Kindergeschichte (eBook)

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
113 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-79910-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kindergeschichte -  Peter Handke
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In »Kindergeschichte« erzählt Peter Handke die ersten zehn Jahre im Leben eines Kindes und die Geschichte der ihm zugehörigen Erwachsenen. Weit entfernt von jeder Verharmlosung, aber auch aller pädagogischen Intention, nimmt der Erzähler dem Kind (und den Kindern) gegenüber die Haltung eines Geschichtsschreibers ein. - Gebundene Ausgabe mit Lesebändchen

<p>Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (K&auml;rnten) geboren. Die Familie m&uuml;tterlicherseits geh&ouml;rt zur slowenischen Minderheit in &Ouml;sterreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach K&auml;rnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (K&auml;rnten) und das dazugeh&ouml;rige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im M&auml;rz 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschlie&szlig;enden Pr&uuml;fung abgebrochen, erscheint sein erster Roman <em>Die Hornissen</em>. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legend&auml;ren Theaterst&uuml;cks <em>Publikumsbeschimpfung </em>in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann.</p> <p>Seitdem hat er mehr als drei&szlig;ig Erz&auml;hlungen und Prosawerke verfasst, erinnert sei an: <em>Die Angst des Tormanns beim Elfmeter </em>(1970), <em>Wunschloses Ungl&uuml;ck</em> (1972), <em>Der kurze Brief zum langen Abschied </em>(1972), <em>Die linksh&auml;ndige Frau </em>(1976), <em>Das Gewicht der Welt</em> (1977), <em>Langsame Heimkehr </em>(1979), <em>Die Lehre der Sainte-Victoire </em>(1980), <em>Der Chinese des Schmerzes </em>(1983),<em> Die Wiederholung </em>(1986), <em>Versuch &uuml;ber die M&uuml;digkeit</em> (1989), <em>Versuch &uuml;ber die Jukebox</em> (1990), <em>Versuch &uuml;ber den gegl&uuml;ckten Tag</em> (1991), <em>Mein Jahr in der Niemandsbucht </em>(1994), <em>Der Bildverlust </em>(2002), <em>Die Morawische Nacht</em> (2008), <em>Der Gro&szlig;e Fall</em> (2011), <em>Versuch &uuml;ber den Stillen Ort</em> (2012), <em>Versuch &uuml;ber den Pilznarren</em> (2013). </p> <p>Auf die <em>Publikumsbeschimpfung </em>1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgef&uuml;hrt, <em>Kaspar. V</em>on hier spannt sich der Bogen weiter &uuml;ber <em>Der Ritt &uuml;ber den Bodensee </em>1971), <em>Die Unvern&uuml;nftigen sterben aus </em>(1974), <em>&Uuml;ber die D&ouml;rfer</em> (1981), <em>Das</em> <em>Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land </em>(1990), <em>Die Stunde da wir nichts voneinander wu&szlig;ten</em> (1992), &uuml;ber den <em>Untertagblues </em>(2004) und <em>Bis da&szlig; der Tag euch scheidet </em>(2009) &uuml;ber das dramatische Epos <em>Immer noch Sturm</em> (2011) bis zum Sommerdialog <em>Die sch&ouml;nen Tage von</em> <em>Aranjuez </em>(2012) zu <em>Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstra&szlig;e</em> (...

Cover 1
Informationen zum Buch/Autor 2
Impressum 4
Kindergeschichte 5
Motto 7
1 9
2 23
3 32
4 47
5 60
6 75
7 83
8 99

1


Ein Zukunftsgedanke des Heranwachsenden war es, später mit einem Kind zu leben. Dazu gehörte die Vorstellung von einer wortlosen Gemeinschaftlichkeit, von kurzen Blickwechseln, einem Sich-dazu-Hocken, einem unregelmäßigen Scheitel im Haar, von Nähe und Weite in glücklicher Einheit. Das Licht dieses wiederkehrenden Bildes war die Düsternis, kurz bevor es zu regnen anfängt, in einem grobsandigen leeren Hof, der von einem Grasnarbenkranz eingefaßt wird, vor einem nie deutlichen, nur im Rücken gefühlten Haus, unter dem dichtgefügten Laubdach hoher, breiter, hier und dort rauschender Bäume. Der Gedanke an ein Kind war so selbstverständlich wie die beiden anderen großen Zukunftserwartungen, welche von der nach seiner Überzeugung ihm bestimmten und sich seit je in geheimen Kreisen auf ihn zubewegenden Frau handelten, und von der Existenz in dem Beruf, wo allein ihm eine menschenwürdige Freiheit winkte; ohne daß freilich diese drei Sehnsüchte auch nur einmal in einem Bild zusammen erschienen.

Am Tag der Geburt des gewünschten Kindes stand der Erwachsene dann an einem Sportplatz in der Nähe der Klinik. Es war ein hellsonniger Sonntagvormittag im Frühjahr, in den graslosen Torräumen Pfützen, im Lauf des Spiels zu Schlamm gestampft, aus dem die Dunstschwaden aufstiegen. In der Klinik erfuhr er, daß er zu spät kam; das Kind sei schon da. (Er hatte wohl auch eine Scheu empfunden, bei dem Geburtsvorgang Augenzeuge zu sein.) Seine Frau wurde an ihm vorbei durch den Flur gefahren, den Mund weiß ausgetrocknet. Die Nacht davor hatte sie allein in einem sonst fast leeren Bereitschaftsraum auf dem sehr hohen Räderbett gewartet; als er ihr etwas zu Hause Vergessenes dorthin nachbrachte, hatte sich zwischen den beiden, dem mit einem Plastiksack in der Tür stehenden Mann und der auf dem hohen metallischen Gestell mitten im kahlen Zimmer liegenden Frau, ein Augenblick tiefer Sanftheit ergeben. Der Raum ist ziemlich groß. Sie befinden sich in einem ungewohnten Abstand voneinander. Auf der Strecke von der Tür zum Bett glänzt der nackte Linoleumboden im weißlichen, sirrenden Neonlicht. Das Gesicht der Frau hatte sich schon im Anschaltgeflacker ohne Überraschung oder Erschrecken dem Eintretenden zugewendet. Hinter diesem dehnen sich die weitläufigen, halb schattigen Korridore und Stiegenhäuser des Gebäudes, lang nach Mitternacht, in einer einmaligen, durch nichts zu störenden, in den leeren Stadtstraßen dann weiterschwingenden Aura des Friedens.

Als dem Erwachsenen durch die Trennglasscheibe das Kind gezeigt wurde, erblickte er da kein Neugeborenes, sondern einen vollkommenen Menschen. (Nur auf dem Photo war es dann das übliche Säuglingsgesicht.) Daß es ein Mädchen war, war ihm sofort recht; doch im anderen Fall das wußte er später – wäre es die gleiche Freude gewesen. Hinter dem Glas wurde ihm nicht eine »Tochter« entgegengehalten, oder gar ein »Nachkomme«, sondern ein Kind. Der Gedanke des Mannes war: Es ist zufrieden. Es ist gern auf der Welt. Allein die Tatsache Kind, ohne besonderes Kennzeichen, strahlte Heiterkeit aus – die Unschuld war eine Form des Geistes! – und ging wie etwas Diebisches auf den Erwachsenen draußen über, so daß die beiden dort, ein für alle Male, eine verschworene Gruppe bilden. Die Sonne scheint in den Saal, und sie befinden sich auf einer Hügelkuppe. Es war nicht bloß Verantwortung, was der Mann bei dem Anblick des Kindes fühlte, sondern auch Lust, es zu verteidigen, und Wildheit: die Empfindung, auf beiden Beinen dazustehen und auf einmal stark geworden zu sein.

Zu Hause in der leeren Wohnung, wo aber schon alles für die Ankunft des Neugeborenen gerichtet war, nahm der Erwachsene ein Bad, so ausgiebig wie nie, als hätte er gerade die Strapaze seines Lebens hinter sich. Er war zu der Zeit auch wirklich gerade mit einer Arbeit fertig geworden, in der er das Selbstverständliche, Beiläufige und doch Gesetzmäßige einmal erreicht zu haben glaubte, das ihm als Ziel vorschwebte. Das Neugeborene; die gut beendete Arbeit; der unerhörte mitternächtliche Moment der Einheit mit der Frau: zum ersten Mal sieht sich da der in dem heiß dunstenden Naß ausgestreckte Mensch in einer kleinen, vielleicht unscheinbaren, aber ihm entsprechenden Vollendung. Es zieht ihn hinaus ins Freie, wo die Straßen jetzt für einmal die Wege einer anheimelnden Weltstadt sind; das Für-Sich-Gehen in ihnen an diesem Tag ist ein Fest. Dazu gehört auch, daß niemand weiß, wer ich gerade bin.

Es war die letzte Einheit für lange. Als das Kind ins Haus kam, schien es dem Erwachsenen, als erlebte er selber einen Rückfall in eine beengte Jugend, wo er oft ein bloßer Aufpasser für die jüngeren Geschwister gewesen war. In den vergangenen Jahren waren die Kinos, die offenen Straßen, und damit das Unseßhafte ihm in Fleisch und Blut übergegangen; nur so, meinte er auch, gäbe es den Raum für die Tagträume, in denen das Dasein als etwas Abenteuerliches und Nennenswertes erscheinen konnte. Aber hatte in all dieser Zeit der Ungebundenheit das »Du mußt dein Leben ändern« nicht immer neu als ein Flammensatz gewirkt? – Jetzt wurde das Leben notwendig grundanders, und er, zuvor höchstens auf ein paar Umstellungen gefaßt, sah sich zu Hause gefangen und dachte auf den stundenlangen Kreisen, mit denen er nachts das weinende Kind durch die Wohnung schob, nur noch phantasielos, daß das Leben nun für lange Zeit aus sei.

Auch in den Jahren zuvor war er mit seiner Frau oft uneins gewesen. Zwar achtete er die Begeisterung und zugleich Skrupelhaftigkeit, womit sie ihre Arbeit verrichtete – es war mehr ein Zaubern als ein Verrichten, so daß den Außenstehenden jede Arbeitsanstrengung unsichtbar blieb –, und hielt sich überhaupt für sie verantwortlich; jedoch insgeheim glaubte er immer wieder zu wissen, daß sie nicht die richtigen füreinander waren, und daß ihr Zusammenleben eine Lüge und, gemessen an dem Traum, den er von sich und einer Frau einst gehabt hatte, geradezu eine Nichtigkeit sei. Manchmal verfluchte er diese Ehe bei sich sogar als den Fehler seines Lebens. Aber erst mit dem Kind wurde die episodische Uneinigkeit zu einer wie endgültigen Entzweiung. Wie sie nie richtig Mann und Frau gewesen waren, so waren sie auch von Anfang an kein Elternpaar. Nachts zu dem unruhigen Kind zu gehen, war für ihn selbstredend, durfte für sie aber nicht sein, und wirkte schon für sich als ein Grund zu böser Stummheit, fast Feindschaft. Sie hielt sich an die Bücher und die Verhaltensregeln der Fachleute, die er allesamt, so erfahrungsbestimmt sie auch sein mochten, verachtete. Sie empörten ihn sogar, als unerlaubte und vermessene Eingriffe in das Geheimnis zwischen ihm und dem Kind. War denn nicht schon der erste Augenschein – das von den eigenen Fingernägeln zerkratzte und doch wie friedfertige! Gesicht des Neugeborenen hinter der Glasscheibe  so weltbewegend wirklich gewesen, daß jeder, der es nur sah, wissen mußte, was zu tun war? Eben das wurde nun die wiederkehrende Klage der Frau: sie sei in der Klinik um jenen Leitblick betrogen worden. Durch äußeres Zutun habe sie den Moment der Geburt versäumt, und so sei ihr, für immer, etwas verlorengegangen. Das Kind sei ihr unwirklich; daher die Angst, etwas Falsches zu tun, und die Befolgung der fremden Regeln. Der Mann verstand sie nicht: War ihr das Kind nicht gleich danach sozusagen in die Arme gelegt worden? Zudem sah er doch, daß sie damit nicht nur geschickter, sondern auch geduldiger umging als er? Blieb sie nicht stetig und geistesgegenwärtig bei der Sache, während er, kaum war jene kurze Seligkeit erreicht, wo es war, als könnte man sich mit der streichelnden Hand gleich, durch einen einzigen noch ausstehenden, den grenzlösenden Pulsschlag, ganz als ein Lebens- und Ruhezauber auf das schlaflose oder kranke andere Wesen übertragen, oft die Kraft verlor und bloß noch gelangweilt, geradezu mit einer Gier, hinweg ins Freie zu kommen, neben dem Säugling die Zeit absaß?

Zudem scheint es in einer solchen Lage ein Gesetz zu sein, daß auch von außen sich fast nur die feindlichen Mächte zeigen. Kaum ist das Kind im Haus, wird zum Beispiel auf der anderen Straßenseite mit dem Bau eines sogenannten »Großprojekts« begonnen, und die Tage wie die Nächte hallen von den Dampframmen; so daß eine Haupttätigkeit des Erwachsenen zu dieser Zeit die Briefe an eine Bauleitung sind, deren Reaktion dann endlich doch ein Erstaunen ist: denn es sei »das erste Mal, daß«, udgl.

Dennoch können diese Widrigkeiten, auch schmerzhaften Bedrückungen und Lähmungen, im nachhinein nur willentlich herbeigedacht werden. Was gegenwärtig blieb und was zählte, war jeweils ein Bild, auf welches das Gedächtnis, ohne Vorsatz zur Verklärung, mit der Gewißheit: »Das ist mein Leben«, wie in einem dankbaren Triumph zurückkam; diese Erinnerungsschimmer offenbarten dann auch an jenem Abschnitt, der den Daten nach eigentlich Apathie bedeutete, eine darin doch fortdauernde und weiterführende Daseinsenergie. – Die Frau nahm bald ihre Arbeit wieder auf, und der Mann führte das Kind auf langen Spaziergängen in der Stadt umher. In der Gegenrichtung zum gewohnten bevölkerten Boulevard zeigten sich jetzt alte dunkle einheitliche Bezirke, wo das Erdreich mit vielen Farben durchscheint und in die Pflasterung der Himmel hineinwirkt, wie zuvor noch nirgends in der Stadt. Diese wird so erst, und mit den Hebelbewegungen am Wagen zwischen Gehsteigen und Straßen, die Geburtsstadt des Kindes. Laubschatten, Regenlachen und Schneeluft stehen für die noch nie so deutlichen Jahreszeiten. Eine eigene, neuartige Örtlichkeit bildet auch jene »Bereitschaftsdienstapotheke«, wo nach einem Lauf durch ein Schneetreiben in einem...

Erscheint lt. Verlag 12.11.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Kind • Vater
ISBN-10 3-518-79910-X / 351879910X
ISBN-13 978-3-518-79910-9 / 9783518799109
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