Verwandt sind hier viele
Der Schnee blieb liegen und die Skisaison begann. Das Dorf hatte einen eigenen, kleinen Skilift. Man war in anderthalb Minuten oben, aber der Lift beherrschte für kurze Zeit den Dorfbetrieb und besänftigte alle. Sogar Chris nannte mich auf einmal Hendrik.
Eines Tages sprach mich Ida in der Schule an. »Warum kommst du nie zum Lift?«
»Ich kann nicht Ski fahren.«
»Du könntest es lernen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Eine Woche, dann kannst du es«, sagte Ida.
»Diese Woche würde ich wohl kaum überleben.«
Ida schwieg. Sie verstand, was ich meinte. Der Skilift war mindestens so gefährlich wie die Bushaltestelle.
»Du könntest mit Florian und mir fahren.«
»Wer ist Florian?«
»Mein kleiner Bruder. Er ist superfrech. Dem pinkelt keiner ans Bein.«
»Ich habe keine Ausrüstung.«
»Aber wir. Komm doch einfach mal zu uns. Dann suche ich dir was zusammen.«
Das Angebot war sehr großzügig. Ida wickelte ihren Zopf ums Handgelenk. Offenbar war sie eine Spur verlegen. Ich durfte nicht ablehnen.
»Ja ... gut. Morgen vielleicht?«
»Heute.«
»Aber meine Mutter ...«
»Die rufen wir an.« Ida zog ihr Handy aus der Tasche.
»Eure Nummer?«, fragte sie.
Ich diktierte sie ihr. Eigentlich war das alles ganz fabelhaft. Ida hatte jetzt meine Nummer!
Sie reichte mir das Handy.
»Hallo, Hendrik! Ist was passiert?«, fragte meine Mutter.
»Nee, nee, alles in Ordnung. Ich wollte nur fragen, ob ich heute nach der Schule zu Ida darf. Weißt du, das Mädchen von der Sieglachsmühle. Ich hab dir doch von ihr erzählt.«
»Ja ... Aber wie kommst du nach Hause?«
»Ich laufe.«
»Wann kommst du denn?«
Mir ging Mamas Fragerei auf die Nerven. Musste sie alles bis ins kleinste Detail wissen? »So um sechs. Also tschüss dann.«
Die Sieglachsmühle war ein großer Hof mit mehreren Ställen. Von einem riesigen Traktor, dessen Räder fast so hoch waren wie ich, winkte mir Alois zu.
»Komm rein«, sagte Ida. Wir betraten das Haus. Es roch nach Milch, ein wenig nach Stall, aber vor allem nach Holzfeuer. Ich folgte Ida in die Stube. Dort gab es einen großen, grünen Kachelofen und einen noch größeren, quadratischen Tisch. Er war gedeckt, zwei Brüder saßen schon. Die Mutter werkelte in der Küche. Ein Jesus hing an einem Kreuz in der Ecke und die Vorhänge waren rot-weiß kariert.
Die Mutter trug eine große Schüssel herein.
»Ach, du bisch dr Hendrik«, sagte sie. »Griaß di.«
Ich grüßte auch und ich nickte in die Runde. Ida hatte auch noch eine kleine Schwester, sie war vielleicht ein Jahr alt und saß im Hochstuhl. Jetzt kam der Vater. Ich grüßte auch ihn. Er grüßte mich. Alle waren nett, aber trotzdem wäre ich am liebsten sofort wieder verschwunden.
Ich schlüpfte auf die Eckbank und machte mich so dünn wie möglich, denn jetzt kamen Alois und zwei Männer in Arbeitskleidung.
Es gab Gulasch mit Reis und Gurkensalat. Ich mochte keinen Reis und keinen Gurkensalat, aber ich sagte nichts.
Als alle etwas auf dem Teller hatten, setzten sie sich aufrecht hin und falteten die Hände. Die Mutter murmelte ein Gebet.
Ich hatte keine Religion, aber das Essen schmeckte. Auch der Reis und der Gurkensalat.
»Und du willst jetzt also Ski fahren lernen«, sagte die Mutter. Sie bemühte sich um Hochdeutsch.
»Na ja«, sagte ich. »Ida möchte das gerne.«
»Die Ida«, sagte die Mutter. »Die würde sogar der Yvonne das Skifahren beibringen.«
»Stimmt es, dass man dich Oswald nennt?«, fragte mich einer der Brüder. Er lachte frech.
»Florian!«, schimpfte die Mutter.
»Weiß das jetzt das ganze Dorf?«, fragte ich schärfer, als ich wollte.
»Chris Meinrath ist der Sohn von Mamas Großcousine«, erklärte Ida.
»Oh.«
»Ich kann nichts dafür!«, sagte Ida und lachte.
»Na, dann«, sagte ich. Verwandt waren hier wirklich viele.
Nach dem Essen gingen wir in den ersten Stock. Im Flur stand ein riesiger Bauernschrank, die Türen waren mit roten und weißen Blumen bemalt. Die Dielen waren dunkelrot.
»Ochsenblut«, sagte ich und deutete darauf.
»Baumarkt-Farbe«, sagte Ida. »Glaubst du, hier streicht einer noch die Dielen mit Blut?«
Ich hatte im Internet nachgesehen. Die Farbe Ochsenblut setzte sich zusammen aus Blutserum von geschlachteten Ochsen, Sumpfkalk, Eisenoxid und Leinöl. Früher hatte man die Farbe vor allem deswegen verwendet, weil sie billig war.
Ida öffnete den Schrank. Er war vollgestopft mit Daunenanoraks, Schneehosen und Fleecepullis. Ida griff nach einem schwarzen Anorak und hielt ihn mir hin. Ich zog ihn an, er passte.
»Weißt du eigentlich«, sagte Ida und gab mir nun eine knallrote, wattierte Skihose, »dass du in einem Spukhaus wohnst?«
Ich nahm die Hose. Mir wurde heiß.
»Nö«, sagte ich so gelangweilt wie möglich und zog die Hose über meine Jeans. »Wer spukt denn da?«
»Du solltest die Jeans drunter ausziehen. Sonst sehen wir ja nicht, ob die Skihose passt.«
Gehorsam tat ich, was Ida sagte. »Und wer behauptet so etwas? Ich meine, dass es da spukt?« Die Skihose passte mir.
»Das erzählt man sich so. Los, wir gehen auf den Boden. Da stehen die Skier.«
Ich folgte Ida auf den Dachboden. Dort war es düster und kalt. Die Luft war staubig und an einem Verschlag lehnten Skier und Stöcke in rauen Mengen. Zielstrebig ging sie auf ein paar silberblaue Skier zu. Sie waren so lang wie ich. Unterdessen suchte Ida ein Paar passende Stöcke. Zum Schluss reichte sie mir ein Paar Skischuhe.
»Was man zum Skifahren alles braucht«, stellte ich fest.
»Ja. Eigentlich schlimm, oder?« Ida sah mir zu, wie ich versuchte, in die Skischuhe zu schlüpfen. Sie kam mir zu Hilfe und nestelte an den Schuhen herum. »Aber ich rede da von Spuk und solchen Sachen, dabei weiß ich fast nichts darüber. Das mit den Rumänen hat sich alles vor meiner Geburt zugetragen.«
»Mit was für Rumänen?«
»Die in eurem Haus gewohnt haben. Da ist irgendein grausiger Mord passiert und seitdem soll es da spuken. Vor euch sind schon drei Mieter ausgezogen, weil sie es da nicht ausgehalten haben.«
»Und wer wurde damals ermordet?«
»Keine Ahnung. Es wird nicht gern darüber gesprochen. Aber wenn du mehr darüber wissen willst, musst du eure Nachbarin fragen. Die hat bei den Schneckmanns sauber gemacht.«
»Schneckmanns?«, fragte ich entgeistert.
»Ja, so hießen die.«
»Ich dachte, das waren Rumänen.«
»Ach, was weiß ich. Sie waren Rumänen, hießen aber trotzdem Schneckmann. Ulkiger Name, oder?«
»Ja, sehr ulkig. Besonders ulkig finde ich aber, dass Eddi nur noch von Schnecken redet, seit wir da wohnen.«
Ida sah mich an. »Ich könnte vielleicht meine Tante fragen. Die weiß so ziemlich alles über das Dorf … So, und jetzt können wir gleich loslegen.«
»Womit denn?«
»Mit dem Üben.«
»Hier auf dem Dachboden?«
»Du Spinner. Auf dem Hang bei der Sieglach, natürlich. Wir haben da alle Ski fahren gelernt.«
Ich fiel 48-mal hin und verbog mir den Daumen an der Schlaufe des Stocks. Aber als es dunkel war, kam ich den Hang das erste Mal heil herunter. Ich war schweißgebadet und wusste, wozu es Lifte gab.
Als es dunkel wurde, fuhr mich Alois nach Hause. Vom Spuk in unserem Haus erzählte ich niemandem.
»Stimmt es eigentlich«, fragte mich Fritz zwei Tage später in der Schule, »dass du in einem Spukhaus wohnst?«
»Was weißt du denn darüber?«
»Nichts Genaues. Ida hat da was erzählt.«
Ich ärgerte mich. Warum erzählte sie so etwas herum?
»Und?«, fragte Fritz. »Spukt es wirklich?«
Ich schwieg.
»Es spukt also.«
Ich schwieg wieder.
»Du glaubst doch wohl nicht daran, oder?« Das klang ein wenig überheblich. Trotzdem schien ihn das Thema zu beschäftigen. »Und warum spukt es?«
»Wie warum?«
»Es spukt doch immer, wenn Tote nicht zur Ruhe kommen. Ich habe nämlich einige Bücher darüber gelesen. Gibt es denn Tote in eurem Haus?«
»Ja. Wenn du es so genau wissen willst: Ida sagt, es gibt sie.« Ich nickte stumm. Doch Fritz lachte nur. »Spuk ist Quatsch. Tote sind tot. Aus. Fertig.«
Der Pausengong beendete unser Gespräch. Wir kehrten ins Klassenzimmer zurück.
»Ich würde dich gern mal besuchen«, sagte Fritz.
Fürs Wochenende hatte ich mich mit Ida und Florian am Lift verabredet. Doch es taute. Ein warmer Wind wehte und binnen einer Nacht war fast der ganze Schnee weg. Ida rief mich an.
»Schade«, sagte sie.
»Ja, schade«, log ich.
Natürlich hätte ich Ida gern gesehen. Aber das musste nicht unbedingt am Skilift sein. Ich hoffte, sie würde etwas anderes vorschlagen: ins Schwimmbad zu gehen oder ins Kino. Aber es kam nichts. Ich legte auf.
Der Garten war grau, von unserem Iglu war nur noch ein müder, glasiger Haufen übrig. In der Dachrinne gurgelte es und die Sieglach trat über die Ufer. Meine geliehene Skiausrüstung stand in der Garage.
»Müssen wir uns dafür nicht erkenntlich zeigen?«, fragte mein Vater. »Ich könnte eine Flasche Wein vorbeibringen.«
Die Vorstellung, mein Vater würde die...