Stadt Land Fluß (eBook)
224 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-10649-2 (ISBN)
Ausgezeichnet mit dem aspekte-Literaturpreis.
Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand die ersten beiden Teile einer an Wolfgang Koeppen angelehnten Trilogie: 'Der Sandkasten' (2022) und 'Krähen im Park' (2023).
Nach wie vor liegt der Brief mit dem Befund ungeöffnet da. Ich wandere im Zimmer auf und ab. Drehe Runden um den Eßtisch, gebe mir Mühe, den Brief nicht zu sehen. Ein Esel am Wasserrad, stumpf und unermüdlich. Die Mechanik ächzt, der Brunnen ist leer, Trockenzeit. Ich halte an, stampfe auf, so fest, daß den alten Leuten in der Wohnung unter mir der Putz in die Kaffeetassen rieselt. Und weiter. Bewegung löst Verkrampfungen aller Art. Peripathetik für Stubenhocker. Ein anderes Spiel: Ich versuche, wie als Kind auf den Pflastermustern der Bürgersteige, einen bestimmten Schrittrhythmus einzuhalten. Jetzt ist die Problemstellung anspruchsvoller: Wie nähert man sich innerhalb eines Quadratrasters dem Kreis an? Alternierende Springerzüge – etwas Besseres fällt mir nicht ein. Schräg links, waagerecht, schräg rechts, senkrecht. Mehrfach verknoten sich meine Beine. Das einfarbige Parkett macht die Sache nicht leichter. Durch einen falschen Zug gerate ich in eine Spiralbewegung, drifte nach innen, die Schwerkraft des Zentrums saugt mich unwiderstehlich an, ich zerschelle an der Tischkante. Neuer Versuch. Ich markiere den Ausgangspunkt mit einem Flußkiesel. Vorsichtig, als ginge es ums Ganze, setze ich die ersten Schritte. Allmählich begreifen meine Füße das Gesetz, schaffen die erste Runde. Bald läuft es flüssiger, ich rotiere taumelnd um mich selbst, folge meinem vorgegebenen Kurs, schlingernd, wie ein Planet, der nach einer gewaltigen Kollision noch eben seine Umlaufbahn hält. Dann ein erneuter Fehltritt (mit Absicht, wegen des schrecklichen Endes). Ich verlasse das Gravitationsfeld der Sonne, die Zentrifugalkräfte schleudern mich in die endlosen Weiten des Universums, ich pralle gegen den Schrank.
Es ist gleich vier Uhr, und ich habe heute nichts zustande gebracht. Zum fünften Mal durchsuche ich sämtliche Ablagen nach dem Postkartensatz von Douwermans Xantener Marienretabel, den Astrid mir geschickt hat. Die Karten müssen ganz neu sein, bei meinem letzten Besuch vor acht Monaten lag noch das Schwarzweißphoto von 1970 aus. Den Domherren ist es wider Erwarten nach fünfundzwanzig Jahren gelungen, brauchbare Aufnahmen, insbesondere von der Wurzel-Jesse-Predella, in Druck zu geben.
Im Moment halte ich es am Schreibtisch nicht aus. Unfähig, mich zu konzentrieren, flüchtig, gasförmig. Geist in Diffusion. Alle möglichen Teilchen fliegen in alle möglichen Richtungen, bis der ganze Raum schwächlich nach etwas Undefinierbarem riecht. Um Viertel nach neun der erste Blick in den Briefkasten. Solange er leer ist, halbstündliche Nachkontrolle bis elf. Später kommt die Post nie. Das Telephon funktioniert seit zwei Tagen nicht mehr. Fluchtwege: Für eine Tageszeitung zum Kiosk laufen (hin und zurück gut dreißig Minuten plus fünf Minuten Blättern), sie könnte eine wichtige Nachricht enthalten. Trotzdem Ruhe bewahren. Ein doppelter Cognac, damit das Hirn weich wird. Oder Hemden waschen. Oder Kaffee aufsetzen, den ich dann vergesse. Zwischendrin halbherzige Versuche, zu denken, eine Verbindungslinie zu ziehen, wobei ich keine Ahnung habe, was eigentlich verbunden werden soll. Wahlloses Blättern in den Bildbänden auf der Suche nach etwas Unbekanntem, Übersehenem. Bibliotheks-Paläontologie. Kubikmeterweise Papier umgraben, um das Missing link zu finden, wenigstens ein Fingerglied, einen kleinen Zeh. Oder umgekehrt: Plötzlich taucht eine Perspektivkonstruktion auf (Uccelo? Brunelleschi?), vor Jahren achtlos in der hintersten Gedächtnisreihe abgelegt, ohne Registriernummer, kurz vor dem endgültigen Verblassen. Ich bin sicher, daß sie die Lücke schließen wird, daß sich völlig unerwartete Bezüge herstellen lassen, die ganze italienische Renaissance in neuem Licht. Aber wo ist die Abbildung? Fünftausend Buchrücken lächeln desinteressiert wie die Sphingen von Karnak. In den Kisten mit Postkarten und Photos mache ich seit langem nur noch Zufallsfunde, abgesehen davon, daß ich sie in irgendeinem geliehenen Band gesehen haben könnte, der längst wieder in seinem angestammten Bibliotheksregal verstaubt. Aber von Minute zu Minute bin ich fester überzeugt, daß ich ohne dieses Blatt keinen Millimeter vorankomme, daß meine ganze Arbeit in sich zusammenfällt, unhaltbar ist, wertlos. Natürlich finde ich nichts, bin aber so bis vier, halb fünf beschäftigt, dann kann ich guten Gewissens Feierabend machen. Wie viele Karren Abraum hat Leakey weggekippt, Abend für Abend, ehe ihm eines Tages unter der sengenden Zenitsonne Kenias sein Turkana-Knabe grinsend in die Hand biß. Ausdauer und Geduld und Beharrlichkeit. Morgen wieder.
Ich stelle den Fernseher an, schalte meine sieben Programme durch, Börsendaten, Serengetilöwen, Puppenspiel. Ein Gespräch mit Strafgefangenen: Die Mauern bleiben – Leben nach dem Knast. Davon will ich nichts hören.
Ich schaue durch die verdreckten nikotingelben Wollgardinen auf die Straßenbahnhaltestelle. Mittwochs kam Hanna immer früher aus der Praxis. Vielleicht steigt sie aus, wie sie all die Jahre ausgestiegen ist, sieht zum Fenster hoch, lacht und winkt, wenn sie mich hinter der Gardine erkennt, den Hausschlüssel schon in der Hand. Drückt den Knopf an der Fußgängerampel, obwohl weit und breit kein Wagen zu sehen ist, wartet stur auf Grün. – Dann bin ich schnell in die Küche gegangen, habe den Herd eingeschaltet für Bratkartoffeln, Schnitzel (Hanna liebte Kalbsschnitzel in allen Variationen), Gemüse oder Nudelwasser, und meist blieb noch Zeit, ihr die Tür aufzumachen.
Ich koche gern. Aber jetzt beschränkt sich meine Karte auf gebratene Eier mit Speck, Bananenpfannkuchen und Salbei-Spaghetti. Eine Zeitlang habe ich jeden Tag einen Aufwand getrieben, wie meine Mutter an Weihnachten nicht. Kochbücher studiert, Rezepte verglichen, synoptische Fassungen von Klassikern wie Coq au vin oder Carré d’agneau entwickelt, den halben Morgen Zutaten ausgesucht, mit Fischhändlern gestritten, Metzger zur Weißglut gebracht.
Hanna hat bei Tisch fast immer geredet, oft so ausdauernd, daß sie gar keine Pause zum Essen fand. Alles wurde kalt, schmeckte dann nicht mehr, zumindest war ich überzeugt, daß es nicht mehr schmecken konnte, und gekränkt, weil sie gar nicht merkte, was sie sich da in Fünfminutenabständen zwischen die Zähne schob: daß mein Lammrücken genau auf den Punkt gebraten war, die Sauce wunderbar ausgewogen, die Böhnchen knackig mit einer Spur Knoblauch. Nicht, daß sie schwatzhaft gewesen wäre, jedenfalls nicht im üblichen Sinn. Hanna mußte reden, um Ordnung in ihren Kopf zu bekommen. Ohne Punkt und Komma, ausufernd, angespannt. Ihr Schädel lief ständig über, weil sie nicht in der Lage war, Belanglosigkeiten sofort zu vergessen, auf Abstand zu halten. Vieles erzählte sie drei-, viermal. Die Geschichten irrten wie Ratten in einem Labyrinth durch ihre Hirnwindungen, blieben stecken, kehrten um, wiederholten sich, bis sie endlich ihre Koje entdeckt hatten, Heu und Weizenkörner. Alles schien gleich wichtig und völlig unsortiert, weshalb Hanna sich beim Erzählen immer strikt an die Chronologie hielt. Auf das Nacheinander der Ereignisse war Verlaß, Streichungen konnte man später vornehmen. Erlebnisse mit Patienten, Gebißbefunde, Stolz auf eine besonders gelungene Brücke, Ärger mit dem Labor, weil der Abguß mißlungen war und sie dem hilflosen Opfer zum zweiten Mal das Maul mit dieser gallebitteren Silikonpaste stopfen mußte; die peinlichen Auftritte des Pharmavertreters, der ihr heute Blutungsstiller mit Orangengeschmack, beim nächsten Mal Zahnpolitur auf Bienenwachsbasis aufschwatzen wollte, und regelmäßig Frontberichte vom Kleinkrieg zwischen Frau Almeroth, die schon für Hannas Vater Amalgam gemixt und Speichel gesaugt hat, und Lise, einem siebzehnjährigen Aussiedlermädchen, das Hanna eingestellt hatte und mit einiger Mühe zur Sprechstundenhilfe ausbildete. Etwas abseits Frau Jung, vergeblich um Neutralität bemüht. Lise war tolpatschig, fahrig, überempfindlich, planlos. Sobald ihre Hände nichts zu tun hatten, verschwand sie in Tagträumen. Aber wir mochten sie. Ihr blasses ungeschminktes Gesicht – Lises Vater hielt Make-up für die unmittelbare Vorstufe der Unzucht –, ihren seltsam provinziellen, fast bäuerlichen Charme, den sie ohne Berechnung einsetzte, sinnlich, verspielt und auf altmodische Art rein; ihre ungläubige Freude über Lob oder ein Kompliment.
Lise ist erst vor fünf oder sechs Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, aus einem hauptsächlich von Deutschstämmigen bewohnten Dorf in der kasachischen Steppe, wo man an den protestantischen Gott und die ferne Heimat glaubte, an das Land der Väter, das gelobte Land. Dort wären die Menschen fromm und fleißig und von Gott deshalb mit den Gütern der Welt reich gesegnet, wohingegen einen hier als aufrechte, aber verschwindende Minderheit die gerechte Abstrafung der russischen Heiden schuldlos mit ins Elend riß. Am Ende ihrer Kindheit, als Lise ihren Platz in der Welt kannte, gelernt hatte, wie man Kartoffeln pflanzt, Hühner rupft, Suppe kocht, die schönen Lieder Ein feste Burg ist unser Gott und He-ho spann den Wagen an, wurde sie in einem wackeligen, aus den Nähten platzenden Überlandbus einige hundert Kilometer nach Baikonur verfrachtet, in eine Sojus-Rakete gesetzt und nach Alpha germani ’90 geschossen. Dort war alles anders.
Ich habe mich immer wieder gewundert, wieviel Hanna über ihre Patienten wußte, wenn sie es denn wußte und nicht bloß schloß. Was kann einer schon groß erzählen, während vier Hände in seinem Mund arbeiten. »Du liest Gebisse wie römische Auguren Hühnerlebern«, habe ich einmal zu ihr gesagt, da war sie für den Rest des Tages beleidigt. Sie speicherte jede Kleinigkeit und rekonstruierte aus Dutzenden von Details ganze Genealogien. Manchmal durchforstete sie den halben...
Erscheint lt. Verlag | 30.1.2013 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abhängigkeit • Abwesenheit • Alltag • aspekte-Literaturpreis • Banalitäten • eBooks • Humor • Liebe • Liebesromane • lustig • lustige • Paar • Roman • Romane • Selbstbetrug |
ISBN-10 | 3-641-10649-4 / 3641106494 |
ISBN-13 | 978-3-641-10649-2 / 9783641106492 |
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