Ginster (eBook)

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2013 | 1. Auflage
345 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73088-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ginster -  Siegfried Kracauer
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Ein »Drückeberger« als Held: Ginster ist 25, als der Erste Weltkrieg ausbricht, ein begabter Frankfurter Architekt. Der patriotischen Begeisterung seiner Zeitgenossen steht er skeptisch gegenüber, und so verwendet er einige Mühe darauf, sich immer wieder vom Kriegsdienst zurückstellen zu lassen - das Vaterland braucht seine Architekten schließlich nicht an der Front, sondern zu Hause, wo etwa Granatfabriken und Ehrenfriedhöfe für die gefallenen Soldaten zu planen sind.
Doch dann ereilt auch Ginster der Gestellungsbefehl. Weit weg von den Schlachtfeldern lernt er, mit militärischer Präzision ein Bett zu bauen, zu schießen und »gegen die Feinde Kartoffeln zu schälen«. Und es festigt sich in ihm die Überzeugung, dass all diese Übungen nicht dem Krieg dienen, sondern der ganze Krieg ein Vorwand für die Übungen ist.
Im Frankfurt des Ersten Weltkriegs spielt dieser Roman, der den literarischen Ruhm seines Autors begründete. Es ist das faszinierende Porträt eines Mannes, dessen Haltung zur Welt und ihren Widersprüchen oft mit Chaplin und Keaton verglichen worden ist.



<p>Siegfried Kracauer, geboren am 8. Februar 1889 in Frankfurt am Main, war Architekt, Soziologe, Filmkritiker und Geschichtsphilosoph. Er gilt als einer der bedeutendsten Feuilletonisten der Weimarer Republik und leitete von 1930 bis 1933 die Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Zeitung. Mit <em>Die Angestellten</em> ver&ouml;ffentlichte Kracauer 1930 die erste empirisch-soziologische Studie in Deutschland. Er wird dar&uuml;ber hinaus zu den Begr&uuml;ndern der Filmsoziologe gez&auml;hlt. 1933 floh Kracauer mit seiner Frau nach Paris und 1941, nach Kriegsbeginn, nach New York. Am 26. November 1966 starb er dort an einer Lungenentz&uuml;ndung. Zu den wichtigsten Werken Kracauers z&auml;hlen neben <em>Die Angestellten</em> u.a. die <em>Theorie des Films</em>, die Essaysammlung <em>Von Caligari zu Hitler</em> und der Roman <em>Ginster</em>.</p>

I


Als der Krieg ausbrach, befand sich Ginster, ein fünfundzwanzigjähriger junger Mann, in der Landeshauptstadt M. Er hatte hier nach bestandenem Doktorexamen vor einer Woche eine Stellung angetreten. Der Doktor wäre überflüssig gewesen, aber Ginster liebte die mit einem Examen verbundene Spannung und wollte im Bewußtsein, den Titel rechtlich erworben zu haben, später gleichsam inkognito ohne ihn leben. Die Stadt M. war Ginster zu einer Art von Gewohnheit geworden, über vier Jahre hatte er in ihr zugebracht. Eigentlich hieß er gar nicht Ginster, der Name war ihm aus der Schule geblieben.

Auf dem Hauptplatz stauten sich die Massen, es war heiß, blauer Himmel. Alle warteten, Ginster wußte nicht worauf, er hatte ins Freie fahren wollen, weniger der Natur wegen, als um in ihr gewesen zu sein, wenn er abends im Café saß. Der trägen Hitze mochte am ehesten das Café in der Vorstadt entsprechen. Vor Jahresfrist, als Ginster es zum erstenmal aufgesucht hatte, war er vom Kellner aus einer Sofaecke mit der Bemerkung vertrieben worden, daß hier der Schachklub tage. Seit jener Zeit bevorzugte Ginster das Café, ohne den Schachklub je anzutreffen. Es befriedigte Ginster, daß der Kellner einem Klub die Treue hielt, der niemals kam.

Die Masse stand reglos auf dem Platz. Der helle Nachmittag lud dazu ein, auf ihren Köpfen spazieren zu gehen, die wie Asphalt glühten. Ginster wurde durch die Vorstellung erschreckt, daß das Kopfpflaster plötzlich auseinanderbrechen könnte. Tränen liefen ihm über die Backen. Große Massenaufgebote zwangen ihn so zum Weinen wie Kinostücke und Romane, an deren Ende zwei junge Menschen sich miteinander verbanden. Auch Menschenansammlungen schienen ihm eine Bürgschaft des Glücks. Einmal war es in der länglichen Gestalt des Zeppelin am Horizont aufgetaucht, und über den allgemeinen Jubel hatte er schluchzen müssen. Bei Tragödien brachte er es nicht zu einer einzigen Träne.

Ein Tosen begann, das Pflaster zerfloß, Telegrammtexte liefen um. Ginster bewunderte die Technik, alles teilt sich heute so schnell mit. Der Krieg war erklärt worden, die Gesichter trieften vor Schweiß. Hochs wurden ausgebracht; es trommelte. In der Nachmittagssonne leuchteten die Kirchenfassade, eine Hauswand und ein grünes Dach. Die Gleichgültigkeit der Menschen gegen das Licht ermüdete Ginster. Bald freuen sie sich über das schöne Wetter, bald sind sie mit anderen Dingen beschäftigt.

Von Kriegen hatte Ginster nur in der Schule gehört. Sie lagen weit zurück und waren mit Jahreszahlen versehen. Mehr als für Schlachten und Friedensschlüsse interessierte er sich für geistige Strömungen ohne Datum und das Volksleben. In der Mathematik fesselte ihn der Unendlichkeitsbegriff, was fangen die Asymptoten im Unendlichen an. Aber die Lehrer bestanden auf Kriegen. Unser oberster Kriegsherr – aus den Schulbüchern schlug das Wort in die Hitze und dröhnte über den Platz. Ginster war betäubt, der Lehrer erhob sich vor ihm. Ich verstehe nichts von Kriegen, schrie er in seiner Ohnmacht den Lehrer an, lassen Sie mich doch fort. Als er vor Jahren sich in Berlin aufgehalten hatte, war er abends oft auf den Bahnhof Friedrichstraße gegangen, immer zu einer bestimmten Stunde, wenn die großen Schnellzüge nach dem Osten abfuhren. Berlin-Myslowitz stand auf den Schildern geschrieben. Kleine graue Männer und Weiber mit Tuchballen besetzten die Holzbänke, die Lichter in den Wagen brannten trüb. Myslowitz gab es nicht. Mochte Ginster noch so traurig gewesen sein – wenn der Zug entschwand, wußte er sich geborgen, schlenderte über die Friedrichstraße und las dann die Zeitung. Statt des abscheulichen Zuges stand einmal ein blitzblanker weißer in der Halle. Die kleinen Leute waren von den Bahnsteigen weggefegt. In dem erleuchteten Mittelwagen tafelte, von Militärs umgeben, ein Mann in Galauniform. Er lachte und hob das Glas, eine glänzende Luftspiegelung, die sich lang im Dunkel erhielt. Ginster selbst fuhr immer dritter Klasse. Die Galauniform im weißen Zug machte jetzt Krieg.

In dem Menschenstrom wurde Ginster mitgeschleift. Herren mit dicken Schlipsen, Studenten und Arbeiter sprachen sich an. Unsere Armeen, sagten sie. Wir sind überfallen worden, wir werden es den andern schon zeigen. Sie waren auf einmal ein Volk. Ginster dachte an Wilhelm Tell, das Wir wollte ihm nicht über die Lippen. Die Sonne war weg, eine Frau trug eilig ihr Kind. Der Junge schrie. Dicke Schlipse konnte Ginster nicht leiden, der Krawattennadeln wegen, die in ihnen steckten, und wegen der Schädel über den Krawatten. Bei einem Barbier hatte er beobachtet, wie ein Schädel rasiert wurde, ganz glatt, eine Billardkugel. Das war jetzt alles ein Volk. Ginster hatte niemals Völker kennengelernt, immer nur Leute, einzelne Menschen. Als Student war er in der Schweiz allein auf einen Gletscherberg gestiegen, hinter einer Führerpartie her, weil er mit den Spalten nicht Bescheid wußte. Da ihn die Besitzer des Führers fühlen ließen, daß es unschicklich sei, Fußstapfen zu benutzen, die er nicht bezahlt hatte, überholte er sie kurz vor dem Gipfel. Zwei Herren oben, die ihn ohne Begleitung ankommen sahen, huldigten auf französisch seiner Kühnheit. Sie stammten aus Marseille; echte Franzosen. Später schickten sie ihm eine unleserliche Ansichtskarte mit dem Blick auf den Marseiller Alten Hafen. Zu jener Zeit hatte sich Ginster viel mit Hochtouren abgegeben; der Fels fühlte sich schön kalt an, und war man unten im Tal, so machte der schlappe Gang mit dem Eispickel auf die Bevölkerung Eindruck. Durch die unaufhörliche Anwendung von Fachausdrücken war ihm schließlich das Klettern verleidet worden. In seiner Klasse war auch ein Engländer gewesen, ein langer Kerl, der ihm bei der Examensarbeit englische Vokabeln unbemerkt auf einem Zettelchen übermittelt hatte. Der Engländer war nun ausgelöscht.

Ginster bewohnte in M. ein Studentenzimmer. In dem Stockwerk waren außer ihm ein Eisenbahnassessor, eine Schneiderin und ein Student eingemietet. Das Gesicht des Assessors, das aus Scheitel und Schnurrbartspitzen bestand, sah wie eine begabte Kinderzeichnung aus. Im Frühling mischten sich abends die Lieder aus dem Wirtsgarten unten mit dem Duft der Kastanienbäume vor dem Fenster. Die Zusammenstellung war Ginster so zuwider, daß er schon oft hatte ausziehen wollen – am liebsten in ein Hotel. Aber die Furcht, beim Zimmersuchen in Trübsinn zu verfallen, das erst seit kurzem angebrachte bunte Glasdach am Hauseingang und vor allem die Wirtin hielten ihn stets zurück. Die Wirtin hieß Ulla. Sie setzte sich aus drei übereinander angeordneten Kugeln zusammen, die sich in einen Kegel einbeschreiben ließen. Der Kopf, die kleinste Kugel, hatte die Röte einer Tomate, und lachte die Frau, so beschrieb ihre Schürze über dem Bauch die Bewegungen einer Schiffsschaukel. Wenn Ginster nichts mit sich anzufangen wußte, stellte er sich auf die Straße und beobachtete, wie die Figur von ihren Einkäufen oder dem Gespräch mit einer Nachbarin herangerollt kam. Sie war statisch unmöglich, der Kegel mußte nach vorne überkippen. Ihr Mann Pankraz, ein Herrschaftskutscher, hatte die Dürre einer Stecknadel, die bei den häufigen Streitszenen immer wieder zerbrach. War sie entzwei gegangen, so stemmte Ulla die Hände um die Mittelkugel und drehte sich wie ein Kreisel.

»Es ist Krieg«, sagte Ginster nach der Heimkehr zu ihr.

»Der Assessor hat gestern nacht ein Frauenzimmer mitgehabt, mir macht er nichts weis, zwei Gläser habe ich besorgen müssen und feine Sachen vom Delikatessengeschäft. In dem Geschäft ist auch nicht alles sauber, das gibt noch eine schöne Geschichte. Wenn er meint, sich alles herausnehmen zu dürfen, der Herr Assessor, ist er im Irrtum. Aber schick hat er ausgesehen in seinem neuen Anzug, und geschimpft hat er, weil ich erst so spät vom Schneider gekommen bin. Vorhin war er zu Hause, er freut sich, hat er gesagt, morgen muß er einrücken, die Uniform hätten Sie sehen sollen, die er ausgepackt hat, funkelnagelneu, nichts kann ihm schnell genug gehen, er ist doch Reserveoffizier, die Leute werden nichts zu lachen haben, aber bei der Eisenbahn ist’s nicht so schlimm. Ulla, hat er gesagt, richten Sie die Montur fix her und halten Sie mir das Zimmer frei, bis ich wieder im Land bin, der Krieg wird nicht lang dauern, es ist einmal eine Abwechslung, das viele Sitzen war ich schon über. Ein Dreimarkstück hat er mir gegeben, nobel ist er, der Herr Assessor, das Saumensch darf mir nicht mehr über die Schwelle …«

»Ich bleibe heute abend zu Hause.«

»Sie werden auch in den Krieg müssen, da gibt’s nichts. Vorgestern ist der Student ausgezogen, der Russe, Ausländer nehme ich nicht mehr. Tote wird’s geben, hat der Assessor gesagt. Vielleicht werden auch die Mieten teurer. Mein Mann fährt einen General, ein Trottel ist er. Glauben Sie, ich hätte kein Kind haben können? Das ganze Geld wird versoffen. Ulla, Sie sind eine brave Frau, hat der Assessor gesagt. Seien Sie vorsichtig mit dem Trinken, die Brunnen sind vergiftet, heißt’s überall. Der Student war sicher ein Spion … Ich gehe ja schon.«

Ginster sah zum Fenster hinaus, die Straße war leer, nichts verändert. Er dachte, daß er kein Auftreten habe. Der Assessor trat auf. Man dürfe Untergebene nicht vertraulich grüßen, hatte ihm ein Bekannter gesagt. Wenn der Bekannte in eine Bank oder ein Verwaltungsgebäude kam, ging er einfach am Portier vorbei und wurde sofort vom Generaldirektor empfangen. Niemals würde er, Ginster, zum Generaldirektor gelangen. Sollte er noch in die Stadt? Die großen Ferien hatten begonnen, alle Menschen waren verreist. Ginster betrachtete den Schreibtisch mit den paar Büchern darauf. Der Schreibtisch, der Seitengeländer hatte, wurde...

Erscheint lt. Verlag 18.2.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1914-1918 • Belletristische Darstellung • Frankfurt am Main • Frankfurt liest ein Buch • Soldat • Verweigerung • Weltkrieg
ISBN-10 3-518-73088-6 / 3518730886
ISBN-13 978-3-518-73088-1 / 9783518730881
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