Leben der kleinen Toten (eBook)

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2013 | 1. Auflage
220 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73123-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leben der kleinen Toten -  Pierre Michon
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In »Leben der kleinen Toten« gelingt es Pierre Michon auf wunderbare Weise, Menschen aus kleinen, meist bäuerlichen Verhältnissen zu porträtieren, ohne ihrem Elend auch nur eine Spur von malerischer Idylle anhaften zu lassen. Die Tragik der Schicksale, die so besonders bewegen, rührt daher, daß inmitten dieses Elends plötzlich die Ahnung von einer anderen Welt auftaucht, der Traum vom Reichtum oder vom Wissen - und aus dieser Zerrissenheit zwischen dem Erahnten und dem Gelebten entsteht eine Sehnsucht, die den Menschen, so geringfügig ihre Existenz auch sein mag, Größe verleiht.

<p>Pierre Michon wurde am 28. M&auml;rz 1945 im franz&ouml;sischen D&eacute;partement Creuse (Massif Central), im Dorf Les Cards geboren, wo seine Eltern als Grundschullehrer arbeiteten. Zwei Jahre nach der Geburt des Sohnes verlie&szlig; der Vater die Familie. <br /> Sp&auml;ter studierte Michon in Clermont-Ferrand Literatur. Nach langen Jahren der schriftstellerischen Selbstfindung gelang ihm 1984 mit 37 Jahren der Durchbruch: F&uuml;r <em>Vies minuscules</em> (<em>Leben der kleinen Toten</em>) erhielt er 1984 den &raquo;Prix France Culture&laquo;, dem weitere Preise folgten. Heute gilt Pierre Michon als einer der bedeutendsten franz&ouml;sischen Gegenwartsschriftsteller. <br /> &Uuml;bersetzungen seiner Werke erschienen in Deutschland, Italien, Spanien, den Niederlanden, Griechenland, Rum&auml;nien, den USA, Brasilien, Mexiko und Syrien. Pierre Michon lebt mit Frau und Tochter in Nantes.</p> <p><br /> <!-- NavigationsLinks am unteren Bildrand--></p>

LEBEN DES ANDRÉ DUFOURNEAU


Schreiten wir voran in der Genese meiner Eitelkeiten.

Habe ich unter meinen Vorfahren einen stolzen Kapitän, einen frechen jungen Marineoffizier oder einen grimmig schweigsamen Sklavenhändler vorzuweisen? Im Osten des Suez einen unter dem Korkhelm in die Barbarei zurückgekehrten Onkel, Breeches an den Beinen und Bitterkeit auf den Lippen, eine stereotype Figur, wie sie die jüngeren Sprosse der Familie gerne zu den Ihren zählen, ebenso die Dichter, die Abtrünnigen, all jene in ihre Ehre, ihren Argwohn und ihre Erinnerung verbissenen Entehrten, welche die schwarze Perle der Stammbäume bilden? Irgendeine koloniale oder seemännische Vorgeschichte vielleicht?

Die Provinz, von der ich rede, hat keine Küsten, Strände oder Klippen; kein schwärmerischer Molukke oder hochmütiger Moko* hat hier je den Ruf des Meeres gehört, wenn der Westwind es von weit her holt und, um sein Salz erleichtert, auf die Kastanien schüttet. Und doch sind zwei Männer, die diese Kastanien gekannt, die vor einem Schauer unter ihnen Zuflucht gesucht, die dort vielleicht geliebt und jedenfalls geträumt haben, aufgebrochen, unter ganz anders gearteten Bäumen zu arbeiten und zu leiden, ohne ihre Träume zu stillen, vielleicht noch einmal zu lieben oder einfach zu sterben. Von einem dieser Männer hat man mir erzählt; an den anderen glaube ich mich zu erinnern.

An einem Sommertag des Jahres 1947 trägt mich meine Mutter auf ihrem Arm unter die große Edelkastanie von Les Cards, an jene Stelle, wo man plötzlich den bis dahin von der Mauer des Schweinestalls, von Haselsträuchern und Schatten verdeckten Gemeindeweg münden sieht; das Wetter ist schön, meine Mutter trägt wohl ein leichtes Kleid, ich brabbele; auf dem Weg geht einem Mann, der meiner Mutter fremd ist, sein Schatten voran; er bleibt stehen; er schaut; er ist bewegt; meine Mutter zittert ein wenig, das Ungewöhnliche setzt seine Fermate in die munteren Geräusche des Tages. Schließlich tritt der Mann heran, stellt sich vor. Es ist André Dufourneau.

Später sagte er, er habe geglaubt, in mir, noch genauso infans und schwach, das kleine Mädchen wiederzuerkennen, das meine Mutter war, als er fortging. Dreißig Jahre und der gleiche Baum, welcher derselbe war, und das gleiche Kind, welches ein anderes war.?

Viele Jahre zuvor hatten die Eltern meiner Großmutter darum gebeten, man möge ihnen ein Kind aus der Waisenanstalt anvertrauen, das ihnen bei der Arbeit auf dem Bauernhof helfen sollte, wie es üblich war zu jener Zeit, in der noch nicht der selbstgefällige und durchtriebene Schwindel erdacht war, der unter dem Vorwand, das Kind zu beschützen, den Eltern einen schmeichelhaften Spiegel, ein abgemildertes, von allem Überflüssigen befreites Bild ihrer selbst vorhält; es genügte damals, daß das Kind aß, ein Dach über dem Kopf hatte, sich im Umgang mit den Älteren die wenigen Gesten aneignete, die für das Überleben, aus dem es ein Leben machen würde, nötig waren; was das übrige anging, so nahm man an, daß das zarte Alter Zärtlichkeit ersetzen, Kälte, Mühsal und harte Arbeit lindern würde, eine Arbeit, die versüßt wurde von den Buchweizenfladen, der Schönheit der Abende und der köstlichen Luft.

Man schickte ihnen André Dufourneau. Mir gefällt die Vorstellung, daß er an einem Oktober- oder Dezemberabend ankam, regendurchnäßt oder mit rotgefrorenen Ohren; zum ersten Mal berührten seine Füße den Weg, den sie nie mehr berühren werden; er betrachtete den Baum, den Stall, den Horizont, wie er in dieser Gegend den Himmel ausschneidet, die Tür; er betrachtete die neuen Gesichter unter der Lampe; sie waren überrascht oder gerührt, lächelnd oder gleichgültig; ein Gedanke ging ihm durch den Kopf, den wir nie erfahren werden. Er setzte sich und aß von der Suppe. Er blieb zehn Jahre.

Meine Großmutter, die im Jahr 1910 heiratete, war noch ein Mädchen. Sie gewann das Kind lieb und umgab es mit jener zarten Freundlichkeit, die ich an ihr gekannt habe und mit der sie die gutmütige Brutalität der Männer, die der Junge auf die Felder begleitete, milderte. Er war in keine Schule gegangen und ging nie in eine. Sie lehrte ihn lesen und schreiben. (Ich stelle mir einen Winterabend vor; die Tür der Anrichte knarrt; eine junge Bäuerin im schwarzen Kleid holt ein Heftchen heraus, »Andrés Heft«, dessen Platz auf der obersten Ablage ist, setzt sich neben das Kind, das sich die Hände gewaschen hat. Mitten in dem mundartlichen Gerede veredelt sich eine Stimme, setzt einen Ton höher an, bemüht sich, in reicheren Klangfarben die Sprache der reichen Wörter anzunehmen. Das Kind hört zu, wiederholt zunächst ängstlich, dann mit Wohlgefallen. Es weiß noch nicht, daß die schöne Sprache den Menschen seiner Klasse oder seiner Art, die näher an der Erde geboren und schneller wieder von ihr verschluckt werden, keine Größe verleiht, sondern Sehnsucht und Verlangen nach Größe. Es hört auf, dem Augenblick anzugehören, das Salz der Stunden löst sich auf, und in der Agonie der immer von neuem anbrechenden Vergangenheit erhebt sich die Zukunft und eilt dahin. Der Wind schlägt einen dürren Glyzinienzweig gegen das Fenster; der erschreckte Blick des Kindes irrt über eine Landkarte.) Er war nicht dumm, wahrscheinlich hieß es, er lerne schnell; und auf ein paar vage Indizien hin, als Erklärung für diese bei einem Kind seiner Herkunft unziemlichen Eigenschaften, erdachten meine Vorfahren, die mit dem klaren und verschüchterten Verstand der Bauern von früher die intellektuellen Hierarchien auf die sozialen zurückführten, eine Fiktion, die dem, was sie für die Wahrheit hielten, besser entsprach: aus Dufourneau wurde der uneheliche Sohn eines örtlichen Junkers, und die Welt war wieder in Ordnung.

Niemand kann mehr sagen, ob er über diese imaginäre, dem unerschütterlichen sozialen Realismus der kleinen Leute entsprungene Abstammung unterrichtet wurde. Es ist auch weiter nicht von Bedeutung: wenn ja, schöpfte er Selbstbewußtsein daraus und nahm sich vor, zurückzuerobern, was er nie besessen und worum ihn seine uneheliche Herkunft beraubt hatte; wenn nicht, erfaßte Stolz den kleinen Bauernwaisen, der möglicherweise mit einer gewissen Achtung aufgezogen wurde, jedenfalls ungewöhnliche Zuwendung erfuhr, was ihm um so verdienter erschien, als ihm der Grund für diese Zuwendung verborgen blieb.

Meine Großmutter heiratete; sie war kaum zehn Jahre älter als der Junge, und vielleicht litt der Heranwachsende bereits darunter. Doch mein Großvater, das kann ich sagen, war jovial, gastlich, großzügig und von mäßigem Arbeitswillen; das Kind, glaube ich von meiner Großmutter gehört zu haben, war liebenswert. Gewiß mochten die beiden jungen Männer einander, der fröhliche Gewinner des Augenblicks mit dem gelben Schnurrbart und der andere, der Bartlose, Schweigsame, heimlich Berufene, der darauf wartete, daß seine Stunde schlüge; zwei Auserwählte, der eine auserwählt von der Frau, die er ungeduldig begehrte, der andere von einem Schicksal, das über die Frau hinausreichte und das er krampfhaft-gefaßt ersehnte; ein Scherzender, und einer, der darauf wartete, daß ihm das Leben das Scherzen erlaubte; der Mann der Erde und der Mann des Eisens*, ungeachtet ihrer beider Kraft. Ich sehe sie auf die Jagd gehen; ihr Atem tanzt eine Weile, bevor er vom Dunst geschluckt wird, ihre Silhouetten verwischen sich vor dem Waldsaum; ich höre sie aufrecht im Frühlingsmorgengrauen ihre Sensen wetzen, dann laufen sie, und das Gras legt sich nieder, und der Geruch wird stärker, je weiter der Tag voranschreitet, mit der Sonne verschärft er sich; ich weiß, daß sie innehalten, wenn es Mittag ist. Ich kenne die Bäume, unter denen sie essen und reden, ich höre ihre Stimmen, aber ich verstehe sie nicht.

Dann wurde ein kleines Mädchen geboren, der Krieg kam, mein Großvater ging weg. Vier Jahre vergingen, in denen Dufourneau vollends zum Mann wurde; er nahm das kleine Mädchen auf den Arm; er lief, Élise mitzuteilen, daß der Briefträger in den Weg zum Hof eingebogen sei, um einen der Briefe zu bringen, die Félix pünktlich und fleißig schrieb; am Abend unter der Lampe dachte er an die fernen Provinzen, wo das Schlachtgetöse Dörfer dem Erdboden gleichmachte und mit ruhmreichen Namen versah, wo es Sieger gab und Besiegte, Generäle und Soldaten, tote Pferde und unbezwingliche Städte. 1918 kehrte Félix mit deutschen Waffen, einer Meerschaumpfeife, einigen Falten und einem reicheren Wortschatz wieder zurück. Dufourneau hatte kaum Zeit, seinen Erzählungen zu lauschen: Er wurde zum Militärdienst einberufen.

Er sah eine Stadt; er sah die Fesseln der Offiziersfrauen, wenn sie in die Kutsche stiegen; er hörte junge Männer, die mit ihren Schnurrbärten das Ohr schöner, ganz aus Lachen und Seide gemachter Geschöpfe streiften: Sie sprachen die Sprache, die ihm Élise beigebracht hatte, aber sie schien ihm fremd im Mund dieser Einheimischen, die mit ihren Schleichwegen, ihren Echos, ihren Tücken vertraut waren. Er erfuhr, daß er ein Bauer war. Nie werden wir wissen, wie er litt, unter welchen Umständen er sich lächerlich machte, welchen Namen die Wirtschaft trug, in der er sich betrank.

Er wollte lernen, soweit seine militärischen Obliegenheiten es ihm erlaubten, und es scheint, als sei ihm das gelungen, denn er war ein guter Junge, fähig, sagte meine Großmutter. Lehrbücher der Arithmetik, der Geographie fielen ihm in die Hände; er verwahrte sie in seinem Gepäck, das nach Tabak und nach Armut roch; er schlug sie auf und erlebte die Not dessen, der nicht versteht, die Auflehnung, die sich über das Nicht-Verstehen hinwegsetzt, und am Ende eines düsteren alchimistischen Prozesses den...

Erscheint lt. Verlag 18.2.2013
Übersetzer Anne Weber
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Vies minuscules
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Alltag • Bibliothek Suhrkamp 1475 • BS 1475 • BS1475 • Frankreich • Gegenwartsliteratur • Pierre Michon • Porträts • Sehnsucht • Tote • Tragik
ISBN-10 3-518-73123-8 / 3518731238
ISBN-13 978-3-518-73123-9 / 9783518731239
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