Die wilden Hunde von Pompeii (eBook)
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02531-8 (ISBN)
Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen, schrieb Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Tagebücher und Opernlibretti. Er veröffentlicht zudem Beiträge und Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften und verfasst Musikaufzeichnungen und Hörspiele. Zwei seiner Romane wurden bereits verfilmt. Für seinen Roman «Melodien» wurde er mit dem Tukan-Preis der Stadt München ausgezeichnet. Helmut Krausser ist verheiratet und lebt in Rom und Potsdam.
Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen, schrieb Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Tagebücher und Opernlibretti. Er veröffentlicht zudem Beiträge und Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften und verfasst Musikaufzeichnungen und Hörspiele. Zwei seiner Romane wurden bereits verfilmt. Für seinen Roman «Melodien» wurde er mit dem Tukan-Preis der Stadt München ausgezeichnet. Helmut Krausser ist verheiratet und lebt in Rom und Potsdam.
I
Pompeii ist eine Hundekippe. Regelmäßig werden unwillkommene Welpen aus umliegenden Dörfern und Städten über die Zäune Pompeiis in eine ungewisse Zukunft geworfen. Man muß dankbar darum sein. Früher wären im rauhen Neapel unwillkommene Welpen ohne viel Aufhebens erschlagen oder im nächsten Teich ertränkt worden.
Pompeii genießt den Ruf, die meisten seiner Hunde zu ernähren. So ungefähr stimmt das. Jene Welpen, die den Wurf über den zirka zwei Meter hohen Zaun überleben, längst nicht alle – finden sich im Museum einer von Staub und Asche konservierten Stadt wieder, die vor zweitausend Jahren luxuriös, lärmig und voll Leben war. Aus der ganzen Welt kommen Touristen, um sich auf Zeitreise zu begeben. Um sich in der Betrachtung der Ruinen einen Begriff von der damaligen Zeit zu machen und von der Zeit allgemein. Viele Besucher begreifen erst in Pompeii, wie wenig Zeit jedem einzelnen zusteht.
Menschen werden schnell melancholisch auf diesem Areal, werden infolgedessen sonderbar freigebig, suchen Halt. Etwas treibt sie, was an Leben rundherum vorhanden ist, zu kraulen und zu füttern.
Genau davon leben die herrenlosen Hunde Pompeiis. Meist gar nicht schlecht. Einige liegen herum, geben sich niedlich und verlassen sich darauf, von irgendwem mit irgendetwas gefüttert zu werden. Andere übernehmen mehr Initiative. Können sogar aufdringlich werden und unangenehm. Es ist wie überall: Es gibt solche Hunde und solche. Neapels Stadtrat findet, es gäbe zuviele Hunde in Pompeii. Womit Neapels Stadtrat möglicherweise recht hat.
Man muß zu ihren Gunsten sagen, daß die Menschen abgewartet haben, bis ich entwöhnt war und mich einigermaßen auf meinen vier Beinen bewegen konnte, ohne dauernd hinzufallen. Dann aber war es soweit. Ich kann mich lebhaft erinnern, wie man mich am Nacken gepackt und eines Nachts mit dem Auto vor die Stadt gefahren hat. Von der Welt hatte ich bis dahin wenig gesehen, nur das bißchen, was man von dem kleinen Balkon im dritten Stock hatte erkennen können.
Häuser, Dächer und Straßen, und, in einiger Entfernung, eine glatte dunkelblaue Fläche, die sich aus irgendwelchen Gründen für die Bebauung mit Häusern und Straßen nicht eignete.
Um genau zu sein, es gab schon Häuser dort unten im Blau, aber von sonderbarer Form – und sie bewegten sich, bis sie am Horizont verschwanden. Üblicherweise verhalten sich Häuser ganz still. Außer bei Erdbeben natürlich, oder wenn sie zu schlampig gebaut sind.
Beides kommt vor, in der Gegend, aus der ich stamme. Ich sei, erklärte meine Mutter mir, ein italienischer Hund, und noch mehr, nämlich ein neapolitanischer Hund.
Ob das gut sei oder schlecht?
Das käme darauf an.
Worauf denn?
Nun, sagte sie, zuallererst sei ich ein kleiner Hund – der Rest würde sich ergeben mit der Zeit.
Ich weiß nicht, ob sie mir etwas verschweigen wollte. Vielleicht hat sie geahnt, was kommen würde. Wir Hunde haben ein eher schwaches Gedächtnis; die Tage meiner Kindheit liegen weit zurück, und wenn ich ehrlich bin, kann ich mich meiner Mutter nur mehr schemenhaft entsinnen. Ein weißes glattes Fell besaß sie und schwarze Ohren, so wie ich.
Montag ist Hundefängertag. Der Hundefängertag beginnt um sechs Uhr morgens und endet um neun Uhr morgens, wenn es dem Hundefänger zu warm wird und erste Touristen auf das Areal strömen. Pompeiianische Hunde haben berechtigte Angst vor Montagmorgen. Dennoch begreifen die einsichtsvolleren unter ihnen durchaus, daß dem Hundefänger eine wichtige und sinnvolle Aufgabe obliegt. Stiege die Zahl der schnorrenden Köter zu stark an, fände kein Tourist sie länger niedlich.
Nur einige Sturschädel und Wirrköpfe planen ab und an gezielte Widerstandsaktionen gegen den Hundefänger, die strategisch hin und her gedacht, mit großmäuligem Knurren angekündigt, aber nie realisiert werden.
Es gibt auf dem viele Quadratkilometer umfassenden Gelände von Pompeii etliche hervorragende, vielmehr ganz unscheinbare Verstecke. Der Hundefänger und sein Gehilfe haben dennoch hin und wieder Erfolg, was an etlichen Tricks liegen mag, die sie in schlauen Büchern nachgelesen haben. Jedoch kursiert das Gerücht, es gäbe Spitzel und V-Hunde in der wilden Meute, die Verrat an der eigenen Spezies übten, um selber sorgenfrei die Sonne zu genießen. Es sind üble, unbewiesene Gerüchte, die dennoch regelmäßig an jedem Sonntagabend das Klima vergiften. Sonntagabende sind von Furcht und Mißtrauen geprägt.
Was mit eingefangenen Hunden geschieht, weiß kein Hund Pompeiis, und das ist ganz bestimmt besser so.
Meine erste Fahrt in einem Auto habe ich noch deutlich in Erinnerung. Mir wurde übel, ich wimmerte auf der Rückbank, und es war Nacht, und es regnete, und das Auto hielt an, und der Fahrer, den Mama immer das «Herrchen» genannt hatte, packte mich im Genick, und dann – dann flog ich.
Ja, es war, als könne ich fliegen, er warf mich hoch, in die Nacht, in den Regen – und plötzlich ging es nicht weiter nach oben. Es schlug sofort ins Gegenteil um. Hart prallte ich auf dem Boden auf. Das tat weh. Ich hörte, wie das Auto wegfuhr, kläffte ihm hinterher, rannte ihm nach – aber da war dieser hohe Zaun im Weg, aus sehr, sehr festen schwarzen Stäben, nicht durchzubeißen. Es war kühl und windig. Wenigstens hatte sich der Regen abgeschwächt.
So bin ich nach Pompeii gekommen. Ohne jede Ahnung, wo ich nun war und weshalb.
Sicher würde mein «Herrchen» wiederkommen, um mich abzuholen. Mama hatte mir erklärt, daß Menschen sich aus einem natürlichen Antrieb heraus um Hunde kümmern, und Hunde sich die Fürsorge der Menschen gerne gefallen lassen, ja ohne Menschen wohl gar nicht existieren könnten.
Ich sah mich um. In der Finsternis gab es nicht arg viel zu sehen. Keine Lichter außer den Straßenlaternen, deren Lichtkegel nicht weit in das umzäunte Areal hineinreichten. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich Häuser, aber sie unterschieden sich völlig von denen, die vom Balkon aus zu sehen gewesen waren. Wirkten seltsam kaputt und leblos. In ihren Fenstern war kein Glas und es gab auch nirgends bunte Lichterketten wie in der Stadt, die ich gekannt hatte. Viele Büsche gab es und neue, ungewohnte Gerüche.
Die feuchte Erde schwappte über von Gerüchen. Ich bekam Hunger, und die Kälte ließ mich zittern.
Das alles geschah in einer Jahreszeit, die von den Menschen Weihnachten genannt wird. Nicht einmal das hab ich damals gewußt. Stundenlang wartete ich am Zaun auf das Auto des «Herrchens», wartete darauf, an den warmen Bauch meiner Mama zurückzukehren, meinen Kopf an sie zu lehnen und einzuschlafen.
Draußen vor dem Zaun fuhren tatsächlich Autos vorbei, sogar sehr viele, und jedesmal wedelte ich mit dem Schwanz und kläffte, um auf mich aufmerksam zu machen. Genutzt hat es nichts. Die Nacht wurde lang. Was hätte ich tun sollen? Ganz still und in mich gekauert wartete ich darauf, daß sich mein Zustand in irgendeiner Weise änderte. Und schließlich änderte sich auch was. Es wurde hell.
Als neu eingetroffener, soeben die brutale Über-den-Zaun-Geworfenheit überlebt habender Welpe hat man es in Pompeii keineswegs leicht. Es kommt vor, daß gewisse radikale Hundegruppen frisch ausgesetzte Welpen durch Genickbisse töten und sich dafür gar noch feiern lassen. Weil das Boot Pompeii randvoll sei und keine weiteren Mitesser vertrage. Das ist so leicht nicht von der Pfote zu weisen.
Im Allgemeinen aber siegt die Hundlichkeit, jener Instinkt, der auf dem Respekt vor Artverwandtheit beruht. Immerhin, das muß gesagt sein, ist Pompeii ganz und gar katzenfrei. Mögen Katzen Italien besetzt haben bis in den letzten Hinterhof – in Pompeii kommen sie nicht vor, nicht in vertrauter Gestalt jedenfalls, höchstens als scheue Geisterkatzen, um die sich ein anständiger Hund nicht zu scheren braucht.
Ja, die Häuser hier sahen äußerst merkwürdig aus. Viele waren mit Gebüsch überwachsen, manche besaßen nicht mal ein Dach, noch waren ihre Mauern bemalt oder mit Reklame beklebt. Die Straßen dazwischen wirkten sehr eng. Nirgendwo Verkehrsschilder oder Ampeln.
Vor dem Zaun blieben Fußgänger stehen, deuteten auf mich, legten die Köpfe schräg und machten alberne Schnalzgeräusche. Aber nach einer Weile gingen alle weiter. Ich wagte mich noch immer nicht zu rühren, wollte an dem Platz sitzen bleiben, wo das Herrchen mich abgesetzt hatte. Damit es mich leichter finden würde, wenn es wiederkäme. Schließlich war es der Hunger, der mich zwang, meinen Posten zu verlassen. Ich tapste ein Stück weit auf die Ruinen zu, blieb stehen, jaulte, wie ich selber fand, herzzerreißend – und sah endlich ein, daß ich von nun an auf mich allein gestellt war, in einer trostlosen Landschaft, in einem offenbar menschenleeren, von der Stadt abgetrennten Gebiet.
Es muß wohl acht Uhr morgens gewesen sein. Sonne brach durch die Wolken.
Wenigstens fror ich nicht mehr so stark. Müde, entkräftet, kauerte ich mich auf den Boden.
Und plötzlich schob sich ein Schatten in mein Sichtfeld. Der Schatten eines großen, grauen Hundes.
Nicht jeder Hund in Pompeii ist als Welpe über den Eisenzaun geworfen worden. Es gibt auch solche, die in Pompeii gezeugt und geboren wurden. Manche geben damit bei jeder Gelegenheit an und grenzen sich von Zugeworfenen hochnäsig ab, als wären sie etwas Besseres. Andererseits gibt es auch Zugeworfene, die damit prahlen, der Großstadt Neapel zu entstammen. Die es für eine Zumutung halten, quasi auf dem Land, zwischen Ruinen und Gebüsch, aufzuwachsen. Die später beschließen, Pompeii zu verlassen, um ihr Glück in der Stadt zu suchen. Von solchen...
Erscheint lt. Verlag | 2.1.2013 |
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Zusatzinfo | Zahlr. s/w Ill. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abenteuer • Hundekippe • Kaffeekanne • Pompei • Tierroman • Unterirdisch • Vesuv • Vulkanausbruch • Welpen |
ISBN-10 | 3-644-02531-2 / 3644025312 |
ISBN-13 | 978-3-644-02531-8 / 9783644025318 |
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