Kleine Schritte (eBook)
198 Seiten
Otto Müller Verlag
978-3-7013-6180-9 (ISBN)
Walter Müller, Jahrgang 1950, lebt als freier Schriftsteller in Salzburg. Er hat bislang Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke, Hörspiele und Kinderlieder veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Förderpreis, dem Literaturförderpreis des Kulturfonds der Stadt Salzburg und dem Georg-Trakl-Arbeitsstipendium. Von 1990 bis 1997 war er Rauriser Stadtschreiber.Im Frühjahr 2003 erschien im Argon Verlag der Roman 'Die Häuser meines Vaters'.
Walter Müller, Jahrgang 1950, lebt als freier Schriftsteller in Salzburg. Er hat bislang Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke, Hörspiele und Kinderlieder veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Förderpreis, dem Literaturförderpreis des Kulturfonds der Stadt Salzburg und dem Georg-Trakl-Arbeitsstipendium. Von 1990 bis 1997 war er Rauriser Stadtschreiber.Im Frühjahr 2003 erschien im Argon Verlag der Roman "Die Häuser meines Vaters".
Helge Rosvaenge hat das Preislied aus den „Meistersingern“ vorgetragen, Jamila Ksirova vom Admiralspalast das Vilja-Lied. Der 2. Franz liegt noch immer auf der Küchenbank, den Fuß auf der Tischplatte. Wenn der Dietl redet, soll ihn die Marie aufwecken. Sie will ihm ein Kissen unter den Kopf schieben, aber das braucht er nicht. Einer, der im Lastwagen schläft, dem genügt eine Holzbank beim Küchentisch, auch am Sonntag.
„Ist doch immer der gleiche Schmus“, sagt die Kammerlander Anni, um die Grete zu trösten, und hakt sich bei ihr unter. „Ich grüße meinen Schatz, der gerade in Norwegen im Kampfeinsatz steht. Lieber Lois, dein Baby ist vor einer Woche zur Welt gekommen. Ein Bub. Wir nennen ihn Loisi. Er hat deine Augen. Und deine hässliche Nase! Ich küsse dich vieltausendmal auf den Schwanz, mein Held… blablabla… und dann singt die fette Leander!“
Die Grete reißt sich von der Anni los. „Weiß du überhaupt, was du da redest?!“ Aber da hat die Kammerlander Anni schon ihren Arm um Gretes Hüften gelegt und sagt, mit kleiner Stimme: „Mir sind drei liebe Menschen in diesem Krieg abhanden gekommen, keine Affären, liebe Menschen. Zwei irgendwo verreckt, einer irgendwo verschollen. Ich schreib Briefe und krieg keine Antworten. Vielleicht lieg ich übermorgen auch schon draußen auf dem Kommunalfriedhof, im Hochzeitskleid von der Mutter, mit einer weißen Lilie in den Händen. Ist mir ziemlich egal. Solange ich lebe, möchte ich leben. Verstehst du das, meine Süße?“
„Nein“, flüstert Grete Schöner, „aber ich hab dich sehr, sehr lieb!“
So spazieren sie, dicke Freundinnen, zurück zum „Gabler“, schleichen auf Zehenspitzen, ohne dass jemand sie entdeckt, in den Gastraum, hocken sich an den freien Tisch im Eck, wo’s zu den Toiletten geht. Und jetzt singt Rosita Serrano „How do you do“.
„Englischen Scheiß singt die!“, ruft einer im Halbdunkel des Lokals. Die Anni setzt zu einer Gegenrede an, aber die Grete hält ihr den Mund zu.
„Ich find’s hübsch“, ruft ein anderer.
„Warum singt sie nicht ‚Roter Mohn‘?“, fragt die Grete die Anni, „oder ‚Küss mich, bitte, bitte, küss mich‘?“
„Du unverbesserliche Romantikerin!“, flüstert die Kammerlander Anni der Grete Schöner zu und beißt ihr unvermutet ins Ohrläppchen.
„Eine Chilenin, die Englisch singt! Ist das ein deutsches Wunschkonzert oder nicht?“
Im „Gabler“ entsteht Unruhe.
„Das ist doch eine Parodie auf die Engländer!“, schreit einer, „kapiert ihr Trotteln das nicht?! How do you do! Die reinste Gesichtsmuskelverrenkung! Genau das kommt heraus, wenn man in diesem Scheiß-England vegetieren muss!“
„Das Lied stammt aus einem Theaterstück, ihr Banausen! ‚Salzburger Nockerl’.“
„Außerdem singt sie ja nicht nur Englisch, sondern auch Französisch…“
„Noch besser! Scheiß-Franzosen!“
„…und vor allem Deutsch, sperrt eure Ohren auf!“ „Scheiß bleibt Scheiß!“
Gelächter. „Ruhe“-Rufe. Der Chef vom „Gabler“ schreit: „Halt’s die Gosch’n! Sonst schalt ich ganz ab!“ Aber da ist das Lied ohnehin zu Ende, und aus dem Volksempfänger, aus dem Haus des Rundfunks in Berlin, dringt Höflichkeitsapplaus.
„Jetzt kommt gleich der Dietl“, ruft einer und bestellt bei der Kellnerin ein Bier. Allgemeines Bestellen. Als der Oberkellner an den Tisch beim Toiletteneck kommt und die Anni und die Grete entdeckt, bleibt er stehen, ganz ruhig, ein paar Sekunden lang, als müsste er nachdenken. Rausschmeißen! Aber er sagt: „Und für die Damen?“
„Zwei Wermuth! Und ein Bier für Sie!“, ruft die Anni und funkelt mit den Augen wie die fette Leander.
„Franz, aufwachen!“
Die Marie muss Ihren Liebsten so fest schütteln, dass ihm der Fuß vom Tisch rutscht und der Franz dabei fast von der Küchenbank fällt. „Der Dietl spricht!“
Die Hella hat dem Werner grad einen Briefbogen in die Hand gedrückt, aber der legt ihn, ohne hinzuschauen, weg und sagt: „Gleich! Jetzt spricht der Dietl!“
„General Dietl, der Held von Narvik“, so wird er angekündigt. Und dann dankt er via Radio der Heimat und dem deutschen Rundfunk, dem Mittler zwischen Front und Heimat. „Ich als Kämpfer aus dem äußersten Norden“, sagt er ins Mikrophon, „darf Ihnen die Versicherung geben: der Rundfunk hat stets die Seele der Front mit der Seele der Heimat verbunden! Diese innere Verbundenheit, dieses innere Band, ist das Geheimnis des Sieges!“
In Berlin wird frenetisch applaudiert, im „Gabler“ in Salzburg mindestens genauso. Nur die Kammerlander Anni ist unmöglich wie immer. „Mein inneres Band sagt mir, ich muss aufs Klo!“
Man geht über kleine rostige Stahlblechscheiben. Draußen brennt die Sonne vom Himmel, und ich gehe über kleine rostige Stahlblechscheiben, die wie Gesichter ausschauen, Augen, Nase, Mund, grob ausgefräst, wie Diskusscheiben für Kinderhände. Tausende übereinander. Shalechet, gefallenes Laub. Es klirrt und scheppert, wenn man über die Stahlblech-Gesichter im Jüdischen Museum geht. Man tritt in Gesichter. Man geht wie besoffen. Wenn man nicht aufpasst, verknackst man sich die Knöchel.
„Mit dem Werner“, meint der 2. Franz, „muss ich in die Berge, auch wenn es schneit. Der muss den Wind spüren! Und die Gefahr lieben lernen! Ein Gebirgsjäger scheißt sich nicht in die Hosen! Der Werner krepiert ja schon im Winterlager, wenn er sich die Schier anschnallen muss!“
Die Marie sagt gar nichts. Gar nichts sagen ist das Beste, wenn der Franz in Rage kommt.
„Was soll der in Kufstein, in der Kaserne! Oder gar an der Front?! Man müsste seinen Vater vor ein Kriegsgericht stellen. Verweichlichung von vorn bis hinten!“
Die Marie sagt noch immer nichts, so sehr sie ihren Werner liebt. Natürlich ist ihm der 1. Franz, der Vater, kein Vorbild gewesen. Der hat sich immer gleich aus dem Staub gemacht, hat in die Sterne geschaut und nicht in die Aufmarschpläne. Jetzt hat der Werner das davon! Gut, dass es den 2. Franz gibt. Denkt die Marie. Hoffentlich geht alles gut. Es muss einfach alles gut gehen.
„Wir Frontsoldaten werden bis zum Endsieg kämpfen“, sagt der Dietl, „bis das Glück des deutschen Volkes und der deutschen Nation sichergestellt sind!“ Riesenapplaus! Jetzt singt der Chor der Heeresunteroffiziersschule „… denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engelland, Engelland, a-hoi!“ Frenetischer Jubel. „Heil!“-Rufe. Im Volksempfänger, im „Gabler“. Dann die Absage: „Das war also das 50. Wehrmachts-Wunschkonzert, direkt übertragen aus dem Haus des deutschen Rundfunks in Berlin…“
„Ein Brief?“, fragt Werner Schöner, „für mich?“, und will seiner Hella einen Kuss auf die Lippen drücken, aber sie dreht den Kopf zu Seite und sagt, so traurig, wie der Werner sie, die Hella, den Sonnenschein vom „Volksblatt“, noch nie reden gehört hat: „für die Mutter.“
„Von wem ist der Brief?“
Auf der Rückseite, in der letzten Zeile, steht ein Datum: 20. 11. 1940 und ein Name, aber den kann er nicht entziffern. „Oberleutnant“ liest er und „Kompanieführer“ und „Dienststelle 24010 C“, Schreibmaschinenschrift, Blaupause, dritter Durchschlag mindestens.
Hellas Mutter hat einen Brief geschrieben, an diese Dienststelle, und zwar am 7. 11. 1940. Vor fast einem Monat, denkt Werner. Und jetzt antwortet also ein Kompanieführer. Aber er antwortet nicht wirklich, er stellt Fragen.
„Ich mach uns was zu trinken“, sagt die Hella und geht in die Küche. Dass sie sich Tränen aus den Augen gewischt hat, sieht Werner Schöner nicht, er konzentriert sich ganz auf dieses Buchstabenmeer auf dem Briefblatt, das reinste Wirrwarr. Das „a“ könnte auch ein „o“ sein, manche Buchstaben muss man erraten. Mit einer simplen Nähnadel kann man den Tintendreck aus den Buchstaben kratzen, denkt Werner Schöner. Oder mit der Stahlbürste.
„…nun muss ich Sie, liebe, tapfere Frau Sachs, noch einmal mit einer Bitte belästigen. Das Oberkommando der Wehrmacht, Wehrmachtsauskunftsstelle, benötigt für die von dort zu veranlassenden Nachforschungen einige Angaben, die wohl am besten nur von Ihnen selbst gemacht werden können. Ich darf Sie daher bitten, mir nachstehend aufgeführte Fragepunkte, Ihren Mann, den Obergefreiten Gustav Sachs betreffend, zu beantworten.
Genaue Größe: …
Gestalt: …
Farbe und Wuchs des Kopfhaares: …
Zähne (Zahnlücken, Zahnersatz, Goldzähne): …
Besondere Kennzeichen an Knochen, natürliche oder durch Operation oder Unfälle usw. eingetretene Knochen- und Wirbelverbildungen oder Verkrümmungen (auch an Fingern und Zehen): …
Muttermale, Narben, Tätowierungen: …
Beschreibung und Kennzeichnung der Uhr,...
Erscheint lt. Verlag | 7.12.2012 |
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Verlagsort | Salzburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Biografie • Müller • Mutter • Tagebuch • Weltkrieg • Weltkrieg; Mutter; Tagebuch; Müller; Biografie; |
ISBN-10 | 3-7013-6180-0 / 3701361800 |
ISBN-13 | 978-3-7013-6180-9 / 9783701361809 |
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