Um unsere Webseiten für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern, verwenden wir Cookies. Durch Bestätigen des Buttons »Akzeptieren« stimmen Sie der Verwendung zu. Über den Button »Einstellungen« können Sie auswählen, welche Cookies Sie zulassen wollen.

AkzeptierenEinstellungen

Der Kalte (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 2., Originalausgabe
660 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73164-2 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
17,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Österreich in den »Waldheimjahren«: Während der Skandal um den neuen Staatspräsidenten auf den Höhepunkt zutreibt, streift der Spanienveteran und KZ-Überlebende Edmund Fraul ruhelos durch Wien: Dem Lager nie entkommen, bis ins Mark kalt, kann er Gefühle nicht äußern, ja nicht einmal spüren. Bis er auf seinen Wanderungen durch Wien einem ehemaligen KZ-Aufseher begegnet und mit ihm ins Gespräch kommt: über Auschwitz. Robert Schindel führt uns nach Gebürtig erneut in den Wiener Kosmos: in eine Welt politischer, künstlerischer und menschlicher Feindschaften und Zerreißproben, in ein Geflecht von Tragödien und Liebesgeschichten, die so gut glücklich enden können wie tödlich.

Figurenreich, weltstädtisch, kämpferisch ist dieser Roman, sanft und von großer sprachlicher Schönheit - und getragen von der Hoffnung, dass Wärme und Lebendigkeit einer neuen Zeit in die erkalteten Beziehungen von einst zurückkehren.



<p>Robert Schindel, geboren 1944 in Bad Hall bei Linz, ist Lyriker, Autor, Regisseur. Die Zeit des Nationalsozialismus überlebte er als Kind jüdischer Kommunisten in Wien. Er war Wortführer der radikalen Studentenbewegung <i>Kommune Wien</i> und Mitbegründer der Gruppe <i>Hundsblume</i>. 2009 wurde er als Professor an die Wiener Universität für angewandte Kunst berufen. Ausgezeichnet wurde er u.a. mit dem Erich-Fried-Preis (1993), dem Eduard-Mörike-Preis (2000), dem Preis der Stadt Wien für Literatur (2003), dem Jakob-Wassermann-Literaturpreis (2007) und dem Heinrich-Mann-Preis (2014). Werke u.a. <em>Gebürtig. Roman</em> (1992), <em>Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen</em> (2004), <em>Fremd bei mir selbst. Die Gedichte</em> (2004), <em>Mein mausklickendes Saeculum. Gedichte</em> (2008), <em>Man ist viel zu früh jung. Essays und Reden</em> (2011), <em>Der Kalte. Roman</em> (2013).</p>

Erstes Kapitel


(Als ob)


 

1.


Der Sturm wurde heftiger. Das Laub sauste und kreiselte, die Wolken rollten mit Tempo in den Westen, da und dort fielen Ziegel auf die Gehsteige. Der Bettler Ecke Kärntner Straße und Himmelpfortgasse, der als Krüppel vor seinem Hut gesessen war, sprang auf und lief diesem hinterher, den der Sturm zum Stock-im-Eisen-Platz trieb. Auch Edmund Fraul, der eben über die Salztorbrücke ging, wurde der Hut vom Kopf gerissen. Schon schwamm der im Donaukanal und unter der Brücke weg. Fraul, vornübergebeugt, ging weiter, das schlohweiße volle Haar in alle Richtungen.

Er überquerte den Kai. Die grünbärtige Ruprechtskirche sah älter aus, als sie war, bedrückt ließ sie auch diesen Sturm über sich ergehen, der Sand der Baustelle neben ihr wirbelte um sie herum, Fraul bog in die Rotenturmstraße ein. Auf dem Stephansplatz, ohnehin der windigste Platz der Stadt, wurde der Sturm geradezu unerträglich. Rechts in der Brandstätte ließ der Druck etwas nach. Fraul ging rasch und wusste mit einem Mal, dass ihm von den Häusern, an denen er entlangeilte, Unheil drohte. Konnte es sein, dass hinter den Fenstern Leute lauerten, die ihm vierzig Jahre später noch nach dem Leben trachteten? Er schaute rasch links und rechts zu den Scheiben hinauf. Als er in den Tuchlauben eintraf, zerriss der Sturm die Wolken über ihm, sodass die Novembersonne jäh den Straßenzug aufhellte; einen Moment ließ der Sturm ganz nach, dann trieb er Edmund Fraul ins Café Korb.

Damals hob ich den Blick, legte die Zeitung weg, stand auf, um Fraul zu begrüßen. Er gab mir die Hand; ein abschätziges Lächeln, das ich für ein freundliches nahm, und schon ging er seinen Mantel ausziehen und an den Haken hängen. Nachdem er eine Melange bestellt hatte, begannen wir miteinander zu reden. Nach zwei Stunden verabschiedeten wir uns, ich packte meine Notizen zusammen, er winkte mir nochmals zu. Kaum war er bei der Tür draußen, eilte ich ihm nach, denn ich wollte ihm noch in den Rücken schauen, seinen Gang beobachten. Doch neben mir stand bereits der Ober, ich zahlte und verlangte eine Rechnung.

Auf dem Weg zum nächsten Interview sah ich den Alten nochmals. Er verließ ein Hutgeschäft und kam mir entgegen. Bevor er mich hätte bemerken können, blieb er vor einer spiegelnden Auslage stehen und betrachtete den Hut auf seinem Kopf. Ich ging hinter seinem Rücken vorbei, und wir entfernten uns voneinander. Die Kraft des Sturmes schien gebrochen, der Tag wurde noch sonnig und mild.

Fraul schlenderte nach Hause. Inzwischen war es drei Uhr geworden. Gelegentlich blieb er vor den Auslagen stehen. Sein Atem ging ruhig.

Ein höflicher junger Mann, dieser Apolloner, dachte er. Nett. Hat sich informiert, hat mein Auschwitzbuch gelesen, allerhand. Was wird er sein? Dreißig? Was war sein Vater? Hitlerjunge oder schon SA?

Der Bettler Ecke Rotenturmstraße und Fleischmarkt schaute stumpf vor sich hin, als Fraul vorbeiging. Was will der Fechter, dem gehts doch gut. Er unterbrach diesen Gedanken, schaute über die Schulter zu dem Bettler zurück. Ein Kleiderhaufen auf dem Erdboden, aus dem ein zerrupfter Kopf herausgewachsen war. Fraul blieb stehen. Im Umdrehen holte er sein Portemonnaie unterm Mantel aus der Gesäßtasche, entnahm einen Zwanzigschillingschein, ging zurück, bückte sich und legte ihn dem Bettler in den Hut.

»Donge«, flüsterte der, ohne die Kopfhaltung zu verändern. Edmund Fraul setzte seinen Weg fort. Daheim angekommen, nahm er am Küchentisch Platz.

»Kaffee?«, fragte seine Frau.

»Noch nicht, danke.« Er schaute zum Fenster hinaus und auf den wolkenlosen Himmel.

»Wie war das Interview?«, fragte Rosa und machte sich an die Zubereitung ihres Kaffees.

»Wie immer.«

»Wann kommt es?«

»Es wird schon kommen.«

Sie schwiegen. Rosa trank Kaffee. Schließlich stand Fraul auf, ging ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Sie blieb in der Küche sitzen. Es dämmerte, sie machte Licht. Gedanken sind ihr viele durch den Kopf gegangen. Wie zumeist hielt sie sie nicht fest. Als sie seine Schreie vernahm, kam sie rasch ins Schlafzimmer und weckte ihn auf. Er lächelte leise, ging ins Bad und wusch sich sein Gesicht ab.

»Vergiss nicht, Karel kommt heute«, sagte sie ins Bad hinein.

»Hm.«

Edmund blieb heute zu Hause. Sein Sohn würde kommen. Schauspieler hat er werden müssen. Verdient Geld, indem er so tut als ob.

»Wer hat dir den neuen Hut geschenkt, Edmund?«

»Keiner.«

Heute, vierter November fünfundachtzig, hatte Fraul seinen sechsundsechzigsten Geburtstag. Er saß im Wohnzimmer, seine Frau kochte. Während er auf seinen Sohn wartete, las er im Mahnruf, der Zeitung des KZ-Verbandes. Die Todesanzeigen studierend, rief er Namen zur Küche.? 

Rosa rief, wenn sie einen Namen trotz der Küchengeräusche verstand, »ich weiß« zurück.

2.


Karl erschien um sieben. Er übergab dem Vater sein Geschenk, setzte sich zu Tisch und betrachtete Frauls Gesicht, als der das Papier entfernte. Edmund schaute auf den Einband des Buches, ein Schauspielführer, lächelte schwach zu seinem Sohn hinüber, stand auf und legte es auf den Fernsehapparat. Rosa trug den Tafelspitz herein. So saßen die drei beisammen. Nach dem Essen tranken sie Cognac, und der Sohn verabschiedete sich.

Seit dieser Saison war Karl Fraul der angehende Jungstar des Burgtheaters. Er hatte einst das Reinhardtseminar absolviert, wurde hernach von Direktor Schönn ans Haus geholt. Dort ging er gelegentlich auf der Bühne hinten hin und her, indes sich einige Meter vor ihm die großen Szenen ereigneten. Es verdross ihn, von der Astrid von Gehlen bloß stets den Hintern zu sehen und vom alten Bonker, dieser Schauspielerlegende, die rötliche Glatze. Er begann sich in der Kantine entsprechend zu gerieren, betrat sie etwa mit dem Satz: »Herr von Posa, kann auch der Feldkurat sein, folgt mir auf dem Fuß«, verabschiedete sich mit »die Pferderln san gesattelt«. Während er seine Gspritzten trank, hielt er Lobreden auf eine geheimnisvolle, aber mächtige Statistengewerkschaft, die ihm so hohe Gagen erkämpft hatte fürs »Umananderstehn«, zitierte ständig den in Wien ohnehin bekannten Qualtingersketch vom vierten und siebten Zwerg und ging den andern Gauklern auf die Nerven.

»Hören Sie, Fraul«, schnarrte ihn gelegentlich Karl-Heinz Bonker an, »Ehrgeiz ist ja in Ordnung, aber müssen Sie ihn unentwegt auf der Trompete blasen, noch dazu so dicht bei meinen Ohren?«

»Mit vollen Hosen ist leicht stinken«, antwortete ihm Karl unbekümmert, und in der Kantine lachten sie etwas.

»Ach wat«, murrte Bonker ins Gelächter hinein, »ick hab ooch of kleeneren Häusern zu gaukeln begonnen.«

»Mir fehlt wohl die Provinz?«

»Sie sagen es.« Karl Fraul stand auf.

»Der Fraul ist abgereist. Er ist per Zug nach Graz.« Er zahlte, ging und ließ sich, als sei es kein Scherz gewesen, nach Graz engagieren. Er erhielt große Rollen und hatte Erfolg. Also holte ihn Schönn nach zwei Jahren wieder ans Haus zurück.

Nun probte er den Malcolm, unter der Regie von Dietger Schönn selbst. Nun konnte er der Astrid von Gehlen ins Gesicht schauen, sie spielte die Lady Macbeth. Macbeth wurde von Felix Dauendin gegeben, dem großen Star, den sich Schönn ebenso wie Bonker und die Gehlen und noch einige andere aus Deutschland mitgenommen hatte.

Nachdem er den Geburtstagsbesuch hinter sich gebracht hatte, erleichtert, wieder aus dem Haus zu sein, ging er ins Pick Up, stellte sich an die vordere Theke.

Ich sah ihm zu, wie er die Wodkas zwitscherte. Dabei blieb ich als Zuhörerin im Schatten des Lyrikers Paul Hirschfeld, der mir mit heftigen Armbewegungen und mit vom Alkohol aufgerauter Stimme zum dritten Mal erzählte, wie er in Hamburg beim Verlag mit seinen Gedichten angekommen war. Ich kanns diesem nervösen Mittvierziger nachfühlen, an dessen Buchveröffentlichung in Wien keiner mehr glaubte, der es selber nicht fassen kann. Wieder und wieder, als wäre er der einzige Überlebende einer Schlacht, vergegenwärtigte er sich und uns allen dieses Standhalten.

»Eine Standhalterei, Judith«, sagte er, sei es gewesen, durch Jahrzehnte hindurch hätte er standgehalten. Alle Jobs habe er bloß nebenbei gemacht, das Studium nebenbei, von nichts, auch nicht vom Journalismus habe er sich assimilieren lassen. Poesie hätte er gemacht, sie gelebt, sie sei das Wichtigste, wichtiger als die Liebe, das Geld, die Macht, »ach was, ich habe standgehalten, und da bin ich.« Ich nickte ihm freundlich zu, ich wollte als Erste überhaupt knapp vor Erscheinen seines Buches ein Porträt über ihn machen. Er versprachs.

Roman Apolloner kam herein, Hirschfeld trat einen Schritt zurück, und Karl Fraul bekam mich zu sehen. Er löste sich von der Bar und ging zu mir her.

»Weißt du, was du bist, Zischka«, schrie er, »eine Schastrommel bist du!«

»So? Bin ich das?« Eigentlich wollte ich davonlaufen, sofort, denn plötzlich waren Dutzende Männeraugen auf mich gerichtet. Ich hielt mich, weil es gerade da war, am Wort »standhalten« fest, das mich sogleich wie in einem gebröckelten Fußboden an den Knöcheln einklemmte, daweil ich die Wodkaschwaden ins Gesicht getrieben bekam.

»Diese Brunzbuschn«, brüllte Fraul und wandte sich an Apolloner, an Hirschfeld und den Rest der Welt, »hat sich über mich ausgeschissen …«

»Fraul«, unterbrach ihn Apolloner, griff ihm auf die Schulter und tätschelte...

Erscheint lt. Verlag 18.2.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Auschwitz • Belletristische Darstellung • Feindschaften • Heinrich-Mann-Preis 2014 • Johann-Beer-Literaturpreis 2013 • Konzentrationslager • Kulturpreis des Landes Oberösterreich 2009 • Liebe • Mitteleuropa • Österreich • Österreichischer Kunstpreis 2024 • ST 4503 • ST4503 • suhrkamp taschenbuch 4503 • Überlebender • Vergangenheitsbewältigung • Waldheim • Wien
ISBN-10 3-518-73164-5 / 3518731645
ISBN-13 978-3-518-73164-2 / 9783518731642
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Wolf Haas

eBook Download (2025)
Carl Hanser Verlag München
18,99
Roman

von Percival Everett

eBook Download (2024)
Carl Hanser Verlag München
19,99
Roman

von Chimamanda Ngozi Adichie

eBook Download (2025)
S. Fischer Verlag GmbH
19,99