereitet. Hatte ich mir überhaupt je vorstellen können, daß man sie freiließ? Aber ich mußte mich vorbereiten, ich mußte den Zug verlassen für den Fall, daß ich mich geirrt hatte, für den Fall, daß Bell hier zwar nicht wohnte, aber jemanden besuchen wollte, so daß sie genötigt war, auf diesem Bahnhof auszusteigen. Ich stellte mich auf den Bahnsteig und hielt nach ihr Ausschau, aber auch hier kam sie nicht zum Vorschein.

Sie stieg in Queensway aus, und ich folgte ihr. Jetzt würde ich sie wohl in der Gruppe zu fassen bekommen, die auf den Lift wartete. Doch der Lift nahm nur einen Teil der wartenden Fahrgäste auf. Ich sah Bell einsteigen, ihr schöner aschfarbener Kopf überragte alle bis auf zwei. Ich mußte den zweiten Lift nehmen. Ehe ich einstieg, ehe die Türen des ersten Lifts sich schlossen, wandte Bell sich um und blickte genau in meine Richtung. Ob sie mich sah, weiß ich nicht, ich habe mir lange darüber den Kopf zerbrochen, könnte es aber nach wie vor nicht sagen. Allerdings glaube ich eher, daß es nicht der Fall war. Die Türen schlossen sich, der Lift trug sie davon.

Die Sonne ging unter, als ich auf die Bayswater Road hinaustrat, über den blaßroten Himmel wälzten sich rostfarbene, scharlachrote und fast schwarze Wolken. Wieviel schöner ist doch ein Himmel über der Stadt als auf dem Lande, und am allerschönsten ist er über London, auch wenn ich weiß, daß die Amerikaner diesen Anspruch für New York anmelden, und ich bin gern bereit, ihnen den zweiten...

Erscheint lt. Verlag 26.3.2013
Übersetzer Renate Orth-Guttmann
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 60er Jahre • Erbkrankheit • London • Psychothriller • WG mit alt + jung
ISBN-10 3-257-60120-4 / 3257601204
ISBN-13 978-3-257-60120-6 / 9783257601206
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