Seit drei Jahren macht der britische Geheimdienst MI5 Jagd auf 'Nachtauge'. Hinter diesem Codenamen verbirgt sich eine deutsche Spionin, die Schienen und Brücken zerstört und Verfolger kaltblütig umbringt. Jetzt steht sie vor ihrem größten Coup: der Aufdeckung einer womöglich kriegsentscheidenden großen Operation der britischen Luftwaffe. Diese bereitet die Bombardierung der größten deutschen Stauseeanlagen vor. Erstes Ziel: die Möhnetalsperre.
Hier arbeiten über tausend ukrainische Frauen unter entwürdigenden Bedingungen in einer Munitionsfabrik. Im Lager unterstehen sie dem Befehl von Georg Hartmann. Er gerät unter Druck, weil Gerüchte kursieren, dass er nicht hundertprozentig auf Parteilinie sei. Tatsächlich ist er bei den Arbeiterinnen weit weniger gefürchtet als die brutalen Männer vom Werkschutz. Ahnt Hartmann, dass einige Frauen, unter ihnen auch die ihm sympathische Nadjeschka, einen spektakulären Fluchtversuch planen?
Titus Müller, geboren 1977, studierte Literatur, Geschichtswissenschaften und Publizistik. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt« und veröffentlichte seither mehr als ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« brachte ihn auf die SPIEGEL-Bestsellerliste und wird auch von Geheimdienstinsidern gelobt.
1
Eric Knowlden schaltete das Radio aus. »Weck die Kinder.«
»Was?« Connie sah von der Nähmaschine hoch. »Ich hab sie erst vor einer halben Stunde ins Bett gebracht! Wir können froh sein, dass sie schlafen.«
Er stand auf und ging zum Sekretär hinüber, öffnete die Schublade und entnahm ihr die Mappe mit den Ausweisen und Geburtsurkunden. »Tu es bitte, Connie.«
»Stimmt etwas nicht?«
Er sah aus dem Fenster. Dichter Regen prasselte auf die Pflastersteine. »Hol du die Kinder. Ich hole Decken aus dem Schlafzimmer.«
Endlich verstand sie. Die über Jahre antrainierten Handgriffe setzten ein. Wenige Minuten später traten sie unten auf die Straße. Connie trug das schlaftrunkene Mädchen und die Decken, er trug den Jungen, den Aktenkoffer und die Schachtel mit den Gasmasken. »Ich hab keinen Alarm gehört«, sagte sie verwirrt, während sie die Straße entlangeilten. »Was haben sie im Radio gesagt?«
»Die Royal Air Force hat Berlin bombardiert.«
»Aber das ist doch eine gute Nachricht! Endlich schlagen wir zurück, und sie kriegen heimgezahlt, was sie London angetan haben.«
»Connie, verstehst du nicht?« Der Regen lief ihm über das Gesicht. Trotzdem schwitzte er, Tony war kein Kleinkind mehr, er wog achtunddreißig Pfund. Viele der Läden, in denen sie früher eingekauft hatten, waren nicht mehr da, Lücken klafften in den Häuserreihen. Wo einst Freunde von ihm gewohnt hatten, stand jetzt eine einsame Straßenlaterne und verbreitete trübes Licht. Vor zwei Jahren waren die Bomber jede Nacht gekommen, Hunderte von ihnen. Fünfzigtausend Londoner waren gestorben. Die Stadt war zur Todesfalle geworden.
»Nein, ich versteh’s nicht.«
»Wir haben die Hauptstadt der Deutschen bombardiert. Über dreihundert Flugzeuge. Wir haben ihnen so viel zerstört wie noch nie. Zur Vergeltung werden sie London angreifen. Es geht wieder los.«
Skeptisch sah Connie ihn von der Seite an.
Niemand außer ihnen war auf der Straße. Es war dunkel und kalt. Vielleicht irrte er sich, und die Bomber kamen gar nicht? In den letzten Monaten hatte es nur noch vereinzelt Angriffe und Zerstörungen gegeben, die Deutschen waren mit Russland beschäftigt.
Als sie die Old Ford Road erreichten, jaulten die Sirenen los: der Schmerzensschrei der Stadt.
Sie blieb stehen. »Manchmal bist du mir unheimlich, Eric.«
»Analytische Vorhersagen gehören zu meinem Beruf.«
»Und Verschwiegenheit, ich weiß. Du hast das bestimmt nicht nur aus dem Radio gewusst.«
Sieben Minuten blieben, nachdem der Luftalarm einsetzte – das hatte er wie jeder Londoner verinnerlicht. Sieben Minuten, bis die Bomber über der Stadt waren. Die ersten Haustüren sprangen auf. Immer mehr Menschen stürmten hinaus, ein Strom, der stetig anschwoll und sich zur neuen U-Bahn-Station ergoss. Hier im East End war Bethnal Green der größte Luftschutzbunker. Was einmal eine Station der Central Line werden sollte, hatte sich längst in eine unterirdische Kleinstadt verwandelt. Bei Luftalarm schliefen die Menschen in dreitausend Betten, im Notfall passten zehntausend Leute in die Halle unter Tage. Es gab eine provisorische kleine Bibliothek und einen Saal für Konzerte und Theaterstücke, sogar eine Übergangskirche, in der Gottesdienste gefeiert wurden. Eric kannte die Nachbarn in den reservierten Schlafabteilen, man trank miteinander Tee, sagte sich Gute Nacht.
Noch hundert Meter bis zum Eingang. Der Suchscheinwerfer in den Bethnal Green Gardens flammte auf. »Schneller«, sagte er und begann zu rennen. Connie hielt sich an seiner Seite. Jeden Moment konnte die Flak losfeuern. Die heißen Granatsplitter der Flugabwehrgeschosse, die vom Himmel regneten, hatten vor zwei Jahren ihre beste Freundin aus der Nachbarschaft sowie deren Kind getötet.
Das Brummen über ihnen wurde immer lauter und bedrohlicher. Schweinwerferkegel tasteten über die Regenwolken, dann erfassten sie die ersten Flugzeuge, folgten ihnen über den Himmel. Flugabwehrkanonen knatterten.
Der Eingang zur U-Bahn-Station war direkt vor ihnen. Eine Traube von Menschen ballte sich dort, mehr, als durch den schmalen Eingang passten. Jemand schrie: »Holt sie vom Himmel, die verfluchten Deutschen!« An der Bushaltestelle hielt ein roter Doppeldeckerbus, und ein Schwall von Männern und Frauen stieg aus und hastete heran.
Die beiden Kinder waren jetzt hellwach. Mit stillen, dunklen Augen sahen sie sich um, hörten auf das Röhren der Bomber, das Knattern der Flak. »Alles wird gut«, sagte Connie zur kleinen Ella auf ihrem Arm, die zu wimmern anfing. »Gleich sind wir in Sicherheit.«
Schon waren sie im Gedränge bis auf die ersten Treppenstufen vorgerückt, der dunkle Schlund der Bethnal Green Station tat sich vor ihnen auf. An der Decke baumelte eine einzige Glühbirne, die das Dunkel nur spärlich aufhellte. Eric kannte diese Stufen wie seine eigene Haustreppe. Er brauchte kein Licht. Während des German Blitz waren sie hier jede Nacht hinabgestiegen.
Die Treppe war überfüllt, es stockte vor ihnen. Er drehte sich noch einmal um und sah nach draußen in den Regen. Aus dem nahe gelegenen Kino strömte eine Menschenmenge, der Film war wohl unterbrochen worden durch den Alarm. Ein Betrunkener verließ schweren Schritts das Pub auf der anderen Straßenseite, das Salmon and Ball. Vom Kiosk, wo es gebackene Kartoffeln gab, rannten Schutzsuchende zur Bethnal Green Station.
Dann brach ein Fauchen los am Himmel, ein Kreischen und Jaulen. Helles Licht zerplatzte und spritzte jäh über das Firmament. Wer noch auf der Straße war, warf sich zu Boden. »Hitlers neue Waffe!«, schrie jemand. Die Leute rappelten sich auf und rannten auf den Eingang zu, von überall her stoben sie heran.
Er versuchte, die Umstehenden zu beruhigen: »Das ist unsere Waffe. Das ist nichts von Hitler. Wir haben sie bisher geheim gehalten, es sind Raketen, Massen von Raketen, die zugleich in den Himmel geschossen werden und dort explodieren. Die machen den Deutschen die Hölle heiß.«
Aber niemand hörte auf ihn, die Leute schoben und schubsten aus Angst vor Hitlers neuer Waffe, sie trauten dem Diktator mehr zu als Churchill. Bethnal Green sollte sie vor der neuen Wunderwaffe beschützen.
»Bitte, wir passen alle hinein«, sagte Eric zu denen, die sich an ihm vorbeidrängen wollten. »Bleiben Sie ruhig!« Immer stärker wurde der Druck von hinten, sie wurden die Stufen hinuntergeschoben und gegen die Rücken der Leute vor ihnen gedrückt. Die Angst machte die Menschen rücksichtslos. Vor seinem inneren Auge sah er die Lage schon eskalieren. »Zur Seite«, sagte er, »Connie, wir müssen zum Geländer!«
Er ließ den Koffer und die Decken los. Die Menschenmenge trieb Connie und ihn auseinander, er griff nach ihrem Arm, aber jemand zwängte sich zwischen sie, und dann noch jemand, sie wurden fortgespült zu entgegengesetzten Seiten der Treppe. Er versuchte zu seiner Frau zu gelangen, wurde jedoch von einer gewaltigen Kraft zurückgestoßen. Er rief: »Geh zur anderen Seite, Connie, nur rasch zum Geländer!« Noch hielt sie die kleine Ella tapfer auf dem Arm.
Da passierte genau das, was er befürchtet hatte. Der Druck der Nachrückenden wurde zu stark. Die Ersten gerieten ins Stolpern, sie fielen die Treppe hinunter, auf andere drauf, stießen sie nieder, und während die Unteren um Luft keuchten, rutschte die Lawine weiter, wuchs und wuchs.
Er wurde gegen das Geländer gedrückt, die Betonwand quetschte ihn. Eilig setzte er Tony ab und nahm ihn zwischen seine Beine, versuchte ihn zu schützen. Er hielt sich fest, um nicht zu fallen und überrannt zu werden.
Um ihn herum ächzten Menschen, wurden von ihren Freunden erdrückt und von den Nachbarn niedergetrampelt, sie hatten nicht einmal genug Luft in den Lungen, um zu schreien. Hände streckten sich in die Höhe von weiter unten, Vergrabene suchten nach Halt, konnten aber nicht verhindern, dass die Nachrückenden über sie hinwegrutschten. Tony stiegen Tränen in die Augen, er schien in der Enge kaum noch atmen zu können.
Dann war es vorüber, plötzlich. Der Druck von hinten ließ nach. Die nicht zu Tode getrampelt worden waren, richteten sich stöhnend auf. Sie hielten sich gebrochene Rippen, zerschundene Knie. Auf der Treppe lag ein Berg von Toten. Von allen Seiten wurden mit banger Stimme Namen gerufen.
Er hob seinen Sohn hoch, der von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. »Tut dir etwas weh?«, fragte er ihn.
»Mama …«, schluchzte Tony nur.
»Wir werden sie finden.« Auf dieser Höhe der Treppe konnte er nicht zur anderen Seite gelangen, ohne über etliche Körper zu trampeln. Also stieg er stattdessen in Richtung des Ausgangs hinauf. Luftschutzleiter übernahmen oben das Kommando und schickten die Neuankömmlinge weg, er hörte ihre festen Stimmen: »Der Bunker ist überfüllt. Gehen Sie bitte weiter.« Dazu knallten draußen die Explosionen der Bomben.
Er konnte Connie nirgendwo entdecken. Eric rief ihren Namen immer und immer wieder, noch hoffte er, dass sie sich hatte retten können und Halt gefunden hatte. Doch die Zweifel ergriffen allmählich von ihm Besitz.
»Mama«, brüllte Tony mit herzzerreißender Verzweiflung, »Mama, wo bist du?«
Dort, wo Eric sie zuletzt gesehen hatte, gab es eine Bewegung bei den Körpern am Boden, eine Hand reckte sich langsam in die Höhe. Er glaubte diese schmale, blasse Hand zu erkennen, setzte Tony ab, der jetzt noch lauter weinte, aber es half nichts, Eric musste anpacken. Wenn seine Frau hier unter den Leibern lag und keine Luft mehr bekam, war jeder Augenblick entscheidend. Er hievte eine schwergewichtige Frau in die Höhe. Sie war schon...
Erscheint lt. Verlag | 11.3.2013 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • Abenteuerroman • Agententhriller • Arbeitslager • eBooks • Fremdarbeiter • Historische Romane • Liebesgeschichte • Politthriller • Spionage • Spionage, Zweiter Weltkrieg, Stauseen, Fremdarbeiter, Liebesgeschichte, Arbeitslager • Stauseen • Thriller • Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-09589-1 / 3641095891 |
ISBN-13 | 978-3-641-09589-5 / 9783641095895 |
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