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Logbuch eines unbarmherzigen Jahres (eBook)

eBook Download: EPUB
2013 | 2. Auflage
272 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60288-3 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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Die Schriftstellerin Connie Palmen und den Staatsmann Hans van Mierlo verband eine späte symbiotische Liebe. In diesem Buch beschreibt sie, mit vielen Rückblenden in die Zeit ihres Zusammenseins, seine Erkrankung, seinen Tod und ihren Umgang mit Trauer und Verzweiflung. Bewegende Notizen gegen das Vergessen.

Connie Palmen, geboren 1955, studierte Philosophie und Niederländische Literatur und lebt in Amsterdam. Ihr erster Roman ?Die Gesetze? erschien 1991 und wurde gleich ein internationaler Bestseller. Sie erhielt für ihre Werke zahlreiche Auszeichnungen, z. B. den renommierten AKO-Literaturpreis für den Roman ?Die Freundschaft? und den Libris-Literaturpreis 2016 für ?Du sagst es?.

[9] 28. April 2010 (achtundvierzig Tage nach seinem Tod)
Erste Notizen

Ich wollte einen Roman schreiben, der den Titel Judas tragen sollte – und da starb mein Mann.

Neununddreißig Kilo, Kiefersperre, Mund in Fetzen, Rachen in Brand. Magen greint, Darm jammert laut vor Leere, Herz rast, klopft, pumpt wie verrückt. Innen durch und durch kalt, außen perlt Schweiß an den Körperseiten hinunter wie Tränen. Nachts ist es klamm im Bett von der abkühlenden durchtränkten Wäsche. So sinnlich der Schmerz ist, der mich krank macht, die Organe scheinen nicht zu mir zu gehören, scheinen von mir losgelöst aufzuschreien.

Sie können mich nicht vertreten.

Nichts kann mich vertreten.

Da ist niemand, der zu vertreten wäre.

Ich bin ein einziges großes Defizit.

Es ist ein ständiges Sehnen, ein rasendes Verlangen, ihn zu sehen und zu liebkosen, seinen prachtvollen Körper, gehüllt in diese seidenweiche, sonnengebräunte Haut, sein schwindelerregend schönes Gesicht, seinen Mund, seinen Torso, seine Beine und Arme, seine Hände. Ich will zu ihm, auf ihn, will ihn um mich und in mir haben. Die Erinnerungen an den Sex in all diesen Jahren bestürmen mich Dutzende Male am Tag, kurze Szenen, Bildblitze, in hoher Frequenz abgefeuert, ohne Chronologie, ohne Ton.

[10] In den ersten zwei Jahren schlafen wir ineinander auf einer ein Meter vierzig breiten Matratze. Er ist fast ein Meter neunzig, ich fast ein Meter sechzig und halb so schwer wie er. Wenn er sich auf die andere Seite dreht, klaubt er mich von seinem Rücken wie ein Äffchen und bettet mich in die Beuge von Rumpf und angezogenen Beinen.

»Du kannst uns zusammen auf ein Bügelbrett legen«, beruhigt er eine Gastgeberin, als sie Bedenken wegen ihres schmalen Gästebetts äußert.

Seit Wochen nun schon bleibe ich am liebsten in unserem Bett, unter der Decke seiner und meiner Verlassenheit. Im Bett bin ich bei ihm, bei meinem Kummer über den Verlust meines wundervollen Mannes. Alle Fotos von ihm rauben mir den Atem, er war so lieb, so bezaubernd, so schön, so sexy.

Trauer bedient sich im Körper derselben Sprache wie Verliebtheit, da ist kein Unterschied. Die dummen Organe erzählen von Unruhe und Begierde, ohne eine Ahnung zu haben, dass das Verlangen nach einem Lebenden ein ganz anderes ist als das nach einem Toten. Herz, Darm, Magen, Haut, sie stimmen eine gleichlautende Elegie des Verlusts an. Darin liegt eine Mischung aus Furcht und Sehnsucht, eine Unsicherheit des Verliebten, der ständig zu dem anderen hin möchte, um sich zu vergewissern, ob sie noch lebt, diese Liebe, ob sie nicht womöglich in einem unbewachten Augenblick gestorben ist, einfach verschwunden, das könnte ja sein.

Verliebte haben Todesängste.

[11] Vom Moment des Kennenlernens an sind sich die Liebenden selbst nicht mehr genug, wissen sich keinen Rat mehr mit ihrem Körper, erkennen ihn nicht mehr als etwas von sich selbst, weil er krank ist vor Liebe, zu etwas Unvollkommenem, sehnsüchtig Bedürftigem geworden, das nicht richtig funktioniert, wenn es zu weit von dem anderen Körper entfernt ist. Die schmachtenden Organe des Verliebten beruhigen sich erst, wenn er den anderen sieht, riecht, berührt.

Er ist der Einzige, der meinen Körper beruhigen könnte, und er ist tot.

Trauer ist Verliebtheit ohne Erlösung.

Ich bin panisch ohne ihn.

Außer Un jour tu verras mit seiner Stimme habe ich dauernd eine Liedzeile aus einer Fernsehserie über Annie M. G. Schmidt im Kopf. »Ich würd dich am liebsten in ein Schächtelchen stecken.« Nach ein paar Wochen hört das auf. Kein Gesang mehr, keine Lieder.

Es ist unbegreiflich, dass ein Mensch das überlebt, dass das überhaupt zu überleben ist. Im Haus wacht mein jüngster Bruder über jede meiner Bewegungen, jeden meiner Schritte. Eines Abends bitte ich ihn um die Erlaubnis, sterben zu dürfen. Er verweigert sie mir. Okay, sage ich, dann nicht.

Gegen das rasende Herz bekomme ich Propranolol, einen Betablocker, gegen den unleidlichen Magen Omeprazol. Am liebsten würde ich eine Pille gegen das Leben nehmen, um für eine Weile davon befreit zu sein.

[12] Die Scham, als ich nach Wochen zum ersten Mal auf die Straße hinausgehe, ächzend, keuchend, schnaufend. Ohne ihn kann ich kaum laufen. Wenn ich Blicke auf mir spüre, bin ich mir bewusst, dass andere vor allem jemanden nicht wahrnehmen.

Ich bin jemand nicht.

Ich bin aberwitzig allein.

Manche schlagen die Hand vor den Mund, als sie mich sehen.

Sobald ich im Freien bin, höre ich Krankenwagensirenen. Ich erinnere mich, dass ich das schon einmal hatte, bei dem vorigen Tod, aber damals war auch ein Krankenwagen im Spiel, jetzt nicht. Seinerzeit habe ich mir dauernd vorgestellt, was ich nicht mit eigenen Augen hatte sehen können, das Zusammenbrechen, das Sterben, wie sie seinen Körper auf eine Trage bugsierten, die schmale Treppe hinuntertrugen, in den Krankenwagen schoben und mit heulenden Sirenen die Straße hinunterfuhren, quer durch die Stadt, ins Krankenhaus. Und dass er dort schon tot in diesem Krankenwagen lag, nicht mehr zu retten.

Der neue Tod hatte es etwas weniger eilig.

Hat diese akustische Halluzination mit dem zu tun, was ich zu ihm sage, wenn ich die Sirenen tatsächlich höre: Mensch in Not?

Oder sind die Sirenen das städtische Pendant zu den Totenglocken im Dorf: ein Zeichen dafür, das in einem der Häuser Traurigkeit wütet, weil jemand gestorben ist, der geliebt wurde? Schmerzensmusik. Leidensverkünder: In Ihrem Dorf, in Ihrer Stadt ist etwas Schreckliches geschehen.

[13] Die sensorische Halluzination der Nacht ist angenehmer, dann fühle ich seine Hand auf meinem Kopf, der darin geborgen ist wie in einem Nest. Manchmal fühlt sie sich so kalt an wie die Höhlung der toten Hand, in die ich eine Woche lang jeden Abend meinen Kopf bette, manchmal so warm wie im Leben. Kalt oder warm, vor Angst, die Illusion zu vertreiben, wage ich mich nicht zu rühren.

Nach ein paar Wochen hört auch das auf. Keine Hand mehr auf meinem Kopf, keine Illusionen mehr.

Die Tode unterscheiden sich. Der brüske Tod löste eine monatelang anhaltende Erschütterung aus. Bei dem Tod, dem ein Krankenbett vorangeht, setzt die Trauer im Leben ein. Ohne dass man die Hoffnung aufgibt, ohne dass man an sich heranlässt, dass es kein Kranken-, sondern ein Sterbebett ist, trauert man um das Leben, das noch ist, das man festhalten möchte, während man schon dabei ist, Abschied davon zu nehmen. Man glaubt es nicht, man kann es sich nicht vorstellen, es ist undenkbar – und doch.

Jeden Morgen werde ich wach, bevor gegen halb sechs die Vögel zu singen beginnen. Ich erwache anders als nach dem ersten Tod, als es nur eines Sekundenbruchteils bedurfte, bis mir die Realität bewusst wurde, die mich für den Rest des Tages zersplitterte. Jetzt erwache ich mit einer Mischung aus Schmerz und einem Fünkchen Freude über das Erwachen.

Ich bin wieder da.

Wenn ich an ihn denke, bilde ich mir ein, dass er in diesem Tod nicht mehr allein ist.

[14] Als ich widerwillig auf die eine Frage antworte, die ich eigentlich nicht beantworten will, verspreche ich mich. Ich sage: Ich bin in seinen Armen gestorben.

Manche fragen schon nach zwei Wochen, ob ich schreibe. Großer Gott, nein, allein schon der Gedanke! Diejenigen, die mich das fragen, wissen nichts von der Hölle, in der ich mich befinde, der Hölle, in der man nichts ist, nichts kann. Als ich schließlich hiermit anfange, mit diesem Logbuch eines unbarmherzigen Jahres, achtundvierzig Tage nach seinem Tod, streite ich es noch ab, sage, dass man es nicht Schreiben nennen könne, dass ich Notizen über Liebe und Tod mache, dass es mit meinem sonstigen Schreiben nichts zu tun habe, eher ein Hinkritzeln von Sätzen sei, als ritze ich mit dem Stift die Haut des Schmerzes. Ich tue es, weil ich weiß, dass man dies vergisst, diesen Horror der ersten Monate, des ersten Jahres, man vergisst es, wie man Zahnschmerzen vergisst – oder Wehenschmerzen, wie man erzählt. Man weiß noch, dass es schlimm war, schrecklich, der schlimmste Schmerz, den man je hatte, aber fühlen kann man es nicht mehr.

Vergessen dient einem Zweck: Niemand würde je wieder ein Kind bekommen oder einen anderen lieben wollen, wenn er noch genau wüsste, wie weh es getan hat, das Liebste zu bekommen, und wie weh, es eines Tages verlieren zu müssen.

Nicht anders als vor fünfzehn Jahren, als sich der Tod zum ersten Mal hereinschlich, suche ich andere, die mir erzählen können, ob sie diesen erschütternden Schmerz auch hatten, versuche ich, ihren einstigen Kummer zum Maßstab [15] zu nehmen und ihn mit dem meinen zu vergleichen, will ich wissen, wie lange die Geißel währt und ob es ein Mittel gibt, damit man weniger leidet, und sei es nur ein kleines bisschen. Antworten bleiben aus. Sobald ich den Schmerz anspreche, sehe ich, wie sich etwas Leeres in die Gesichter schleicht, eine für sie nicht mehr fassbare Erinnerung.

Es war furchtbar, sagen sie. Und es dauerte lange, jahrelang.

Ich mache diese Notizen gegen den Abschied des Vergessens, denn ich ertrage keinen Abschied mehr. Schreiben kann man es nicht nennen. Man schreibt, wenn man eine Form gefunden hat, eine Struktur, die die Sätze miteinander verbindet, einen gedanklichen Rahmen, der sie zusammenhält, antreibt und lenkt. Diese zügellosen Notizen verdienen es nicht, Schreiben genannt zu werden.

Ich schäme mich dafür.

Ich schäme mich, dass ich schreibe und wie ich...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2013
Übersetzer Hanni Ehlers
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Logboek van een onbarnhartig jaar
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bericht • Beziehung • Erinnerungen • Erkrankung • Hans von Mierlo • Krankheit • Liebe • Memoiren • Notizen • Partnerschaft • Schmerz • Sehnsucht • Staatsmann • Tod • Trauer • Verlust • Verzweiflung
ISBN-10 3-257-60288-X / 325760288X
ISBN-13 978-3-257-60288-3 / 9783257602883
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