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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 2. Auflage
687 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73069-0 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
12,99 inkl. MwSt
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Pak Jun Do hat noch nie einen Film gesehen, kaum je ein Werbeplakat, er findet es merkwürdig, dass woanders Leute Tiere im Haus halten, und wundert sich über Maschinen, die Geld auswerfen. Er kennt keine Ironie, keine Kunst, keine Mode und keine Magazine. Aufgewachsen im nordkoreanischen Waisenhaus Frohe Zukunft, ist er ein winziges Rädchen im großen Getriebe der absurd-grausamen Herrschaft des »Geliebten Führers« Kim Jong Il. Schon ein falsches Wort kann jeden sofort ins Lager bringen. Doch mit der Zeit beginnt Jun Do an etwas zu glauben, was stärker ist als Staatstreue: Freundschaft und Liebe. Als er die Schauspielerin Sun Moon trifft, lernt er das bedingungslose Vertrauen in einen anderen Menschen kennen. Und nur dafür lohnt es sich zu überleben.

<p>Adam Johnson, geboren 1967 in South Dakota, lebt mit seiner Familie in San Francisco und lehrt in Stanford Creative Writing. F&uuml;r seinen zweiten Roman <em>Das geraubte Leben des Waisen Jun Do</em> reiste Adam Johnson ins abgeschottete Nordkorea. Johnson erhielt zahlreiche Stipendien und Preise, u.a. den Pulitzer-Preis.</p>

JUN DOS MUTTER war Sängerin. Das war das Einzige, was Jun Dos Vater, der Aufseher des Waisenhauses, jemals über sie verriet. In seinem kleinen Zimmer in Frohe Zukunft hatte der Waisenhausaufseher das Foto einer Frau hängen. Sie sah hübsch aus – die großen Augen blickten in die Ferne, die Lippen waren zu einem unausgesprochenen Wort geschürzt. Schöne Frauen aus der Provinz wurden nach Pjöngjang verschleppt, und das war sicher auch mit Jun Dos Mutter geschehen. Der beste Beweis war der Waisenhausaufseher selbst. Abends trank er, und die Waisen in ihren Baracken hörten ihn weinen und schreien und verzweifelte Abmachungen mit der Frau auf dem Foto treffen. Jun Do durfte ihn als einziger trösten und ihm schließlich die Flasche aus der Hand nehmen.

Als ältester Junge in Frohe Zukunft trug Jun Do viel Verantwortung – die Portionierung des Essens, die Zuteilung der Schlafplätze, die Vergabe von Namen anhand der Liste der 114 Großen Märtyrer der Revolution an die Neuzugänge. Trotzdem war der Waisenhausaufseher sehr darauf bedacht, seinen Sohn, den einzigen Jungen in Frohe Zukunft, der kein Waisenkind war, nicht zu bevorzugen. War der Kaninchenstall verdreckt, dann war es Jun Do, der über Nacht darin eingeschlossen wurde. Machte jemand ins Bett, dann kratzte Jun Do die gefrorene Pisse vom Boden. Jun Do hütete sich, vor den anderen damit zu prahlen, dass er der Sohn des Waisenhausaufsehers war und nicht ein Kind, das von seinen Eltern auf dem Weg ins Lager ausgesetzt worden war. Wenn es jemand unbedingt wissen wollte, war es ja nicht schwer herauszufinden – Jun Do war schon länger da als alle anderen und nur deshalb nicht adoptiert worden, weil sein Vater um nichts in der Welt seinen einzigen Sohn hergegeben hätte. Und es leuchtete ein, dass sein Vater sich einen Posten gesucht hatte, wo er seinen Lebensunterhalt verdienen und sich zugleich um seinen Sohn kümmern konnte, nachdem dessen Mutter nach Pjöngjang entführt worden war.

Dass die Frau auf dem Foto Jun Dos Mutter sein musste, ließ sich schon daran erkennen, wie unerbittlich immer gerade er bestraft wurde. Das konnte nur bedeuten, dass Jun Dos Gesicht den Waisenhausaufseher Tag für Tag aufs Neue an die Frau auf dem Foto und den Schmerz über ihren Verlust erinnerte. Nur ein solcher Schmerz konnte einen Vater dazu bringen, seinem Kind mitten im Winter die Schuhe wegzunehmen. Nur ein wahrer Blutsverwandter würde seinem Sohn eins mit dem rauchenden Blatt der Kohlenschaufel überziehen.

Hin und wieder wurde eine Gruppe Zöglinge von einer Fabrik adoptiert, und im Frühjahr kamen Männer mit chinesischem Akzent und suchten sich Jungen aus. Ansonsten durfte jeder die Kinder für einen Tag ausleihen, der den Waisen zu essen gab und dem Aufseher etwas zu trinken. Im Sommer füllten sie Sandsäcke, und im Winter brachen sie mit Metallstangen die Eisplatten von den Docks am Hafen. Für eine Schale kalten Chap Chai schaufelten sie in Fabriken die öligen Eisenspäne auf, die von den Drehmaschinen flogen. Das beste Essen gab es auf dem Güterbahnhof, scharfes Yukejang. Einmal schaufelten die Kinder Güterwaggons leer und wirbelten dabei ein salzartiges Pulver auf. Als sie zu schwitzen begannen, wurden sie rot – erst ihre Hände und Gesichter, dann die Zähne. Der Güterzug hatte Chemikalien für die Farbenfabrik transportiert. Wochenlang blieben sie rot.

Und dann kamen die Überschwemmungen, im Jahr Juche 85. Drei Wochen Regen, doch von weggeschwemmten Reisterrassen, von einstürzenden Erdwällen, von ineinanderfließenden Dörfern war aus den Lautsprechern nichts zu hören. Die Armee war damit beschäftigt, die Sungli-58-Fabrik vor dem Hochwasser zu retten, weshalb den Jungen aus Frohe Zukunft Seile und lange Fischhaken in die Hände gedrückt wurden, mit denen sie die Menschen aus dem Ch'?ngjin-Fluss ziehen sollten, bevor sie in den Hafen gespült wurden. Der Fluss war eine dicke Suppe aus Baumstämmen, Öltanks und Latrinenfässern. Ein Traktorreifen drehte sich im Wasser, ein sowjetischer Kühlschrank. Das dumpfe Donnern von Güterwagen war zu hören, die auf dem Flussgrund entlanggerissen wurden. Eine ganze schreiende Familie klammerte sich an die vorbeiwirbelnde Dachplane eines Truppentransporters. Dann reckte eine junge Frau mit tonlos aufgerissenem Mund den Arm aus dem Wasser, und der Waisenjunge Bo Song bekam ihn mit dem Haken zu fassen – sofort wurde er ebenfalls von der Strömung mitgerissen. Bo Song war als schwächliches Kind ins Waisenhaus gekommen, und als sich herausstellte, dass er taub war, gab Jun Do ihm den Namen Un Bo Song. Dieser, der 37. Märtyrer der Revolution, war dafür berühmt, dass er sich die Ohren mit feuchtem Lehm verstopft hatte, damit er beim Angriff auf die Japaner nicht die Kugeln pfeifen hörte.

Trotzdem schrien die Waisenkinder »Bo Song! Bo Song!« und liefen dort am Ufer entlang, wo sie ihn in den Fluten vermuteten. Sie rannten an den Ausleitungsrohren des Vereinigten Maschinenwerks Ryongsong vorbei, an den schlammigen Erdwällen seiner Laugenbecken, aber Bo Song blieb für immer verschwunden. Am Hafen machten die Jungen Halt. Leichen trieben wie Geronnenes im dunklen Wasser, zu Tausenden wurden sie von den Wellen herumgeworfen wie klebrige Hirseklumpen, die in der heißen Pfanne zu hüpfen anfangen.

Auch wenn sie es zu dem Zeitpunkt nicht wussten: Das war der Beginn der Hungersnot. Erst gab es keinen Strom mehr, dann keine Züge. Als auch die Fabriksirenen nicht mehr zur Arbeit riefen, wusste Jun Do, dass schwere Zeiten angebrochen waren. Im Winter froren ihnen Finger und Zehen ab, und die Alten erwachten nicht mehr aus dem Schlaf. Und das waren nur die ersten Monate, lange vor den Baumrindenessern. Die Lautsprecher nannten die Hungersnot einen Beschwerlichen Marsch, aber die Stimme kam ja auch aus Pjöngjang. Jun Do hatte das in Ch'?ngjin noch niemanden sagen hören. Was mit ihnen geschah, brauchte keinen Namen – es war allgegenwärtig, in jedem Fingernagel, den sie abkauten und schluckten, jedem müden Lidschlag, jedem Gang auf die Latrine, wo sie sich mühten, Sägemehlklumpen auszuscheißen. Als auch die letzte Hoffnung verloren war, verfeuerte der Waisenhausaufseher die Betten, und so schliefen die Jungen in der letzten Nacht um einen heiß glühenden Bollerofen auf dem Boden. Am Morgen hielt auf der Straße ein Militärfahrzeug an, eine »Krähe«, wie der Transporter wegen seiner schwarzen Segeltuchabdeckung genannt wurde. Nur noch ein Dutzend Jungen war übrig, sie passten perfekt auf die Ladefläche. Irgendwann endete sowieso jeder Waisenjunge beim Militär. Und so wurde Jun Do mit vierzehn Jahren als Tunnelsoldat in der Kunst des lichtlosen Kampfes ausgebildet.

Und dort holte Offizier So ihn acht Jahre später ab. Der ältere Offizier kam sogar persönlich unter die Erde, um sich Jun Do anzusehen, der gerade mit seiner Mannschaft von einem Nachteinsatz im Tunnel zurückkehrte. Zehn Kilometer weit verlief der unter der DMZ, bis fast in die Vororte von Seoul. Die Soldaten verließen den Tunnel immer rückwärts, damit ihre Augen sich wieder ans Licht gewöhnen konnten, und so wäre Jun Do fast gegen den Offizier gestoßen. Seine breiten Schultern und sein massiver Brustkorb bezeugten, dass er in der guten alten Zeit großgeworden war, vor der Chollima-Kampagne.

»Bist du Pak Jun Do?«, fragte er.

Als Jun Do sich umdrehte, umleuchtete ein Lichtkranz die kurzgeschorenen weißen Haare des Mannes. Sein Gesicht war dunkler als Kopfhaut und Kinn, als habe er gerade erst seinen Bart und eine dichte, wilde Mähne abgeschoren. »Der bin ich«, antwortete Jun Do.

»Das ist der Name eines Märtyrers«, sagte Offizier So. »Ist das hier ein Waisentrupp?«

Jun Do nickte. »Ja. Aber ich bin kein Waise.«

Der Blick des Offiziers fiel auf das rote Taekwondo-Abzeichen auf Jun Dos Brust.

»Na schön«, sagte Offizier So und warf ihm einen Sack zu.

Darin waren Jeans, ein gelbes T-Shirt mit einem aufgestickten Polo-Pony und Turnschuhe. Die wurden Nikes genannt – Jun Do erkannte sie von ganz früher, als das Waisenhaus noch als Begrüßungskomitee für ganze Bootsladungen von Koreanern angetreten war, die man mit Versprechungen von Parteiposten und Wohnungen in Pjöngjang aus Japan in die alte Heimat zurückgelockt hatte. Die Waisen schwenkten Willkommensfähnchen und sangen Parteilieder, damit die japanischen Koreaner die Gangway überhaupt herunterkamen, trotz des fürchterlichen Zustands der Stadt und trotz der Krähen, die schon darauf warteten, sie alle in Kwan-li-sos, in Internierungslager, abzutransportieren. Er sah die Heimkehrer, die kräftigen jungen Männer mit ihren schicken neuen Turnschuhen vor sich, als sei es gestern gewesen.

Jun Do hielt das gelbe Hemd hoch. »Was soll ich damit?«

»Das ist deine neue Uniform«, antwortete Offizier So. »Seekrank wirst du doch nicht, oder?«

*

Wurde er nicht. Sie fuhren mit dem Zug an die Ostküste in die Hafenstadt Chongwang, wo Offizier So ein Fischerboot beschlagnahmte. Die Besatzung hatte solche Angst vor ihren Gästen vom Militär, dass sie ihre Kim Il Sung-Nadeln auf der gesamten Überfahrt nach Japan angesteckt ließen. Auf dem Meer sah Jun Do kleine Fische mit Flügeln, und er sah Spätmorgennebel, der so dicht war, dass er einem die Worte aus dem Mund stahl. Es gab keine Lautsprecher, die den ganzen Tag lang plärrten, und jeder Fischer trug das Bild seiner Frau auf der Brust eintätowiert. Die See war unvorhersehbar – nie wusste man, in welche Richtung man als Nächstes schwanken sollte, und trotzdem fühlte Jun Do sich mit der Zeit wohl. Der Wind in den Masten und Galgen schien sich leise mit den Wellen, die gegen den Bootsrumpf...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2013
Übersetzer Anke Caroline Burger
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel The Orphan Master's Son
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählungen • Korea • National Book Award 2015 • Nordkorea • Ostasien Ferner Osten • Pulitzerpreis 2013 • Pulitzer Prize • Romane • ST 4522 • ST4522 • suhrkamp taschenbuch 4522 • The Story Prize 2015 • The Sunday Times EFG Short Story Award 2014
ISBN-10 3-518-73069-X / 351873069X
ISBN-13 978-3-518-73069-0 / 9783518730690
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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