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Zitterpartie (eBook)

Eine Erzählung

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
128 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73293-9 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
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Stefan Berg war Teil der Leistungselite: dynamisch, männlich, erfolgreich. Als »Spiegel«-Autor immer ganz vorne mit dabei, gehörte er zur Speerspitze des Journalismus. Doch dann kam der Schock: »Morbus Parkinson«. Parkinson, das klang für ihn nach Altenheim und Rollator. Zunächst lächelt er noch über die Krankheit, bis sie ihn im Alltag einholt. An der Kasse im Supermarkt, beim Zubinden der Schuhe, mitten im Gespräch. Hinzu kommt die Angst vor der Verschlechterung seiner Bewegungen und den schrägen Blicken auf der Straße. In »Zitterpartie« erzählt Stefan Berg eine Geschichte von einem Mann, dessen Leben durch die Krankheit durcheinander gerät, und von einer Frau, die ihm dabei begegnet. Langsam kommen sie sich näher, bis sie feststellen, dass ihre Leben sich erstaunlich ähneln. Stefan Berg hat ein mutiges, zartes, ein kämpferisches Buch geschrieben. Er erzählt darin vom neuen Leben mit der unheilbaren Krankheit Parkinson, von den Blicken der anderen und vom ungebrochenem Lebenswillen zweier Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen.

<p>Stefan Berg, geboren 1964 in Ost-Berlin, ist Journalist beim Spiegel. 2008 wurde bei ihm Morbus Parkinson diagnostiziert.</p>

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Der Tag, an dem er jene Veränderung bemerkte, die er später eine und noch später seine Krankheit nennen würde, endete in einem schönen Sommerabend. Er saß fernab seiner Heimatstadt auf einem Podium, neben ihm ein Politiker, vor ihm hunderte Zuschauer. Er nahm das Mikrofon in die linke Hand, er wollte die erste Frage stellen, aber das Mikrofon wackelte.

Schon seit dem frühen Morgen war er unruhig gewesen, unruhiger als sonst vor solchen Veranstaltungen. Aufgeregt war er durch die Stadt gelaufen, hatte den Weg verfehlt, war zurück zum Hotel geeilt, war noch einmal losgelaufen. Mehrmals hatte er vor Beginn der Diskussion seine Garderobe kontrolliert. Nun zitterte die Hand, was heißt zittern, sie flog, sie hatte sich regelrecht selbständig gemacht. Um ein Haar hätte es den Gesprächspartner erwischt. Das Mikro stoppte kurz vor dessen Kinn. Schade wäre es nicht um ihn gewesen. Zu seiner Linken saß einer dieser Politiker, der vor Publikum lustvoll die Wahrheit der Pointe opfert.

Das Mikro vibrierte lange unter dem Kinn seines Gegenübers. Aber dann riss er sich zusammen. Er nahm das Mikrofon in die Rechte, steckte die Linke unter dem linken Oberschenkel fest. Und machte weiter. Er schaute gegen das Licht in den Saal und stellte die erste Frage. Niemand hatte etwas bemerkt. Auch nicht die stämmigen Sicherheitsleute mit den Kabeln am Ohr, die den Gast begleitet und den Blick auf ihn bei dessen Eintreffen versperrt hatten.

Er atmete tief durch.

Alles war gut?

Nichts war gut.

Die Hand tat weh. Dieses Zittern, diese Aufregung, diese Angst, dieser Schweiß, das alles war neu in seinem Leben.

 

An dem Tag, an dem er jene Veränderung bemerkte, stand sie lange auf dem Balkon und blickte über die Stadt. Ein wenig Wind machte die Wärme erträglich. Dennoch konnte sie die Abendsonne nicht genießen, die den grauen Häusern leuchtende Farben verpasste. Sie wartete. Er hatte sein Telefon ungewöhnlich lange abgeschaltet. Sie war beunruhigt. Erst spät in der Nacht rief er an. Später schien es ihr, als hätte sogar das Handy anders als sonst geklingelt. Seine Stimme war seltsam aufgekratzt, seine Sicherheit schien diesmal gespielt. 

Sie kannten sich erst wenige Wochen, aber sie hatte schon immer die Fähigkeit gehabt, selbst kleinste Stimmungsschwankungen wahrzunehmen. Und sie nahm etwas wahr. Und fragte. Nein, er habe nicht getrunken. Nein, es sei alles in Ordnung. Wirklich. Sie solle ihm glauben. Aber seine Stimme erinnerte sie an eine Lampe, deren Stromzugang schwankt. Irgendein Wackelkontakt war da. Er gab etwas zu sehr an. So kannte sie ihn nicht. Er sagte, er hätte seinen Gesprächspartner beinahe erlegt. Stell dir vor, diesen Gaukler. Ja. In die Geschichte wäre er eingegangen, prahlte er. Mindestens. Sie wollte noch mehr Fragen stellen, aber sie hörte das Schließen der Wohnungstür. Sie werde morgen früh …, wollte sie sagen. Aber kam nicht mehr dazu. Sie musste auflegen.

 

Als die Krankenschwester ihn aufforderte, ihr zu folgen, wurde er aus der Erinnerung an jenen Moment auf dem Podium fernab seiner Heimatstadt gerissen. Sie zog ein kleines graues Wägelchen hinter sich her, auf dem ein noch kleineres, ebenfalls graues Beton-Tönnchen stand. Es wurde transportiert wie eine Schatzkiste. Ihn amüsierte die Szene, Wörter gingen ihm durch den Kopf, Restmüll, Atombunker, Schutzmaske, Tschernobyl. Ahmadinedschad nannte er die Schwester. Ihre Schuhe klackten auf dem Boden, das Geräusch erinnerte an das gleichmäßige Tacken eines Geigerzählers. Dann musste er seinen linken Arm frei machen. Frau Ahmadinedschad öffnete das Kästchen, in dem zwei kleine Spritzen mit radioaktivem Material steckten. Diese Ladung Atomwaffen war also für ihn bestimmt. Sie setzte die Nadeln nacheinander an.

Wenig später musste er sich auf eine Bank legen, Sekunden danach kreisten vier große Platten lärmend um seinen Kopf, angeblich Kameras. Er sollte ganz still liegen, ja nicht wackeln. Die Schwester hatte seinen Kopf in eine Vorrichtung gezwängt, eine Art Käfig. Es ratterte um ihn herum, als sollte sein Gehirn nicht fotografiert, sondern gepresst oder zerhackt werden.

Er kannte noch nicht den Namen der Krankheit, die er hatte und die ihn hatte. Aber er spürte in diesem Moment wieder, dass sich etwas zu ändern begann. Sein Körper zitterte nicht, aber seine Gedanken sprangen hin und her. Bilder tauchten auf, Menschen, Worte. Dann verschwanden sie wieder.

Namen.

Angst.

Worte.

Immer wieder. Das Rattern der Maschine über ihm zerschnitt seine Gedanken in Gedankenfetzen.

Verdammt. Nun zitterte auch sein Körper. Diesmal war es die Aussicht, dass jemand mehr über ihn wissen würde als er selbst, die ihn in Unruhe versetzte. Diese Ärztin. Sie würde die Spuren der Strahlen deuten. Mein Gehirn gehört mir, schoss es ihm durch den Kopf, als das radioaktive Zeug in ihm seinen Lauf nahm. Später deutete er solche Momente als Beginn einer Wandlung, für die er anfangs kein Wort fand.

Es dauerte, bis die Aufnahmen seines Gehirns fertig waren. Wie lange? Er hatte in der Klinik das Gefühl für die Zeit verloren. Zu lange dauerte es ihm jedenfalls. Eine Ewigkeit. Er stand im Wartezimmer dieses Atomlabors, an dessen Wänden Fotos und Schaubilder von den jüngsten Erfolgen der Nuklearmedizin prangten. Wie Trophäen hingen da zerstörte Tumore und verstrahlte Zellen. In komplizierten Texten wurden die nuklearen Angriffe auf Krebszellen skizziert. Eine seltsame Präsentation der Heilkraft durch Zerstörung in einer ebenso seltsamen Sprache, in der medizinisches und militärisches Vokabular auf merkwürdige Weise fusioniert waren. Tod und Leben waren von Menschen in ein Bündnis gezwungen worden.

Nichts ist unmöglich.

Wie eingesperrt in einem Käfig lief er auf und ab. Er konnte nicht sitzen. Er war unruhig, weil er sein Telefon nicht anschalten durfte. Ausgerechnet jetzt. Wo er doch auf eine Nachricht wartete. Von ihr.

 

Er hatte sie vor wenigen Wochen auf einem Empfang kennengelernt. Ein Zufall, zwei Gläser Sekt, Blicke, die Handy-Nummer, dann folgten Verabredungen. Ihre Augen waren ihm gleich aufgefallen. Er dachte, er hätte sie etwas zu lange angeschaut. Sie hatte dunkle, tiefschwarze Augen, in denen man sich spiegeln konnte. Was für ein Augenblick, hatte er gedacht. Und dachte es jetzt wieder. Er wartete auf die nächste Nachricht von ihr, die ihm gewiss eine dieser unerwarteten Erektionen bescheren würde. Selbst hier im Wartezimmer.

Er sah sich um. Überall alte Leute. Eine Wartegemeinschaft von maladen Menschen. Was habe ich hier verloren?

Und worauf warten die alle? Fragte er sich. Eine eigene Zeitrechnung gab es hier, jeder dachte nur bis zum nächsten Aufruf durch den Arzt. Einige zuckten, wenn sie ins Sprechzimmer gebeten wurden. Für die Tür, durch die alle gehen mussten, suchte er ein passendes Wort. Er fand keines.

Eine Frau sprach ihn an und bat ihn, ein Taxi zu rufen.

Ihr Kopf wackelte.

Das Taxi kam, er brachte die zitternde Frau auf die Straße. Sie konnte die Tür des Autos nicht öffnen, er half, dann fuhr das Taxi davon. Sie winkte aus dem Wagen, so glaubte er einige Sekunden, er winkte zurück. Dann sah er, dass sich ihre Hand wie von selbst bewegte.

Wäre sie ein Baum, sie hätte jedes Blatt längst abgeworfen.

Er ging wieder hinein in die Klinik. Ich bin im Endlager gelandet, dachte er, und niemand da, der sich aus Protest ankettet. Das Wort Gorleben fiel ihm ein.

 

Er war gestolpert, ein kleiner Ausfallschritt, und sie hatte Sekt aus seinem Glas abbekommen. Auf diesem Empfang, zu dem sie ohnehin nicht gern gegangen war. Sie mochte solche Veranstaltungen nicht, die von ihren Freunden Events genannt wurden. »Events« war das passende »Wording«. Nur einer Freundin zuliebe war sie mitgekommen. Die Freundin war klug, sie war sogar sehr klug, aber diese Freundin fand sich nicht attraktiv genug, sie musste eine starke Brille tragen, die Hüften hatten Schwung für zwei. Ihre Begleitung würde die Aufmerksamkeit auf sie lenken, zumindest indirekt, zumindest dachte die Freundin so. Es blieb unausgesprochen. Wahrscheinlich hatte sie recht.

Sie selbst fand diese Blicke unangenehm. Sie fühlte sich unwohl in der Rolle des Lockvogels, und außerdem wollte sie nicht wie ein entflohenes Wild aus dem Tierpark bestaunt werden. Eine Schwarze, wie exotisch. Sie kannte die Blicke.

Sie wollte fast gehen, als sie diesem Mann gegenüberstand, er wirkte etwas unbeholfen, ein Glas in der Hand, mit der anderen Hand stützte er sich an einem Regal ab. Oder hielt sich fest, sie wusste es nicht genau. Es schien, als balancierte er. Fast den ganzen Abend hatte er dort gestanden.

Er gaffte nicht. Er grüßte eher beiläufig und desinteressiert. Sie erwiderte den Gruß genauso beiläufig. Nicht viel mehr als ein Kopfnicken, dazu ein kaum hörbares Hallo, an das sie oft denken musste, wenn sie allein auf ihrem Balkon stand.? 

Er hatte sie angeschaut, aber seine Blicke wirkten eher nach innen gerichtet. Er war sehr konzentriert. Aber worauf? So aufmerksam war noch nie durch sie hindurchgeblickt worden. Beinahe hatte es sie gekränkt. Als er die rechte Hand löste und zum Gruß ausstrecken wollte, war er gestolpert. Das Glas fiel. Bei dem Versuch, es aufzufangen, stießen ihre Köpfe zusammen. Sie lachten beide und er verzichtete auf das anzügliche Angebot, ihr Kleid trocknen zu helfen. Er dachte nicht einmal daran. Er war rot geworden. Sie schwiegen wieder, dann bat er um Entschuldigung. Einige Beiläufigkeiten später hatte sie ihm ihre Handy-Nummer gegeben. Und er ihr seine.

Absichtsloser ging es nicht.

 

Er war...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Journalist • Lebenskraft • Parkinson-Krankheit • Preis der Parkinson Hilfe 2013 • ST 4418 • ST4418 • suhrkamp taschenbuch 4418
ISBN-10 3-518-73293-5 / 3518732935
ISBN-13 978-3-518-73293-9 / 9783518732939
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