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Schwerenöter (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2013
800 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-10871-7 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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Hanns-Josef Ortheil entwirft in seinem Roman 'Schwerenöter' ein virtuos geschriebenes Porträt unser Nachkriegsgesellschaft. Der Autor zeichnet darin die Entwicklung jener Generation nach, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, in den fünfziger Jahren aufwuchs, die Studentenbewegung von 1968 mitgetragen hat und sich in den Jahren danach in die verschiedensten Lager zerstreute. Ein ungleiches Zwillingsbrüderpaar tritt auf, das auf phantasievolle Weise zwei deutsche Arten, sich in der Welt zu bewegen, noch einmal wiederholt: ekstatisch der eine, melancholisch der andere ...

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

1
Adenauers Spätgeburt


Adenauer erwartete mich. Schon wenige Tage nach meiner Geburt hörte ich den altertümlich klingenden, mich sofort in den Bann schlagenden Namen. Einer der zahlreichen, auf mein Kommen hin angereisten Verwandten benutzte ihn, als er sich über das Bett beugte, in das man mich gelegt hatte. Deutlich bemerkte ich sein Erstaunen, den Tanz der Augenbrauen über den beinahe entsetzt sich weitenden Pupillen. Anfangs schien er dem Eindruck selbst nicht zu trauen, denn er runzelte die Stirn, ging langsam um das kleine Kinderbett herum und musterte mich von allen Seiten. Seufzend wandte er sich mit einem hilflosen Blick der gegenüberliegenden Wand zu, dann näherte er sich mir wieder und flüsterte mit einem wenig zurückhaltenden, nikotingesättigten Atem, als wolle er es nur mir sagen: »Der hat den Kopf des Alten, das ist Adenauers Dickschädel!«

Schon waren aber auch die anderen aufmerksam geworden, sie drängten herbei, standen um mich – den Schweigenden, Wahrnehmenden – herum, blickten mich mit aufgerissenen Augen ebenfalls überflüssig neugierig an und murmelten den merkwürdigen, mich beunruhigenden Namen nach. Einer nach dem andern sprach ihn aus, »ganz wie der Adenauer«, »wahrhaftig, ganz der Kopf des Alten«, so daß ich mich in meinem kleinen Bett unruhig hin- und herwälzte.

Wie alle Säuglinge wollte ich nicht erkannt und benannt sein. Haben Wiegenkinder in den ersten Wochen und Monaten nicht einen unbedingten Anspruch auf Stille und Pflege? Sie müssen sich von ihrem neunmonatigen, eingezwängten Mutterleibsdasein erholen; sie sollen das angenehme, tiefe und wärmende Dunkel gegen die störende Helligkeit des immer wiederkehrenden Morgens eintauschen. Es ist ein alter Irrtum, daß Kinder aus Mangel an Sprechfähigkeit, aus fehlendem Wissen oder aus Dummheit in den ersten Wochen des Lebens schweigen. Sie schweigen aus guten Gründen; gelten nicht diese ersten Wochen dem gründlichen Studium der Welt, dem Studium der prägenden Menschen, die fürs Spätere von größter Bedeutung sind? Dafür benötigen sie alle Kraft, allen Gedankenreichtum, jede Bewegung der Einbildungskraft.

So liegen die klügeren von ihnen beinahe unbeweglich in ihren engen Betten. Sie strampeln und schreien kaum, sie widmen sich einzig der Betrachtung der menschlichen Natur, der Familie, der sie umgebenden häßlichen und schönen Dinge. Nur gut, daß den Säuglingen erlaubt wird zu schweigen; kämen sie sprechend zur Welt, so fehlte es dieser an der notwendigen Erneuerung. Die Säuglinge aber schlafen, und im Schlaf erdenken sie sich insgeheim das Neue der Welt, sie vergleichen die lange im Mutterleib gehegten Spielbilder mit den Bildern des leibhaftigen Lebens; sie ahnen bereits, was zu ändern, was zu tun wäre. Einige Völker glauben mit Recht, daß das einzig Neue an einem Kind die Schale des Körpers sei, daß hingegen sein Geist und seine Seele etwas Uraltes, Vererbtes, Respektierenswürdiges darstellten, das in vielen verstorbenen Personen bereits gewohnt, von der Geschichte der Völker vorgebildet und bei der Geburt nur in veränderter Gestalt ins Leben gerufen worden sei.

Ich selbst sah es ähnlich, hatte ich doch in den zurückliegenden Monaten meiner allen Blicken entzogenen Entwicklung Erfahrungen genug gesammelt. Doch hatte die verfrühte Nennung des geheimnisvollen Namens Unruhe in meinem Inneren hervorgerufen. Anscheinend hatte sich niemand darüber Gedanken gemacht. Man unterschätzte mich, man hielt mich für ein unbeschriebenes Blatt, dem man bedenkenlos die fremdesten Urlaute aufprägen konnte.

Dabei hatte ich alles versucht, mich zu unterrichten. Schon im Mutterleib hatte ich den auf mich anstürmenden Traumbildern Erkenntnisse abgewonnen, um die mich so mancher beneidet hätte. Kaum hatten sich meine Sinne ausgebildet und verfeinert, hatten sie ihren Dienst bereits gründlich getan. Gekrümmten Leibes, noch kaum beweglich, war ich den Taten und Empfindungen meiner Mutter aufmerksam gefolgt. Zu allem entschlossen hatte ich meine ersten selbständigen Handgriffe eingeübt; auf den meist gleichmäßigen Schlag des mütterlichen Herzens hatte ich mit tiefem Durchatmen geantwortet. Ich hatte gelernt, den Hals allmählich freier zu bewegen, ihn zu drehen, zu wenden. Bald war es mir gelungen, die kleinen Hände zur trotzigen Faust zu ballen; bei stärkerem und eher bedrohlichem Klopfen und Pochen des nahen Mutterherzens hatte ich mitleidend die Stirn gerunzelt und erfolgreich grimassiert. Zwar hatte ich mit diesen sympathetischen Bewegungen keine besonders hilfreichen Dienste getan. Eingezwängt in die Höhle eines fremden Leibes, litt ich unter der eingeschränkten Bewegungs- und Denkfreiheit. Es wurde für mich gesorgt, alle Elemente der undurchschaubar zusammenarbeitenden Organismen griffen ineinander, um einen ordentlichen Menschen aus mir zu machen; andererseits war es mir doch unmöglich gewesen oder gar strikt verboten worden, in den Gang des Geschehens einzugreifen. Offensichtlich schlug sich meine Mutter mit feindlichen Mächten herum, sie setzte sich allen Widrigkeiten aus, während ich anscheinend nur dazu bestimmt war, zu ruhen, den Hals zu drehen und mit den Augen ins Dunkel zu schielen. Was ereignete sich draußen, was ging vor in diesen vielfach verworrenen Welten, aus denen so wenig zu mir hinüberdrang? Manchmal nahm ich ein plötzlich aufflammendes Licht wahr, dann wieder zuckte ich zusammen, wenn die Geräusche eindringlicher und markanter wurden. Doch konnte ich diese Außenlaute anfänglich nur wenig ordnen; was dort vor sich ging, blieb mir lange verschlossen.

So widmete ich mich den Träumen, die mir eine reichere und vielfältigere Wirklichkeit offenbarten. Es fiel mir nicht schwer, sie aus den Tiefen meiner Seele heraufzubeschwören. Gesammelt und angespannt erlebte ich die geheimen Planungen des Geistes mit, und auf dem dunklen Schirm, der mich sonst umgab, entstanden die ersten, quicklebendigen Schemen. Oft war ich verzaubert, denn unter ihrem Schutz wagte sich meine Seele, wie es mir schien, aus der Enge des gepreßten Körpers hinaus, sie machte ihre ersten Bekanntschaften mit der Welt und brachte so mit der Zeit in Erfahrung, in welchem Teil der Erde ich mich befand und mit welchen Stammeseigenheiten ich zu rechnen hatte.

 

Ohne Zweifel hielt ich mich in einer der prächtigsten und reichsten Städte des Kontinents auf, die würdig genug war, mich zu empfangen. Von Anfang an liebte ich ihre Schönheit, die so viele Geister in immer neuen Redensarten unermüdlich priesen. Betört, beinahe verhext lief ich durch ihre Gassen und Straßen, überquerte die weit sich öffnenden Plätze, besuchte die Märkte, die Lagerhallen am Fluß und suchte in den schmalen Laubengängen , die sich an die Wohnhäuser schmiegten, nach Schatten und Ruhe. Dort lauschte ich dem Gespräch der Philosophen, die sich beim Würfelspiel leise unterhielten; anscheinend machte es ihnen nichts aus, so lange an einem Platz zu verweilen. Sie liebten die Beständigkeit, sie verachteten die Hast, die uns in den Geschäften der Händler umgab, und sie spotteten über die Soldaten, deren Feldherr, Marcus Agrippa, mich schon bei einem meiner ersten Aufenthalte herzlich empfangen hatte. Den Spott der philosophischen Schule, hatte er ausgeführt, könne er leicht ertragen; unter den Soldaten nenne man sie die Eckensteher, die Wanzenbeschauer, die Neunmalklugen. Denen gehe nichts leicht von der Hand; sie lebten ihr Dasein auf Kosten der anderen, und nicht ihnen, sondern einzig den Soldaten, ihrem Ehrgeiz und ihrem Beharrungsvermögen habe die Stadt so viel zu verdanken. Wo finde man nördlich der Alpen etwas dergleichen an Pracht, Ordnung und Reichtum? Selbst in Italien spreche man von dieser Siedlung nur mit Respekt, was etwas heißen wolle, denn die Römer seien ein verwöhntes, anspruchsvolles Volk, das sich dem fernen Germanien nur mit großer Zurückhaltung genähert habe. Er selbst zweifle noch heute daran, ob es gut gewesen sei, die Truppen so weit in den Norden zu verlegen, um unter diesen finsteren, wenig zugänglichen Barbaren zu leben. Ein römischer Feldherr im Norden – das sei, um es deutlich zu sagen, eine wenig ansprechende Erscheinung, und an ihm selbst, seinen Zweifeln und Sorgen, könne ich leicht ermessen, was er von den Plänen des einzigen Cäsar halte, in diesen regendurchweichten, windgepeitschten Ebenen ein Leben zu führen, das sich den Ansprüchen einer höheren Kultur kaum fügen wolle. Wer habe schon freien Willens seine Heimat verlassen wollen, um dieses Germanien aufzusuchen, dessen Bewohner sich selbst ihrer Herkunft kaum gewiß seien, weil sie von geschichtlichem Leben nicht einmal etwas gehört, vielmehr alle Kraft darauf verwendet hätten, Eindringlinge durch die rauhen Töne und das dumpfe Dröhnen ihrer bardischen Gesänge in Schrecken und Angst zu versetzen? Tapferkeit habe man diesen Primitiven nicht absprechen können, wohl aber jedes Empfinden für Dauer und Schönheit. Der Krieg sei ihr Lebenselement gewesen, und außerhalb der Kriegszeiten hätten sie sich kaum zu betragen gewußt; gerade die Tapfersten seien in solchen Friedenszeiten ohne jede Beschäftigung gewesen, hätten die Glieder langgestreckt, Sorge und Arbeit den Frauen überlassen. So habe ihnen am ehesten eine ansteckende Trägheit entsprochen, eine offenbar kaum auszurottende Unlust, es mit der Welt aufzunehmen, während sie andererseits wiederum die Ruhe wenig genossen oder gar geliebt hätten. Herausgekommen sei dabei ein zwiespältig unentschlossenes Wesen, gezeichnet von einer anscheinend schweren Not, doch unergründlich in seinen tieferen Antrieben und Sehnsüchten, ein untätig lagerndes, träumendes, schwerfällig sich bewegendes Volk, das sich nicht einmal habe entschließen können,...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2013
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Brüder • Deutschland • eBooks • Gesellschaft • Nachkriegszeit • Politik • Roman • Romane • Zwillinge
ISBN-10 3-641-10871-3 / 3641108713
ISBN-13 978-3-641-10871-7 / 9783641108717
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