Der Geisterfahrer (eBook)

Die Erzählungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
576 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-10507-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Geisterfahrer -  Franz Hohler
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Zum 70sten Geburtstag des Autors: Eine vollständige Sammlung seiner längeren Erzählungen.
Am 1. März 2013 wird Franz Hohler 70 Jahre alt. Zu seinem Geburtstag erscheint eine vollständige Sammlung seiner längeren Erzählungen - ein Muss für alle Bewunderer und Liebhaber Franz Hohlers und seiner einzigartigen Erzählkunst.

Franz Hohler ist keineswegs nur ein Meister der pointierten Kurzprosa, er ist auch der Meister der großen Form, ein herausragender Autor von längeren Erzählungen. Dies hat er von Anfang an mit legendären Erzählungssammlungen unter Beweis gestellt: mit Bänden wie »Der Rand von Ostermundigen « oder »Die Rückeroberung«, »Die Torte« und »Der Stein«. Jeder dieser Erzählbände hat stets von neuem die Herzen eines großen Lesepublikums erobert - und dies mit gutem Grund. Denn immer gelingt Franz Hohler etwas ganz Besonderes: Er lässt unsere Wirklichkeit entgleisen und verschafft so der Phantasie den Platz, den sie zweifellos verdient und den wir ihr viel zu selten einzuräumen bereit sind. In dem vorliegenden Band können erstmals sämtliche langen Erzählungen des Autors in der Reihenfolge ihrer ursprünglichen Veröffentlichung gelesen werden: Das ist ein einzigartiges Lesevergnügen, und es bringt uns den Erzähler Franz Hohler näher, als wir ihm je gekommen sind. Das macht diesen Band zu einem imposanten Zeugnis höchster Erzählkunst aus über vierzig Jahren Schweizer Literatur. Mit diesem Band beginnt eine Ausgabe der Werke Franz Hohlers in lockerer zeitlicher Folge.

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über fünfzig Jahren im Luchterhand Literaturverlag.

Der Rand von Ostermundigen


Am Rand von Ostermundigen steht ein Telefon. Daneben sitzt ein Mann, der jedes Mal, wenn es läutet, abnimmt und sagt: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Wenn die Leute fragen, ist dort nicht Rieser oder Maibach, dann sagt er: »Nein, das ist der Rand von Ostermundigen!«, und hängt wieder auf.

Das ist der Anfang der Geschichte ›Der Rand von Ostermundigen‹.

 

Diesen Mann, das muss ich gleich zu Beginn sagen, diesen Mann kennt niemand. Es gab eine Zeit, da hätte ich ihn gerne kennengelernt, und zwar vor allem, damit ich bei Gelegenheit in ein Gespräch hätte einflechten können, ich kenne einen Mann, der jedes Mal, wenn das Telefon läute, abnehme und sage: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Bis vor kurzem hätte das auch die Wirkung gehabt, an der mir gelegen wäre, die Leute hätten gedacht, das ist aber interessant, der kennt einen Mann, der jedes Mal, wenn das Telefon läutet, abnimmt und sagt: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Inzwischen ist aber mit diesem Mann soviel geschehen, dass ich nicht mehr sagen könnte, ich kenne einen Mann, der, sondern ich müsste sagen, ich kenne den Mann, der, und die Leute würden sich auf mich stürzen und fragen, was, den kennen Sie?

Das ist die Fortsetzung der Geschichte ›Der Rand von Ostermundigen‹.

 

Nehmen wir an, Sie telefonieren einem Bekannten in Bern, der Hofmann heißt. Sie stellen seine Nummer ein, 22 10 46, dann kann es sein, dass ein Mann abnimmt und sagt: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Wenn Sie nun fragen, ist dort nicht Hofmann, dann sagt er: »Nein, das ist der Rand von Ostermundigen!«, und hängt wieder auf. Sie hängen auch auf und stellen die Nummer nochmals ein, und dann meldet sich Ihr Bekannter namens Hofmann, und wenn Sie ihn fragen, ob er einen Witz gemacht habe, dann sagt er nein und weiß von nichts.

Ostermundigen liegt bei Bern, es hat dieselbe Vorkennzahl, 031, es ist also möglich, dass Sie falsch gewählt haben und zufällig die Nummer des Mannes eingestellt haben, der jedes Mal, wenn das Telefon läutet, abnimmt und sagt: »Das ist der Rand von Ostermundigen.«

Jetzt kann es aber auch sein, dass Sie einen Bekannten in Chur anrufen wollen, der unter der Nummer 22 28 26 erreichbar ist, und dass dann, wenn Sie diese Nummer eingestellt haben, wieder der Mann abnimmt und sagt: »Das ist der Rand von Ostermundigen« und dass er, wenn Sie fragen, ob Sie mit Herrn Caprez sprechen können, sagt: »Nein, das ist der Rand von Ostermundigen!« und wieder aufhängt. Chur hat die Vorkennzahl 081, Sie müssten sich also von 081 nach 031 verwählt haben, was Sie sich kaum vorstellen können.

Sie haben sich auch nicht verwählt, denn das, was Ihnen passiert, passiert andern auch, und zwar jeden Tag. Irgendwo sitzt ein Mann, der sich in Telefongespräche einschalten kann und hat kein anderes Interesse, als auf den Rand von Ostermundigen hinzuweisen. Ich muss sagen irgendwo, weil man inzwischen in Ostermundigen selbst sämtliche Anschlüsse überprüft hat, von Abbühl bis Zysset, und keine Unregelmäßigkeit feststellte. Hätte man allerdings so etwas wie eine Fehlschaltung gefunden, wäre man damit nicht viel weiter gekommen.

Es ist noch nicht lange her, da war er zum ersten Mal am Radio zu hören; als der König in einer Kinderstunde zum Schweinehirt sagen wollte, ich gebe dir also meine Tochter zur Frau, sagte er statt dessen: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Der Schauspieler, der die Rolle des Königs sprach, hatte diesen Satz nicht selbst gesagt, sondern es war die Stimme des Mannes, der diesen Satz auch am Telefon sagt, es war der Mann am Rand von Ostermundigen.

Die Hoffnung, dies würde ein Einzelfall bleiben, erfüllte sich nicht. Am nächsten Tag wurde eine Aktualitätensendung mit den Worten angesagt: »Sie hören nun unsere aktuelle Sendung: Das ist der Rand von Ostermundigen.« Die Sprecherin erklärte nachher, sie habe gesagt: »Sie hören nun unsere aktuelle Sendung: Die laufende Woche«, aber für den Hörer hatte sich nach dem Wort »Sendung« ein leichter Pfeifton bemerkbar gemacht, auf dem dann die Stimme des Mannes am Rand von Ostermundigen ertönte.

Seither ist kein Tag vergangen, an dem sich der Mann nicht in irgendeine Sendung eingeschaltet hat, öfters gibt er seinen Hinweis während der Nachrichten ab, und der Satz hat dann auch die Eigenheit, dass er sich nicht mehr wegbringen lässt, also wenn sich der Sprecher am Schluss der Nachrichten korrigieren will, kann es sein, dass er sagt: »Wir bitten Sie um Entschuldigung für die kleine Störung, der Präsidentschaftskandidat hat in seiner heutigen Pressekonferenz nicht gesagt, das ist der Rand von Ostermundigen, sondern das ist der Rand von Ostermundigen.«

Natürlich tun die Behörden das möglichste, um diesem Mann auf die Spur zu kommen. So hat man die Bevölkerung gebeten, jedes Auftauchen des Satzes »Das ist der Rand von Ostermundigen« in einem Telefongespräch zu melden, und es hat sich herausgestellt, dass dieser Satz häufiger gesprochen wird, als es einem einzelnen möglich wäre. Gegenwärtig findet die größte Suche statt, an die man sich in diesem Land erinnern kann, Peilgeräte, mit denen man sonst Schwarzhörer ermittelt, werden zusammen mit Polizei und Militär zur Auffindung und Vernichtung dieses Satzes eingesetzt, der sich indessen immer mehr verbreitet.

Neuerdings hat er sich auch des Fernsehens bemächtigt. In einer Diskussion über Wohnbauprobleme wollte gerade ein Vertreter der Bauunternehmer auf die gestiegenen Produktionskosten hinweisen, als es auf dem Bildschirm dunkel wurde und man den Satz hörte: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Seither ist auch keine Fernsehsendung mehr gegen diesen Satz gesichert, nur sind die Aussagen darüber, was man während des Satzes sehe, sehr verschieden.

Einige Leute behaupten, sie sähen, wenn es dunkel werde, ganz schwach das Gesicht eines alten Mannes mit einem Bart, andere glauben während dieser Zeit einen Raubvogel wahrzunehmen, der seinen Kopf ruckartig auf sie zudreht, die Mehrzahl der Leute aber, die den Einbruch des Satzes erleben, machen die Aussage, sie sähen während des Satzes auf dem Bildschirm sich selber.

Noch etwas muss gesagt werden, und zwar zu der angestrengten Suche nach dem Urheber des Satzes. Auch wenn diese Suche, woran ich übrigens zweifle, den Erfolg haben sollte, dass man eines Tages in einer Felshöhle oder einem Keller eine Sendeanlage entdeckt, dann wäre damit der Satz »Das ist der Rand von Ostermundigen« nicht mehr rückgängig zu machen.

Schlagen Sie eine beliebige Tageszeitung auf und lesen Sie sie von vorn bis hinten durch – irgendwo werden Sie den Satz lesen »Das ist der Rand von Ostermundigen«, kleingedruckt neben dem Kremationsdatum in einer Todesanzeige, oder als Legende zum Bild eines Rennfahrers, der eine Etappe gewonnen hat.

Jeder fürchtet sich heute davor, einen Brief zu schreiben, aus Angst, es könnte darin stehen »Das ist der Rand von Ostermundigen«, jeder fürchtet sich heute davor, eine Ansprache zu halten, aus Angst, er könnte sagen »Das ist der Rand von Ostermundigen«, anfangs haben viele diesen Satz zum Spaß gesagt, heute macht niemand mehr einen Witz damit, die Leute haben Angst bekommen zu sprechen, und zwar in jeder Situation, stellen Sie sich vor, ein Metzger zeigt einer Kundin ein Stück Rindfleisch und sagt dazu: »Das ist der Rand von Ostermundigen.«

Wohin das noch führen wird, ist schwer abzusehen. Im Moment scheint sich eine Möglichkeit zu zeigen, wie man diesen Satz zwar nicht ausrotten, aber unter Kontrolle bringen könnte.

Ein Mann aus der Politik, welcher eine Rede halten musste und befürchtete, er könnte vom Satz überrascht werden, versuchte ihn dadurch zu überlisten, dass er die Rede mit den Worten anfing: »Meine Damen und Herren, das ist der Rand von Ostermundigen!« Man hätte nun denken können, dass auch dies nichts nützte, ja dass er dadurch erst recht den Satz nochmals heraufbeschworen hätte, aber dies war nicht der Fall, er konnte ungestört weiterfahren.

Das ist bekannt geworden, und wer sich jetzt gegen den Satz schützen will, kann ihn einfach freiwillig aussprechen und wird dann nicht mehr von ihm betroffen. In diesen Tagen gehen viele zu dieser Methode über, das Radio beginnt seit gestern seine Sendungen mit der Ansage, guten Tag, liebe Hörerinnen und Hörer, das ist der Rand von Ostermundigen, die Zeitungen haben beschlossen, den Satz als Untertitel zu drucken, Lehrer fangen ihre Schulstunden so an, Bekannte, die sich antreffen, begrüßen sich mit diesen Worten, und ich, der ich Geschichten schreibe, habe mir jetzt dadurch geholfen, dass ich eine Geschichte über diesen Satz geschrieben habe.

 

Ich finde aber, das ist auf die Dauer keine Lösung. Es geht doch nicht, dass wir uns mit diesem Satz abfinden, es geht doch nicht, dass wir diesem Satz nicht Meister werden, dass wir uns diesem Satz einfach unterziehen, diesem Satz, der sinnlos ist, diesem Satz, der nur dann angebracht ist, wenn man den Rand von Ostermundigen vor sich sieht, in Wirklichkeit oder auf einem Bild, und selbst wenn man in einer Situation ist, wo dieser Satz hinpasst, dann geht von diesem Rand von Ostermundigen, den ich nicht kenne, nichts aus, es werden ein paar Wohnblöcke sein, eine Wiese, ein Waldrand vielleicht, aber es ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet das von Bedeutung sein soll, und jetzt, gerade jetzt, vernehme ich, dass heute zum ersten Mal die Stimme des Mannes nicht mehr gehört wurde, er braucht sich nicht mehr zu melden, er hat erreicht, was er wollte, jeder kennt den Satz, jeder spricht ihn aus, keiner kann mehr etwas sagen, ohne zugleich an den Rand von Ostermundigen zu denken, und keiner weiß, was damit gemeint...

Erscheint lt. Verlag 25.2.2013
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Erzählungen • Es klopft • Gleis 4 • Schweiz
ISBN-10 3-641-10507-2 / 3641105072
ISBN-13 978-3-641-10507-5 / 9783641105075
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