Rebellen (eBook)
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30687-3 (ISBN)
Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. Neben den zehn Dengler-Krimis »Die blaue Liste«, »Das dunkle Schweigen«, »Fremde Wasser«, »Brennende Kälte«, »Das München-Komplott«, »Die letzte Flucht«, »Am zwölften Tag«, »Die schützende Hand«, »Der große Plan« und »Kreuzberg Blues« hat er die Romane »Sommer am Bosporus« und »Rebellen« veröffentlicht - und zusammen mit Claudio Caiolo die Venedig-Krimis um Commissario Morello. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis, 2012 und 2014 mit dem Stuttgarter Krimipreis sowie 2019 mit dem Stuttgarter Ebner-Stolz-Wirtschaftskrimipreis ausgezeichnet.
Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. Neben den zehn Dengler-Krimis »Die blaue Liste«, »Das dunkle Schweigen«, »Fremde Wasser«, »Brennende Kälte«, »Das München-Komplott«, »Die letzte Flucht«, »Am zwölften Tag«, »Die schützende Hand«, »Der große Plan« und »Kreuzberg Blues« hat er die Romane »Sommer am Bosporus« und »Rebellen« veröffentlicht – und zusammen mit Claudio Caiolo die Venedig-Krimis um Commissario Morello. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis, 2012 und 2014 mit dem Stuttgarter Krimipreis sowie 2019 mit dem Stuttgarter Ebner-Stolz-Wirtschaftskrimipreis ausgezeichnet.
8. Alexander
Alexanders Großeltern hatten das Haus in der Schubertstraße gebaut, parallel zur Haydnstraße und damit auch zum Waisenhaus. Die größte Straße des Viertels war, man konnte es sich denken, die Richard-Wagner-Straße.
Trotzdem, so dachte Alexander oft, haben all diese berühmten Komponistennamen weder auf mich noch auf Maximilian abgefärbt. Es war der Wunsch des Vaters gewesen, dass er mit sieben Jahren Klavierunterricht bekam, aber er hasste es von der ersten Stunde an und scheiterte bei der einfachsten Clementi-Sonate. Das Instrument war erbarmungslos und schenkte ihm nichts. Hinter jedem erlernten Akkord lag eine Schlacht, in der er den Tasten mühsam geringe Fortschritte abtrotzen musste.
Manchmal erschien der Vater beim Unterricht und hörte seinem Geklimper zu. Die rechte Hand sollte vom C zum F wechseln, und wieder griff er daneben. Der Vater schüttelte dann ganz leicht, so als sollte Alexander es nicht merken, den Kopf.
In der nächsten Woche weigerte sich der Bub, weiterzuspielen. Er saß mit verschränkten Armen vor dem Klavier der Mutter, sprach nicht und rührte sich nicht. Der Klavierlehrer, ein hektischer, großer, dünner Mann mit langen Armen, der sonntags hin und wieder in der Urbanskirche an der Orgel aushalf, ertrug die mangelnde Begabung leicht, verzweifelte aber an seiner Verstocktheit. Er rief die Mutter herein, die nachgab und ihm den Unterricht erließ.
Jeden Mittag außer montags, wenn er in seinem Klub aß, bog der Vater pünktlich um eins mit seinem schwarzen Mercedes in die Garageneinfahrt vor dem Haus. Maximilian rannte dann aus der Tür, nahm ihm die braune Aktentasche ab und trug sie stolz wie eine Eroberung ins Haus. Ebenso pünktlich servierte Frau Ebersbach, die im Haushalt arbeitete, seit Alexander denken konnte, das Essen.
Um den großen Tisch im Wohnzimmer saß jeder an seinem Platz: die Mutter am Kopfende, das Panoramafenster im Rücken, rechts neben ihr der Vater und daneben der Besuch, den er hin und wieder mitbrachte, meist Herrn Rieger, den Prokuristen der Firma. Neben dem Gast, der Mutter gegenüber, saß Maximilian, Frau Ebersbach an der Seite, immer bereit aufzuspringen und in die Küche zu laufen, wenn etwas fehlte. Dann Alexander.
Nach dem Essen trank die Mutter jeden Tag ein Glas Möselchen. Sie mochte keinen sauren Wein, und daher stellte Frau Ebersbach, wenn sie den Tisch deckte, immer eine kleine silberne Zuckerdose neben ihr Glas mit einem winzigen, handgefertigten silbernen Löffel darin. Damit füllte die Mutter einen Löffel Zucker in den Wein und rührte um, bis er sich auflöste.
Das Mittagessen war die Zeit der Ermahnungen: Alexander, nicht an der Stuhllehne ausruhen! Sitz aufrecht! Nimm die Unterarme vom Tisch! Wirf die Serviette nicht auf den Boden! Sei still! Kinder reden nur, wenn sie gefragt werden!
Sie wurden selten gefragt. Manchmal wollte der Vater etwas über Schule und Noten wissen. Maximilian drehte dann prompt auf, als würde sich irgendjemand wirklich dafür interessieren. Wenn Alexander gefragt wurde, sagte er etwas vorher Ausgedachtes. Meistens redeten die Erwachsenen am Tisch über die Firma. Es ging um die Blechschneidemaschinen, die in der Firma des Vaters hergestellt wurden. Wieder einmal hatte die Firma Ditzinger dem Vater einen Auftrag weggeschnappt. Herr Rieger mochte diese Firma gar nicht. Er schüttelte den Kopf hin und her und sagte, es ginge uns gut, wenn es nur die Firma Ditzinger nicht gäbe, die alles kaputt mache mit ihren Preisen. Der Vater redete auch gerne über die Kulturlosigkeit der Amerikaner, schimpfte über die Negermusik und die abstrakte Malerei, die die deutsche Kultur zerstörten.
Alexander langweilte sich und versank beim Mittagessen jedes Mal in innere Welten.
In der Schule las er unter der Schulbank die Bildergeschichten von Akim, dem Helden des Dschungels, Tarzanhefte und Ritterstorys von Sigurd. Er schwang sich von Liane zu Liane an der Seite von Akim, dessen Bildabenteuer in der Schule getauscht wurden und die er zu Hause verstecken musste. Er stellte sich vor, Akim sei sein bester Freund. Manchmal wollte er auch gerne Bodo sein, der Kumpel von Ritter Sigurd von Eckbertstein.
Das Träumen machte das Stillsitzen erträglich und Maximilians Wichtigtuerei auch. Wenn ihm der Stoff zum Träumen fehlte, versuchte er unter dem Tisch seinen älteren Bruder zu treten, aber es gelang ihm nur, wenn er weit auf dem Stuhl nach vorne rutschte, und das »Alexander, setz dich richtig hin!« der Mutter erfolgte meist, bevor er richtig ausholen konnte.
Das einzig Gute am Mittagessen war, dass die Mutter nicht rauchte. Nur während der Mahlzeiten sonderte sie nicht die kleine Rauchsäule ab, die morgens, tagsüber und am Abend neben ihr aufstieg. Lord Extra. Drei oder vier Schachteln pro Tag. Sie stank. Ihre Blusen und Kleider stanken nach Rauch, ihre Haare stanken nach Rauch, ihre Haut roch, und vor ihren Gutenachtküssen ekelte sich Alexander. Manchmal war er zu langsam, und es gelang ihm nicht, das Gesicht zur Seite zu drehen, dann hielt er die Luft an, bis es vorbei war. Die Mutter liebte ihren jüngsten Sohn, und dass er sich abwandte, wenn sie ihn küsste oder streichelte, war ihr schlimm. Sie begriff nicht, dass es an den Lord Extra lag. Sie dachte, ausgerechnet ihr Lieblingssohn wende sich von ihr ab, und verdoppelte ihre Anstrengungen wie eine abgelegte Geliebte. Ständig versuchte sie, den jüngsten Sohn in die Arme zu nehmen, seinen Kopf an die Brust zu drücken und ihn zu küssen. Alexander war wachsam, durchschaute ihre Absichten früh und ging ihr aus dem Weg.
Manchmal schnitt der ältere Bruder beim Essen Grimassen, um Alexander zum Lachen zu bringen, oder er machte Bewegungen des Vaters, das Kreisen der Hand mit dem Cognacschwenker, manchmal aber auch das Zuckern von Mutters Wein nach. Alexander versuchte das Lachen zu unterdrücken, sah nicht mehr zu seinem Bruder hin, aber oft genug prustete er einfach los. Dann wurde er ohne Essen vom Tisch verbannt. Sicher, Frau Ebersbach schmierte ihm danach heimlich ein oder zwei Käsebrote, aber unter den Augen des Bruders oder Herrn Riegers den Tisch verlassen zu müssen, war seine früheste Demütigung. Er hasste Maximilian, der ihm dies mit seinen Faxen eingebrockt hatte, und es war wie ein zusätzliches Geburtstagsfest, als er endlich sein eigenes Zimmer bekam.
Trotz gelegentlicher Kumpaneien blieb ihm sein älterer Bruder fremd. Wie konnte Maximilian den Vater wirklich lieben, wenn er dessen Schwächen mit diesen unbarmherzigen Gesten bloßlegte? Den festen Griff an den Hals der Flasche Hennessy, später das leichte Zittern der Hand, wenn er den Schwenker gegen das Licht des Kronleuchters hob und die braune Flüssigkeit im Kreise drehen ließ, seinen leicht vornübergebeugten Gang, seinen verwirrten Blick, wenn er eine der laut vorgetragenen Anschuldigungen der Mutter nicht verstand. Konnte man den Vater wirklich lieben, fragte sich Alexander, wenn man, wie Maximilian das oft tat, Vaters Lieblingszitate von Schiller verstümmelte? Seinen ausladenden Schritt nachahmte? Oder: Mochte man den Vater lieb haben, wenn man sich immer neben ihn stellte und den Bruder mit einem Schulterstoß wegschubste?
Manchmal kam es ihm vor, als richteten sich all diese demonstrativen Zuneigungserklärungen an den Vater in Wirklichkeit nur gegen ihn.
Erst später, sehr viel später, wurde Alexander klar, dass sein Vater ein schwacher Mann gewesen war. Er hatte unmittelbar vor dem Krieg eine Lehre im Büro der Maschinenfabrik Weinmann & Co. begonnen. Technischer Zeichner und Konstrukteur wollte er werden. Doch bei dem verheerenden Angriff der Briten auf Freiburg am 27. November 1944 wurde die Fabrik gänzlich zerstört. Sie brachen auch den Lebenswillen von Wilhelm Weinmann, Alexanders Großvater, dem das Unternehmen gehörte.
Es waren die Arbeiter und die vielen ungelernten Frauen, die die Reste der Maschinen, der Rohmaterialien und Halbzeuge retteten. Sie brachten sie in einen Schuppen nach St. Georgen, der der Familie eines Vorarbeiters gehörte. Doch wie produzieren, wenn alle Konstruktionspläne verbrannt waren? Fünf Konstrukteure waren gefallen, die anderen befanden sich noch in russischer oder amerikanischer Gefangenschaft. Die Rekonstruktion der überlebenswichtigen Pläne aus der Erinnerung der Arbeiter und der allmählich zurückkehrenden Kollegen war das eigentliche Meisterwerk seines Vaters. Er rettete die Firma nicht durch eine unternehmerische, sondern durch eine archivarische Glanzleistung.
Als die ersten Blechschneidemaschinen ausgeliefert werden konnten, heiratete Wilhelm Helmholtz Katharina Weinmann, das einzige Kind des Firmeninhabers. Bald kam Maximilian auf die Welt, 1950 dann er, Alexander.
Wer war sein Vater? Die Belange der Firma, der Neubau in den fünfziger Jahren, der Aufstieg in den Sechzigern, die Krise 1967 – all diese Themen, die den Vater beschäftigt haben mussten, blieben den Kindern verborgen. Was mag den Vater wirklich bewegt haben in diesen Jahren? Gab es eine Affäre? Diskrete Rendezvous in abgelegenen Hotels am Kaiserstuhl? Eine Liebschaft mit einer Angestellten? All das passte nicht zu ihm. Er war nicht der Typ dazu, oder seine Frau überwachte ihn so sehr, dass ihm der Freiraum nicht blieb, eine geheime Leidenschaft anzuzetteln. Als Kind denkt man nicht auf diese Art und Weise über seine Eltern...
Erscheint lt. Verlag | 9.3.2013 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Am zwölften Tag • Armut • Bewegung • Beziehung • Brennende Kälte • Das dunkle Schweigen • Das München Komplott • Die blaue Liste • Die letzte Flucht • Die schützende Hand • Fremde Wasser • Freundschaft • Gesellschaft • Ideale • Jugend • Liebe • Politische Linke • Rebell • Rebellion • Reichtum • Sommer am Bosporus • Umbruch • Umwälzung • Verrat • Wolfgang Schorlau |
ISBN-10 | 3-462-30687-1 / 3462306871 |
ISBN-13 | 978-3-462-30687-3 / 9783462306873 |
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