Der Leuchtturmwärter (eBook)
480 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-0348-2 (ISBN)
Camilla Läckberg, Jahrgang 1974, stammt aus Fjällbacka. Sie hat weltweit über 40 Millionen Krimis und Thriller verkauft und ist Schwedens erfolgreichste Autorin. Mit ihrem Unternehmen »Invest In Her« fördert sie Projekte junger Frauen. Camilla Läckberg lebt mit ihrer Familie in Stockholm.
Camilla Läckberg, Jahrgang 1974, ist verheiratet und hat drei Kinder. Sie stammt aus Fjällbacka – der kleine Ort ist Schauplatz ihrer Bücher. Ihre Kriminalromane erscheinen in über dreißig Ländern. Camilla Läckberg lebt in Stockholm.
Fjällbacka 1870
Emelie fürchtete um ihr Leben. Noch nie hatte sie das Meer mit eigenen Augen gesehen, und nun saß sie in dieser Nussschale. Krampfhaft klammerte sie sich mit den Fingern an die Reling. Sie hatte das Gefühl, von den Wellen hin- und hergeschleudert zu werden und keine Kontrolle mehr über ihren Körper zu haben. Sie suchte Karls Blick, doch er hielt den Blick fest auf das gerichtet, was sie in der Ferne erwartete.
Die Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Es war sicher nur das dumme Gerede einer abergläubischen alten Frau, aber sie hatten sich ihr trotzdem eingeprägt. Als sie das kleine Segelboot unten im Hafen von Fjällbacka beluden, hatte die Alte gefragt, wo sie hinwollten.
»Nach Gråskär«, hatte sie freudestrahlend geantwortet. »Mein Mann ist dort der neue Leuchtturmwärter.«
Die Frau hatte sich davon jedoch nicht beeindrucken lassen. Stattdessen hatte sie die Nase gerümpft und mit einem etwas eigenartigen Kichern gesagt:
»Gråskär? So, so. Hier in der Gegend nennt die Insel niemand so.«
»Ach.« Emelie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie lieber nicht nachfragen sollte, doch dann hatte ihre Neugier die Oberhand gewonnen. »Wie nennt man die Insel denn hier?«
Zunächst gab die Frau keine Antwort. Schließlich senkte sie die Stimme.
»Hier bei uns wird sie die Geisterinsel genannt.«
»Geisterinsel?« Emelies nervöses Lachen war an diesem frühen Morgen weithin zu hören. »Wie seltsam. Warum denn das?«
Mit einem Glitzern in den Augen antwortete die Frau. »Weil es heißt, dass wer dort stirbt, die Insel nie wieder verlässt.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ließ Emelie, in deren Bauch es nun nicht mehr vor Vorfreude kribbelte, sondern sich ein merkwürdiger Klumpen zusammenballte, allein zwischen Taschen und Koffern zurück.
Und nun hatte sie das Gefühl, sie könnte jeden Moment dem Tod ins Auge sehen. Das Meer war so groß und ungezähmt und schien eine regelrechte Sogwirkung auf sie zu haben. Sie konnte nicht schwimmen, und falls eine dieser Wellen, die ihr so groß vorkamen, obwohl Karl sie nur als leichte Dünung bezeichnete, das Boot umkippte, würde sie in die Tiefe gezogen. Davon war sie fest überzeugt. Sie klammerte sich noch fester an die Reling und starrte auf den Fußboden oder das Deck, so sagte Karl, wurde der Boden hier genannt.
»Dort drüben sieht man Gråskär.«
Karls Stimme ließ sie den Kopf heben. Emelie holte tief Luft und warf einen Blick in die Richtung, in die er zeigte. Als Erstes fiel ihr auf, wie schön die Insel war. Sie war zwar klein, doch das Haus glänzte im Sonnenschein, und die Klippen glitzerten. Auf der einen Seite des Hauses sah sie Stockrosen. Verwundert fragte sie sich, wie diese in der rauen Umgebung gedeihen konnten. Nach Westen hin wirkte die Insel wie abgehackt, aber an den drei anderen Seiten fielen die Felsen sanft zum Wasser hin ab.
Auf einmal erschienen ihr die Wellen gar nicht mehr so wild. Sie sehnte sich noch immer nach festem Boden unter den Füßen, aber Gråskär hatte sie bereits verzaubert. Was die alte Frau über die Geisterinsel gesagt hatte, verbannte sie in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins. Etwas so Schönes konnte nichts Böses verbergen.
Heute Nacht hatte sie sie gehört. Das gleiche Flüstern, die gleichen Stimmen wie in ihrer Kindheit. Als sie aufwachte, war es drei Uhr. Zuerst wusste sie gar nicht, was sie geweckt hatte. Dann hörte sie sie. Sie redeten dort unten miteinander. Worüber sprachen die Toten? Über Dinge, die vor ihrem Tod geschehen waren, oder über Dinge, die sich heute, viele Jahre später abspielten?
Annie hatte ihre Anwesenheit auf der Insel gespürt, seit sie denken konnte. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sie schon als Baby manchmal plötzlich lachte und mit den Armen ruderte, als hätte sie etwas gesehen, was außer ihr niemand sehen konnte. Als sie größer wurde, nahm sie sie immer bewusster wahr. Leise Stimmen, Gestalten, die vorüberhuschten, das Gefühl, dass sich noch jemand im Raum befand. Sie wollten ihr nichts tun. Das hatte sie schon damals gewusst, und das war ihr auch jetzt klar. Lange Zeit lag sie wach und lauschte den Stimmen, bis sie schließlich sanft von ihnen in den Schlaf gewiegt wurde.
Im Morgengrauen erinnerte sie sich an das Geräusch nur noch wie an einen entschwindenden Traum. Sie machte für sich und Sam Frühstück, doch er mochte nicht einmal seine Lieblingscornflakes essen.
»Bitte, mein Liebling. Nur einen Löffel. Einen ganz kleinen?« Sie umschmeichelte ihn, konnte ihn aber zu keinem einzigen Bissen überreden. Seufzend legte sie den Löffel weg. »Du musst doch etwas essen.« Sie strich ihm über die Wange.
Seit dem Vorfall hatte er kein Wort mehr gesagt, aber Annie ließ ihren Sorgen keinen Raum. Sie musste ihm Zeit geben und durfte ihn nicht unter Druck setzen. Während die Erinnerungen von einer schützenden Hülle umschlossen und durch neue Erlebnisse ersetzt wurden, musste sie nur für ihn da sein. Es gab nichts Besseres, als hier draußen auf Gråskär zu sein, nah bei den Klippen, nah bei Sonne und Salzwasser und weit weg von allem anderen.
»Weißt du was, wir pfeifen auf das Frühstück und gehen stattdessen baden.« Als sie keine Antwort bekam, packte sie ihn einfach und schleppte ihn hinaus in die Sonne. Zärtlich und behutsam zog sie ihn aus und trug ihn bis ans Wasser, als wäre er erst ein Jahr alt und nicht der große Junge von fünf Jahren. Das Wasser war nicht besonders warm, aber er protestierte nicht, als sie mit ihm ins Wasser glitt und sich dabei schützend seinen Kopf an die Brust drückte. Das war die beste Medizin. Sie würden hierbleiben, bis sich der Sturm gelegt hatte. Bis alles wieder normal war.
»Mit dir habe ich nicht vor Montagmorgen gerechnet.« Annika schob sich ihre Bildschirmbrille bis zur Nasenspitze hinunter und musterte Patrik. Er stand an der Tür zu ihrem Zimmer, das auch als Rezeption diente.
»Erica hat mich gefahren. Sie behauptet, sie könne den Anblick meiner hässlichen Visage nicht mehr ertragen.« Er versuchte, sich ein Lächeln abzuringen, aber da ihm der gestrige Tag noch in den Knochen steckte, reichte es nicht bis zu den Augen.
»Ich habe vollstes Verständnis für deine Frau«, erwiderte Annika, doch in ihrem Blick lag die gleiche Wehmut wie in Patriks. Der Tod eines Kindes ließ niemanden kalt, und seit Annika und ihr Mann Lennart wussten, dass sie bald ihre langersehnte Adoptivtochter in China abholen durften, reagierte sie noch sensibler, wenn es um Kinder ging, denen etwas Schlimmes zustieß.
»Ist irgendetwas los?«
»Das würde ich nicht sagen. Das Übliche eben. Tantchen Strömberg hat zum dritten Mal diese Woche angerufen, weil ihr Schwiegersohn sie angeblich umbringen will. Und ein paar Jugendliche, die bei Hedemyrs beim Klauen erwischt wurden.«
»Mit anderen Worten, ein Haufen Arbeit.«
»Genau, und deswegen ist das wichtigste Gesprächsthema momentan, dass wir eine Einladung in dieses neue Lokal im Badis bekommen haben und all die wunderbaren Dinge ausprobieren dürfen, die dort angeboten werden.«
»Klingt nicht verkehrt. Ich würde mich durchaus opfern und hingehen.«
»Es ist jedenfalls toll, dass das Badis wieder so schön geworden ist«, sagte Annika. »Das Haus sah ja aus, als würde es jeden Augenblick einstürzen.«
»Ja, das ist super. Aber ich bezweifle, dass es sich rechnen wird. Die Sanierung muss doch wahnsinnig teuer gewesen sein, aber kommen die Leute wirklich hierher, um ins Spa zu gehen?«
»Wenn nicht, kriegt Erling mächtigen Ärger. Eine Freundin von mir arbeitet bei der Gemeinde, und sie sagt, dass sie einen Großteil des Gesamtbudgets für das Projekt ausgegeben haben.«
»Das kann ich mir vorstellen. Dieses Einweihungsfest ist auch schon in aller Munde. Soweit ich weiß, wird es ebenfalls nicht ganz billig.«
»Falls du es nicht mitbekommen hast, die ganze Dienststelle ist eingeladen. Da müssen wir uns richtig in Schale werfen.«
»Sind die anderen unterwegs?« Patrik wechselte das Thema. Er war nur mäßig daran interessiert, sich schick anzuziehen und exklusive Feste zu besuchen.
»Ja, alle außer Mellberg. Er sitzt wohl wie üblich in seinem Zimmer. Hier ist schließlich alles beim Alten geblieben, obwohl er darauf beharrt, dass er nur deshalb so früh wiedergekommen ist, weil es in der Dienststelle ohne ihn drunter und drüber geht. Soweit ich von Paula weiß, mussten sie dringend eine andere Lösung finden, damit Leo sich nicht frühzeitig zu einem Sumoringer entwickelt. Als Rita einmal früher nach Hause kam, hat Bertil gerade ein ganzes Hamburgermenü für Leo mit dem Mixer zerkleinert. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Sie ist schnurstracks zurück zur Arbeit gegangen und hat darum gebeten, einige Monate nur halbtags arbeiten zu müssen.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Doch, so wahr mir Gott helfe. Und deshalb dürfen wir uns jetzt den ganzen Tag mit ihm herumschlagen. Wenigstens Ernst ist froh darüber. Mellberg hat ihn hier in der Dienststelle gelassen, während er sich um Leo gekümmert hat, und der Hund ist vor Sehnsucht schier vergangen. Er lag nur in seinem Körbchen und hat gewinselt.«
»In gewisser Hinsicht ist es ja auch schön, dass alles so wie immer ist«, sagte Patrik. Er ging zu seinem Zimmer...
Erscheint lt. Verlag | 4.1.2013 |
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Reihe/Serie | Ein Falck-Hedström-Krimi |
Ein Falck-Hedström-Krimi | |
Übersetzer | Katrin Frey |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Engelmacherin • Erica Falck • Familie • Familienchaos • Fjällbacka • Kajsa Ingemarsson • Kinder • Krimi • Kriminalroman • Mörder • Patchworkfamilie • Patrik Hedström • Schweden • Skandinavien • Tana French |
ISBN-10 | 3-8437-0348-5 / 3843703485 |
ISBN-13 | 978-3-8437-0348-2 / 9783843703482 |
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