Bewusstlos (eBook)
528 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-08813-2 (ISBN)
Als Raffael erwacht, sind sein Bett und seine Sachen voller Blut. Er gerät in Panik, denn ihm fehlt jegliche Erinnerung an die vergangene Nacht. Es gelingt ihm nicht herauszufinden, was passiert ist, aber wenn er getrunken hat, weiß er nicht mehr, was er tut. Mordet vielleicht, ohne es zu wissen.
Von seinen Eltern, die in der Toskana leben, fühlt er sich verraten und verlassen. Die beiden führen ein glückliches Leben und ahnen nicht, dass er in ihrer Nähe ist und sie längst im Visier hat ...
Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und schrieb außerdem erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u.a. Das Haus am Watt, Der Mörder und sein Kind, Stich ins Herz und mehrere Folgen für die Reihen Tatort und Polizeiruf 110). Ihr Debütroman »Der Kindersammler« war ein sensationeller Erfolg, und auch all ihre weiteren Thriller standen auf der Bestsellerliste.
1
Florenz, 15. Dezember 2011
»Er kam im Sommer. Völlig überraschend. Aber er war kein Mensch, er war ein Ungeheuer.«
»Inwiefern?«
Christine atmet tief durch und überlegt. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Das macht nichts. Ich habe Zeit. Und nur deswegen bin ich nach Florenz gekommen. Um Ihre Geschichte zu hören.«
»Also gut.«
Dr. Manfred Corsini ist ein vom Gericht bestellter psychiatrischer Gutachter. Er lebt und arbeitet normalerweise in Bozen, hat einen italienischen Vater und eine deutsche Mutter und ist zweisprachig aufgewachsen. Christine kann sich zwar auf Italienisch ganz gut verständigen, aber für die anstehenden schwierigen Gespräche und für die Gerichtsverhandlung reichen ihre Sprachkenntnisse nicht aus.
»Erzählen Sie mir von Ihren Kindern, Ihrem Mann, Ihrem Leben in Deutschland und in Italien.«
Christine braucht lange, bis sie anfängt zu reden. Dann sagt sie leise: »Ich hatte die schönsten Kinder der Welt. Raffael und Svenja. Glauben Sie mir, sie waren einfach perfekt. Wir wohnten damals oben im Norden, in Nordfriesland, gleich hinterm Deich.« Sie lächelt. »Das war toll für die Kinder. Sie konnten endlos draußen toben und Fahrrad fahren. Wir hatten ein Haus in einem kleinen Ort, in Tetenbüll, das war wie Bullerbü. Bis zu diesem schrecklichen Tag hab ich da verdammt gern gewohnt. Kindergarten und Grundschule waren direkt im Ort, meine Mutter wohnte auch in der Nähe und passte oft auf die Zwillinge auf. Ich arbeitete als Lehrerin ungefähr fünfzehn Kilometer entfernt in Tönning, und Karl war Dozent an der Hamburger Uni. Da musste er zwar ziemlich viel hin- und herfahren, aber das hat ihn nicht gestört. Es war alles prima. Wirklich. Heute ist mir das klar, damals nicht so. Wie glücklich man war, merkt man immer erst hinterher.
Und Zwillinge sind ja ein Geschenk. Die beiden waren den ganzen Tag zusammen, haben miteinander gespielt und sogar eng umschlungen geschlafen. Einer konnte ohne den andern nicht sein. Es war unglaublich. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mal rumquengelten oder sich langweilten … nein, nie. Es war ja nie einer allein. Das war eine so starke Symbiose, das kann man sich gar nicht vorstellen.
Aber ich fand es großartig. Es tat einfach irrsinnig gut zu sehen, dass meine beiden Kleinen rund um die Uhr richtig vergnügt und zufrieden waren.«
Sie schluckt und braucht eine Pause von einigen Sekunden, dann redet sie weiter.
»Passiert ist es am 24. April 1992.«
»Wie alt waren die Zwillinge da?«
»Sieben. Sie gingen in die erste Klasse.«
»Erzählen Sie mir möglichst genau von diesem Tag. Versuchen Sie sich zu erinnern. So detailliert wie möglich.«
»Es ist jetzt fast zwanzig Jahre her, aber der Tag ist mir für immer ins Gedächtnis eingebrannt. Was glauben Sie, wie oft ich ihn Minute für Minute durchgegangen bin, ob ich irgendetwas hätte anders machen können! Aber mir ist nichts eingefallen.«
»So müssen Sie sich wenigstens keine Vorwürfe machen.«
Christine funkelt Dr. Corsini wütend an. »Vielleicht. Aber diese Machtlosigkeit halt ich nicht aus. Manchmal denke ich, es wäre einfacher, wenn irgendjemand Schuld hätte. Dann könnte ich wenigstens hassen und müsste nicht das Schicksal verfluchen, dem es wahrscheinlich scheißegal ist, ob es verflucht wird oder nicht.«
»Wahrscheinlich.« Dr. Corsini bleibt ganz ruhig. »Was passierte denn nun an diesem Tag im April?«
»Es war ein Freitag. Und es war schon ziemlich warm. Das weiß ich noch. Für norddeutsche Verhältnisse eigentlich ungewöhnlich warm. Und wie immer waren die Zwillinge bereits in aller Herrgottsfrühe wach.
Seit sechs Uhr morgens hockten sie vor unserem Bett und hypnotisierten aus zehn Zentimetern Entfernung unsere Gesichter. Dabei atmeten sie wie hechelnde Hunde und warteten auf die kleinste Regung, ein Wimpernzucken, um dann in unser Bett zu springen.
An diesem Morgen hatte ich wohl irgendwie ein Viertelauge geöffnet – jedenfalls stürzten sie sich sofort auf uns. Karl spielte den Ohnmächtigen. Und es ist schwer, sich nicht zu rühren, wenn die Kleinen an deiner Unterlippe herumzuppeln, am Ohr ziehen und die Füße kitzeln. Aber er war da stoisch und hat erst kapituliert, als sie ihm ihre kleinen Finger in die Nase steckten.
Wir haben eine Viertelstunde getobt, dann sprang Karl auf und ging ins Bad. Ich bin noch eine Weile liegen geblieben und hab den beiden die Rücken gekrault. Sie schnurrten wie kleine Katzen. Und ich schnupperte an ihren Nacken. Der Babygeruch war fast weg, aber noch nicht ganz.
Als sie Säuglinge waren, hab ich oft gedacht: Sie riechen wie Gummiente mit Honig.
Für mich war es der schönste Geruch der Welt.
Nach dem Frühstück hab ich sie dann in die Schule gebracht. Wie jeden Morgen. Das lag für mich auf dem Weg. Ich ließ sie aussteigen, sie rannten auf den Schulhof, und ich fuhr weiter.
Auch an diesem Morgen war alles ganz normal. Im Wegfahren hab ich noch Irmgard gesehen, aber hab ihr nur kurz zugenickt. Sie wusste, dass ich es immer eilig hatte, weil ich um Viertel vor acht in Tönning sein musste. Irmgard wohnte auch in unserer Siedlung und hatte einen Sohn, Fiete, der war acht. Mit ihm haben die Zwillinge oft gespielt.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass an diesem Tag irgendetwas anders war als sonst. Es war alles okay. Total in Ordnung. Warum konnte es nicht einfach so bleiben, verdammte Scheiße?«
Christines Stimme ist hoch und schrill, und ihr Gesicht ist unnatürlich rot.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragt der Psychiater beruhigend.
»Ja. Ein Wasser.«
Dr. Corsini steht auf, holt eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank des Besuchsraumes und schenkt ihr ein.
»Danke.« Sie trinkt hastig, dann redet sie weiter.
»Ich hatte an diesem Mittwoch sechs Stunden Unterricht und bin mittags gleich nach der Schule nach Hamburg gefahren. Karl und ich waren zum Abendessen eingeladen, ich wollte bei der Gelegenheit in der Stadt noch ein paar Einkäufe erledigen und zum Frisör gehen.
Meine Mutter hatte versprochen, die Zwillinge von der Schule abzuholen und ihnen Mittagessen zu kochen. Es war alles geregelt, auf meine Mutter konnte ich mich hundertprozentig verlassen.
Aber trotzdem. Es hört sich merkwürdig an, und vielleicht glauben Sie mir das jetzt nicht, aber als ich so gegen fünf Uhr beim Frisör saß, hatte ich plötzlich ein ganz blödes Gefühl. So eine diffuse Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmte.
Kennen Sie das? Da kommt einem ein Gedanke in den Kopf, und dann durchzuckt es den ganzen Körper. Es ist kein schlimmer, aber ein unangenehmer Schmerz. Ein Angststich.
Und diese Stiche hatte ich. Mehrmals hintereinander, aber ich wusste nicht, warum.
Ich ließ meine Haare färben und hatte das Mittel noch auf dem Kopf, darum konnte ich nicht sofort telefonieren. Erst als ich fertig war, hab ich zu Hause angerufen. Meine Mutter ging auch sofort ran und sagte, dass alles okay sei. Die Zwillinge seien drüben bei Irmgard und spielten mit Fiete.
Gott sei Dank sind sie zu zweit, dachte ich, einer passt auf den anderen auf. Niemals passiert zwei Kindern gleichzeitig etwas.
Ich hab mich daraufhin ein bisschen entspannt. Schließlich war nichts ungewöhnlich oder beunruhigend. Die Zwillinge waren gesund und spielten mit Fiete. Was sollte schon sein?
Nach dem Frisör zog ich los, um für die beiden noch eine Winzigkeit zu kaufen. ›Hast du uns was mitgebracht?‹ war nämlich immer die erste Frage, wenn Karl und ich mal einen Tag nicht zu Hause gewesen waren.
Und wenn es irgendwie möglich war, hatte ich auch wirklich immer eine Kleinigkeit dabei.
Ich hab ihnen zwei Überraschungseier gekauft. Die liebten sie über alles. Sie hatten schon eine ganze Sammlung von kleinen Schlumpffiguren und tauschten untereinander. Das war das Einzige, bei dem jeder seinen eigenen Besitz heftig verteidigte. Alles andere teilten sie ja miteinander, es gehörte immer beiden zugleich.
Aber diese beiden Überraschungseier haben sie nie bekommen.«
Christine weint. Dr. Corsini wartet geduldig. Erst nach ein paar Minuten kann sie weitersprechen.
»Der Dekan von Karls Fachbereich hatte uns an dem Abend eingeladen. Aber ich habe vergessen, wie er hieß. Der Name fing irgendwie mit ›K‹ an und hörte mit ›i‹ auf. Ich komm einfach nicht mehr drauf. Ist ja auch unwichtig, glaub ich.
Jedenfalls waren wir um sieben Uhr da, die Frau des Dekans begrüßte uns richtig herzlich, dann gab es einen Aperitif, und wir redeten über dies und das. Worüber, weiß ich nicht mehr.
Der Dekan war ein freundlicher Mann kurz vor der Pensionierung, der einfach nur beklatscht werden wollte. Darum lud er sich Gäste ein, und seine arme Frau musste stundenlang kochen. Jedenfalls belohnte er die, die bei dieser simplen Inszenierung mitspielten, manchmal mit...
Erscheint lt. Verlag | 14.1.2013 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Alkohol • Berlin • eBooks • Familiengeheimnis • Kindheitstrauma • Psychothriller • Psychothriller, Berlin, Kindheitstrauma, Trauma, Familiengeheimnis, Toskana, Siena, Alkohol, Zwillinge • Siena • Thriller • Toskana • Trauma • Zwillinge |
ISBN-10 | 3-641-08813-5 / 3641088135 |
ISBN-13 | 978-3-641-08813-2 / 9783641088132 |
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