Das schönste Proletariat der Welt (eBook)

Junge Erzähler aus Rußland

Christiane Körner (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
210 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-79690-0 (ISBN)

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Das schönste Proletariat der Welt -
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In Russland meldet sich eine neue Generation von Autoren zu Wort. Sie waren noch Kinder, als das Imperium 1991 zusammenbrach. Anders als ihre älteren Kollegen kennen sie keine sowjetische Vergangenheit mehr, die sie verklären, bekämpfen oder dekonstruieren müssten. Doch ein riesiges Land wälzt sich um, die gewaltige Bewegung setzt sich bis in die Kapillaren des einzelnen fort. Indem sie - sei es im Fernzug nach Samara oder in den Basarvierteln von Machatschkala am Kaspischen Meer - vom jähen Ende jeglicher Gewissheit erzählen, zeichnen die jungen Schriftsteller, die dieser Band vorstellt, die Erschütterungen der Gegenwart auf. Längst kommen die aufregenden neuen Stimmen der russischen Literatur nicht mehr aus Moskau und Petersburg, sondern aus Perm, Ufa und Kazan, aus Städten und Landschaften, in denen der Einfluss des Zentrums geringer, die konfliktträchtige Heterogenität aber um so größer ist.

Christiane Körner ist Übersetzerin aus dem Russischen. Sie hat unter anderem Werke von Alissa Ganijewa, Lidia Ginsburg und Wassili Grossman ins Deutsche übertragen. 2017 wurde sie mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet. Christiane Körner ist Übersetzerin aus dem Russischen. Sie hat unter anderem Werke von Alissa Ganijewa, Lidia Ginsburg und Wassili Grossman ins Deutsche übertragen. 2017 wurde sie mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.

Cover 1
Informationen zum Buch 2
Impressum 4
Eine Generation von Hochbegabten 5
Salam, Dalgat! 9
Engel und Revolution. Wjatka 1923 56
Ein paar Worte von Gott dem Herrn 56
Der junge Arbeiter 56
Die Hunde haben Flügel 56
Mädchen und Schlampe 58
Die große Samstagsliebe 59
Nelli 59
Das Brotproletariat 60
Die Tanten 61
Banditin Lena 62
Ingenieur Slawjanow 62
Linas Roman 63
Tschekist Denissow 64
Bittergesang 64
Der Trinkkumpan 65
Die einzige Freude 66
Die Trinkkumpanin 68
Die Macht unter der Bluse 68
Mohn 70
Das Klosett 70
Mitteilung des Revolutionskomitees Kamtschatka 72
Die Tschechen 72
Weintraube 73
Norden – Süden (Spaziergänge durch Wjatka) 73
Liliza 74
Der Amurkater 75
Die erste Stimme 75
Der Organist 76
Szenen mit Barsch 76
Liepu Lapu Laipa 77
Iwanowskoe 78
Dieser Monat August 78
Engel und Revolution 79
ICQ 81
Eisenbahn-Pastorale 102
1. 102
2. 103
3. 104
4. 106
5. 109
6. 111
7. 113
8. 116
9. 118
10. 120
Geschichten vom neuen Leben 123
Freiheit 123
Arme Irre 129
Äpfel 141
Hochdruck 153
1. 153
2. 160
3. 171
4. 178
5. 188
Das schönste Proletariat der Welt Junge Erzähler aus Russland 197
Die Autorinnen und Autoren 206
Inhalt 210

Denis Osokin
Engel und Revolution. Wjatka 1923


Ein paar Worte von Gott dem Herrn


Zum Zeitpunkt der Herausgabe dieses Buchs war der Verfasser der Texte 22 Jahre alt. Er hält sich für einen nicht üblen primitivistischen Schriftsteller und ist gegenwärtig bei der Tscheka in der Stadt Wjatka tätig.

Der junge Arbeiter


Ein bestialischer junger Arbeiter, heißblütig und riesengroß, zerschlägt alle Fenster in Papas Haus, kippt Mamas Kanapee um, haut Brüderchen eine runter, versetzt Schwester, die ihn – ach! – ihr Lebtag nicht vergessen wird, einen Schock, zerquetscht den Eunuchenkater, findet mich in meinem Zimmer, stößt mich in den Bauch, reißt mir die Spitzenborten ab, hebt mich hoch, setzt mich auf wie eine Schraubenmutter und trägt mich weg – lieber Gott, mach, dass es wahr wird! Er ist ein rasender roter Hammer. Ja, natürlich bin ich Sozialistin. Es lebe das Proletariat. Und Papa ist ein Mistkerl, ich hasse diesen Bourgeois. So dachte Walja, die Tochter des Chefingenieurs, auf ihrem Zimmer um elf Uhr vormittags.

Die Hunde haben Flügel


Wir gingen über die Brücke und malten uns lebhaft aus, welche Flügel dieser oder jener Hund haben könnte:

Der Deutsche Schäferhund hat Flügel wie ein Adler,

der Dackel hat kleine Flügel, er flattert mit ihnen wie eine Ente (der Dackel ist die Ente unter den Hunden),

der Pudel hilft beim Fliegen mit den Ohren nach, an den Seiten hat er außerdem ein Paar Flügel, die sind genauso albern und zottelig,

der Foxterrier hat Käferflügel, und als Einziger bellt er nicht beim Fliegen, sondern gibt ein spezifisches Summen von sich,

der Mops hat als Flügel Damenfächer,

der Pointer elegante elastische Ellipsen,

der Bologneser hat ein rosa Zünglein, und seine Augen sieht man nicht, als Flügel hat er zwei akkurate Quarktaschen,

wenn Windhunde fliegen, werden junge Mädchen verrückt, und die Flügel gleichen denen von Erzengeln auf italienischen Renaissancegemälden,

Laikas und Spitze haben unsichtbare Flügel – sie haben lange genug unter Zauberern gelebt,

wie die Bulldogge fliegt, kann man sich leicht vorstellen – sie schlägt verzweifelt mit kaum sichtbaren Rundlingen und will sich ständig von anderen Hunden abstoßen, die in der Nähe fliegen, die Hunde knurren nicht, sie mögen die Bulldogge; wir haben beschlossen, dass die Bulldogge einen Propeller braucht,

während der Spaniel sich in der Luft vom Bauch auf den Rücken dreht, er ist selbst ein Propeller, Flügel braucht er keine.

Die Brücke war lang und vom Tag aufgeheizt, und über ihr flogen die Hunde mit unseren Flügeln.

Mädchen und Schlampe


Diese Geschichte hat mir Engel Dima erzählt.

General Kruschilow, der in Kiew lebte, hatte eine Tochter, Maschenka. Eine süße Elfe mit glänzenden Augen und einem Herzen, so rein wie eine weiße Winde. Maschenka war knapp siebzehn Jahre alt, ihre Eltern nannten sie nie anders als Mäuschen, Häschen, Minka, und zu Weihnachten und Ostern schenkten sie ihr lange Strickstrümpfe mit Nüssen drin. Das ganze Jahr verbrachte Maschenka in der Stadt, nur den Sommer über wurde sie zu Papas alter Kusine auf die Datscha geschickt, um sich zu erholen.

So ist es immer gewesen, so geschah es auch diesen Sommer. Bloß dass sich dieses Mal Fähnrich Knysch in der Nachbarschaft unserer Datschenbewohnerinnen niederließ, ein wahrer Kakerlak, der eine Verwundung auskurierte. Und der nahm Maschenka mit zum Spaziergang auf die Wiese und in seinen Garten, damit sie bei der Kirschernte half.

Als schönes, bescheidenes Mädchen war Maschenka aus Kiew losgefahren, zurück kam eine vierschrötige lärmende Schlampe, die mit blöden Augen um sich schaute. Sie ging durchs Haus wie eine Bulldogge auf den Hinterbeinen, putzte sich mit irgendwelchen Stolen heraus und stupste Papa in den Bauch: »Hehe!«, sagte sie, blähte die Nasenlöcher und zwinkerte. Der General und seine Frau irrten tagelang durch die Zimmer, griffen sich an den Kopf und riefen »Oje, oje!«. Oder sie schlossen sich im Schlafzimmer ein, sahen einander lange in die Augen, hielten sich an den Händen und hörten durchs Fenster, wie Maschenka draußen herumtrampelte und heiser lachte, während sie dem Kutscher etwas auseinandersetzte.

Die große Samstagsliebe


Egal wozu wir samstags eingeladen werden und egal welches Wetter ist, Anja und ich wissen – heute muss unsere große Samstagsliebe stattfinden. Was das ist? Das sind fünf Stunden auf dem Laken, mitten im leeren Haus und am freien Tag. Halt, nein, wieso eigentlich fünf Stunden? Wir sind doch keine Engländer, dass wir das wüssten.

Wir arbeiten viel, und unser Leben besteht aus langen kalten Tagen, doch kaum dass wir verheiratet waren, fassten wir den festen Entschluss – die große Samstagsliebe wird unsere Familientradition Nummer eins. Alles ist immer zur Hälfte traurig, und die Winter hier werden nicht milder – Gott bewahre!, das wollen wir auch nicht. Wir sagen nur unseren Freunden, sie sollen uns samstags nicht besuchen, denn sie wissen ja nicht, wann sie anfängt und wann sie aufhört, unsere große Samstagsliebe.

Nelli


Das liebe Ding – seit dem Vorfall trägt sie keine Brille mehr. Die ist wie Mulm zerbröckelt, auf der Trambahnstufe. Bekanntlich bewegt sich eine Tram ohne Pferde mit Teufelskraft vorwärts, und Nelli war eingestiegen, ohne sich zu bekreuzigen.

Eine Fahrkarte hatte Nelli, an der Ecke Evangelistenstraße wollte sie aussteigen, »Zwei Stückchen beim Konditor, auf jeden Fall zwei, nicht nur eins«, dachte Nelli und setzte ihren Fuß auf die Stufe, als plötzlich einen Millimeter von ihrem Ohr entfernt dröhnendes Bärengebrüll erklang: »Die Fahrkarte, Mamsell!« Weiter passierte Folgendes: Mit Glockengeläut in den Ohren erblickte Nelli den Teufel in der Uniform eines Trambahnfahrers. Er stand dicht vor Nelli und versperrte ihr mit dem Arm den Durchgang, ihm fehlte ein Zahn, die Stirn war verbrannt und schälte sich, er hatte nur ein Auge, und zwar, so schien es, mitten auf der verbrannten Stirn. Der Teufel grinste höhnisch. »Aha, die Fahrkarte wollte sie sparen!«, zischten seine Gehilfen von allen Seiten. Und in diesem Moment zersprang Nellis Brille ein für alle Mal – der Teufel verschwamm, die Gläser zerbröckelten, das Gestell hüpfte von der Nase und fiel ihnen hinterher. Offenbar hatte Nelli dem Teufel dann doch die Fahrkarte gezeigt, weil sie bald darauf, den Konditor hatte sie vergessen, auf der Straße stand, ohne Brille, und sich nicht von der Stelle rühren konnte, denn eine Tram ohne Pferde fährt mit Teufelskraft, und man muss sich bekreuzigen, besser noch auf die Gleise spucken und »Husch!« sagen, und dann wurde noch der Aeroplan in Betrieb genommen und fällt einem, hast du nicht gesehen, auf den Kopf, und dann läuft noch eine schwarze Wachtel durch die Stadt und raubt kleine Kinder.

Das Brotproletariat


Das beste Proletariat von allen ist das Brotproletariat. Es handelt sich um Leute, die mit Mehl bestäubt sind und nach der allerglücklichsten Wahrheit riechen, die aus der Erde stammt. Sie haben kein besonders süßes Leben, wie süß ihre Wangen und Hände auch sein mögen, doch eine Brotfabrik, das müssen Sie zugeben, ist besser als eine Stahlgießerei oder ein Kohlebergwerk. Sicher, von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gibt es überall genug, die Augen unserer fleißigen weißen Gesellen blicken oft wie die von getäuschten Kindern. Doch daher rühren auch der Elan und die besondere Beharrlichkeit von Menschen, die köstliche Stutenkringel backen können, und im Revolutionsheer ist das Brotproletariat die Kolonne mit dem besten Duft.

Die Tanten


Ich habe sie so geliebt – die netten Schwestern meiner Mutter und Tante Sascha, die Schwester meines Vaters. Sie machten Spiele und Spaziergänge mit mir und erzählten sehr viel dummes Zeug. Heute weiß ich, dass ich mit ihnen meine kindliche Sexualität erlebte. Aber auch sie erlebten ihre Sexualität mit mir. Nicht zufällig zogen sie sich manchmal vor mir um, wobei sie sich allerdings wegdrehten oder zu mir sagten: Dreh dich um. Sie gingen mit mir baden, natürlich im Badeanzug, aber wie sie mir im Wasser nachjagten, mich hochwarfen oder mir schwimmen beibrachten! Ja, ich lernte schwimmen bei diesen einfühlsamen Lehrerinnen, aber ich weiß auch noch, dass meine Hand oder mein Fuß plötzlich an etwas Unglaubliches stieß.

Wer fragte: Hast du mich lieb?, wer bat: Gib deiner Tante einen Kuss? Wer pflückte mit mir Beeren in Großmutters Garten, trug einen zu weiten Kittel und zeigte mir beim Runterbeugen zu den niedrigen Zweigen Brüste und dunkle Warzen? Sie fuhren mich auf dem Fahrrad durchs Städtchen und kriegten plötzlich Launen: Jetzt tritt du. Und ich trat mit der ganzen atemlosen Kraft meiner sechs, neun, zwölf Jahre, und dann heirateten sie alle. Vielleicht war ich traurig, nein, doch nicht – ich bin ja kein Mädchen. Und überhaupt aus einer anderen Stadt. Zu den Tanten brachten meine Eltern mich in einem Sommermonat, und später holten sie mich wieder ab.

Banditin Lena


Wie viele rote Helden hat sie nicht getötet! Schon watschte und spuckte sie dem nächsten Märtyrer in die Fresse. Dann schüttelte sie wohl auch die Locken und riss sich den Gürtel mit der Riesenschnalle ab. Lenas Hosen fielen – zack! –, und die ganze Meute grölte.

Wie mager sie war und wie leicht – Lenas Halsabschneider trugen sie nur auf Händen: aufs Pferd, in die Kirche oder in die Kletten, wenn sie mal musste. Da sitzt Lena in den Kletten, die...

Erscheint lt. Verlag 10.12.2012
Übersetzer Christiane Körner
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anthologie • edition suhrkamp 2637 • ES 2637 • ES2637 • Geschichte 2011 • Prosa • Russisch
ISBN-10 3-518-79690-9 / 3518796909
ISBN-13 978-3-518-79690-0 / 9783518796900
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