Der Klient (eBook)
560 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-11021-5 (ISBN)
Eigentlich wollte der elfjährige Mark auf der Waldlichtung nur eine verbotene Zigarette rauchen. Doch dann beobachtet er den Selbstmordversuch eines Unbekannten. Vergeblich versucht Mark dazwischenzugehen. Aber bevor der Mann, ein Mafia-Anwalt namens Jerome Clifford, stirbt, verrät er ihm ein gefährliches Geheimnis. Nun wird Mark von der Mafia ebenso wie vom FBI gejagt, da Cliffords Information für beide Organisationen außerordentlich bedeutsam ist. Mark verbündet sich mit der engagierten Anwältin Reggie Love, die ihre jungen Klienten verzweifelt aus der Schusslinie zwischen Mafia, Polizei, Justiz und Politik zu ziehen versucht. Reggie weiß genau: Sie haben nur eine einzige Chance ...
John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.
1
Mark war elf und hatte schon seit zwei Jahren hin und wieder geraucht. Er hatte nie versucht, das Rauchen wieder aufzugeben; aber er hatte darauf geachtet, es nicht zur Gewohnheit werden zu lassen. Am liebsten rauchte er Kools, die Marke seines Ex-Vaters, aber seine Mutter rauchte Virginia Slims, zwei Schachteln am Tag, und in einer durchschnittlichen Woche konnte er zehn oder zwölf davon abzweigen. Sie war eine vielbeschäftigte Frau mit einer Menge Problemen und vielleicht ein wenig naiv, wenn es um ihre Söhne ging; ihr wäre nicht einmal im Traum eingefallen, daß ihr Ältester mit elf Jahren schon rauchen könnte.
Gelegentlich verkaufte Kevin, der junge Gangster von der nächsten Straßenecke, Mark für einen Dollar eine gestohlene Schachtel Marlboros. Aber in der Regel war er auf die dünnen Zigaretten seiner Mutter angewiesen.
Vier davon steckten in seiner Tasche, als er an diesem Nachmittag mit seinem achtjährigen Bruder Ricky den Pfad entlangging, der hinter ihrer Wohnwagensiedlung in den Wald führte. Ricky war nervös, weil es das erste Mal sein würde. Er hatte Mark dabei ertappt, wie er gestern die Zigaretten in einem Schuhkarton unter seinem Bett versteckte, und gedroht, es zu verraten, wenn sein großer Bruder ihm nicht beibrachte, wie man rauchte. Sie schlichen den Waldpfad entlang, unterwegs zu einem von Marks Geheimverstecken, an denen er viele einsame Stunden mit dem Versuch verbracht hatte, zu inhalieren und Rauchringe zu blasen.
Die meisten anderen Jungen in der Nachbarschaft standen auf Bier und Pot, zwei Laster, vor denen Mark sich zu hüten gedachte. Ihr Ex-Vater war Alkoholiker; er hatte beide Jungen und ihre Mutter geschlagen, und das war immer nach seinen widerlichen Sauftouren geschehen. Mark hatte die Auswirkungen des Alkohols gesehen und gespürt. Und Drogen machten ihm angst.
»Hast du dich verlaufen?« fragte Ricky, ganz der kleine Bruder, als sie den Pfad verließen und durch brusthohes Unkraut wateten.
»Halt den Mund«, sagte Mark, ohne langsamer zu werden. Ihr Vater war nur zu Hause gewesen, um zu trinken, zu schlafen und sie zu mißhandeln. Jetzt war er fort, Gott sei Dank. Seit fünf Jahren war Mark für Ricky verantwortlich. Er kam sich vor wie ein elfjähriger Vater. Er hatte ihm beigebracht, wie man einen Football wirft und Rad fährt. Er hatte ihm erklärt, was er über Sex wußte. Er hatte ihn vor Drogen gewarnt und vor Rowdies beschützt. Und er fühlte sich miserabel, weil er ihn nun in ein Laster einführte. Aber es war nur eine Zigarette. Es hätte schlimmer kommen können.
Das Unkraut hörte auf, und sie standen unter einem großen Baum; von einem dicken Ast hing ein Seil herab. Eine Reihe von Sträuchern begrenzte eine kleine Lichtung, und hinter ihr führte ein fast zugewachsener Feldweg zu einer Anhöhe hinauf. In der Ferne war der Verkehr auf dem Highway zu hören.
Mark blieb stehen und deutete auf einen Baumstamm in der Nähe des Seils. »Setz dich hin«, sagte er, und Ricky ließ sich brav auf dem Stamm nieder und schaute sich ängstlich um, als fürchtete er, die Polizei könnte in der Nähe sein. Mark musterte ihn wie ein Stabsfeldwebel und holte eine Zigarette aus seiner Hemdtasche. Er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand und versuchte, sich ganz gelassen zu geben.
»Du kennst die Regeln«, sagte er, auf Ricky herabschauend. Es gab nur zwei, und sie hatten sie im Laufe des Tages immer wieder diskutiert. Ricky hatte es satt, wie ein Kind behandelt zu werden. Er verdrehte die Augen und sagte: »Ja, wenn ich es jemandem verrate, dann verhaust du mich.«
»So ist es.« Mark verschränkte die Anne.
»Und ich darf nur eine am Tag rauchen.«
»So ist es. Wenn ich dich dabei erwische, daß du mehr rauchst, dann geht es dir schlecht. Und wenn ich herausfinde, daß du Bier trinkst oder irgendwelche Drogen nimmst, dann ...«
»Ich weiß, ich weiß. Dann verhaust du mich wieder.«
»Richtig.«
»Wie viele am Tag rauchst du?«
»Nur eine«, log Mark. An manchen Tagen nur eine. An anderen drei oder vier, je nachdem, wie viele er sich beschaffen konnte. Er steckte den Filter zwischen die Lippen wie ein Gangster.
»Wird eine am Tag mich umbringen?« fragt Ricky.
Mark nahm die Zigarette aus dem Mund. »Nicht in absehbarer Zeit. Eine am Tag ist ziemlich sicher. Mehr als das, und du könntest Probleme bekommen.«
»Wie viele raucht Mom am Tag?«
»Zwei Schachteln.«
»Wie viele sind das?«
»Vierzig.«
»Wow. Dann hat sie ein großes Problem.«
»Mom hat alle möglichen Probleme. Ich glaube nicht, daß sie sich der Zigaretten wegen Sorgen macht.«
»Wie viele raucht Dad?«
»Vier oder fünf Schachteln. Hundert am Tag.«
Ricky grinste ein wenig. »Dann wird er bald sterben, stimmt’s?«
»Hoffentlich. Er ist ständig betrunken und außerdem Kettenraucher. Da wird er wohl in ein paar Jahren sterben.«
»Was ist ein Kettenraucher?«
»Jemand, der sich eine neue Zigarette an der alten anzündet. Ich wünschte, er würde zehn Schachteln am Tag rauchen.«
»Ich auch.« Ricky warf einen Blick auf die kleine Lichtung und den Feldweg. Unter dem Baum war es kühl und schattig, aber in der prallen Sonne war es erstickend heiß. Mark drückte den Filter zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen und schwenkte die Zigarette vor seinem Mund. »Hast du Angst?« fragte er so herablassend, wie nur große Brüder es sein können.
»Nein.«
»Ich glaube doch. Paß auf, so mußt du sie halten, okay?« Er schwenkte sie näher heran, dann steckte er sie mit einer großen Geste zwischen die Lippen. Ricky sah aufmerksam zu.
Mark zündete die Zigarette an, paffte eine winzige Rauchwolke, dann hielt er sie vor sich und bewunderte sie. »Versuch nicht, den Rauch zu schlucken. So weit bist du noch nicht. Zieh nur ein bißchen, und dann blas den Rauch aus. Bist du so weit?«
»Wird mir schlecht werden?«
»Ja, aber nur, wenn du den Rauch einatmest.« Er tat zwei schnelle Züge und paffte demonstrativ. »Siehst du? Es ist ganz leicht. Wie man inhaliert, zeige ich dir später.«
»Okay.« Ricky streckte nervös Daumen und Zeigefinger aus, und Mark legte die Zigarette sorgfältig dazwischen. »Also los.«
Ricky schob den nassen Filter zwischen die Lippen. Seine Hand zitterte, und er tat einen kurzen Zug und blies Rauch aus. Ein weiterer kurzer Zug. Der Rauch gelangte nie weiter als bis zu seinen Schneidezähnen. Noch ein Zug. Mark beobachtete ihn aufmerksam und hoffte, er würde würgen und husten und blau anlaufen und sich dann übergeben und nie wieder rauchen.
»Es ist ganz einfach«, sagte Ricky stolz, hielt die Zigarette ein Stück von sich und bewunderte sie. Seine Hand zitterte.
»Keine große Sache.«
»Schmeckt irgendwie komisch.«
»Stimmt.« Mark setzte sich neben ihn auf den Baumstamm und zog eine weitere Zigarette aus der Tasche. Ricky paffte hastig. Mark zündete seine an, und dann saßen sie schweigend unter dem Baum und genossen in aller Ruhe ihre Zigaretten.
»Das macht Spaß«, sagte Ricky, am Filter nuckelnd.
»Fein. Und weshalb zittern dann deine Hände?«
»Tun sie nicht.«
»Doch.«
Ricky ignorierte das. Er lehnte sich vor, die Ellenbogen auf den Knien, und tat einen längeren Zug. Dann spuckte er auf die Erde, wie Kevin und die anderen großen Jungen es hinter der Wohnwagensiedlung taten. Es war ganz einfach.
Mark öffnete den Mund zu einem vollkommenen Kreis und versuchte, einen Rauchring zu blasen. Er dachte, das würde seinen kleinen Bruder mächtig beeindrucken; aber es bildete sich kein Ring, und der graue Rauch löste sich einfach auf.
»Ich glaube, du bist zu jung zum Rauchen.«
Ricky paffte und spuckte eifrig und genoß voll und ganz seinen ersten gewaltigen Schritt zur Männlichkeit. »Wie alt warst du, als du angefangen hast?« fragte er.
»Neun. Aber ich war reifer als du.«
»Das sagst du immer.«
»Weil es stimmt.«
Sie saßen nebeneinander auf dem Stamm unter dem Baum, rauchten schweigend und betrachteten die grasbewachsene Lichtung außerhalb des Schattens. Mark war tatsächlich als Achtjähriger wesentlich reifer gewesen, als Rikky es jetzt war. Er war auch reifer als alle anderen Kinder seines Alters. Er war immer reif gewesen. Als er erst sieben Jahre alt war, war er mit einem Baseballschläger über seinen Vater hergefallen. Das Nachspiel war nicht schön gewesen, aber der betrunkene Idiot hatte wenigstens aufgehört, ihre Mutter zu schlagen. Es hatte viele Prügel und Schlägereien gegeben, und Dianne Sway hatte bei ihrem ältesten Sohn Zuflucht und Rat gesucht. Sie hatten sich gegenseitig getröstet und sich geschworen, zu überleben. Wenn er sie geschlagen hatte, hatten sie gemeinsam geweint. Sie hatten sich Tricks ausgedacht, um Ricky zu schützen. Als Mark neun war, überredete er sie dazu, die Scheidung einzureichen. Als sein Vater betrunken bei ihnen auftauchte, nachdem ihm die Scheidungspapiere zugestellt worden waren, rief er die Polizei. Vor Gericht hatte er dann über die Mißhandlungen und die Vernachlässigung und das Schlagen als Zeuge ausgesagt. Er war sehr reif.
Ricky hörte den Wagen als erster. Es war ein leises, surrendes Geräusch, das vom Feldweg herkam. Dann wurde auch Mark aufmerksam, und sie hörten auf zu rauchen. »Bleib ganz still sitzen«, sagte Mark leise. Sie rührten sich nicht.
Ein langer, schwarzer, glänzender...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2013 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Agententhriller • eBooks • FBI • Geheimnis • Justiz • Klient • Leiche • Mafia • Mord • New York • Politthriller • Prozess • Roman • Selbstmord • Spannung • Thriller • Zeuge |
ISBN-10 | 3-641-11021-1 / 3641110211 |
ISBN-13 | 978-3-641-11021-5 / 9783641110215 |
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